Ich bin die Nacht: 12 Hohenner will die Augen

Richard beachtete den vor Nervosität tänzelnden Roland nicht, als er einen einzigen Satz zwischen seinen strichartigen Lippen zerquetschte. »Das warʼs«, sagte er, als wäre eine langfristige Arbeit nun endlich erledigt. Dann stapfte er in seinen gumpelnden Gummistiefel, in die er die Röhren seiner braunen Latzhose gesteckt hatte, auf den Wendenschuch-Baum zu, drehte sich zu den anderen um, die sich nicht rührten und nur beobachteten, wie der Fliegenschwarm um seinen Kopf herum brauste und sich Richard Finner dadurch in den Beelzebock verwandelte. Ein von Schwärmen umgarnter Georges Gurdjieff (die Ähnlichkeit nämlich war nicht zu leugnen). Er befahl Erich, den Doktor zu holen, und das ein bisschen plötzlich, wandte sich dann seinem toten Sohn zu und achtete darauf, nicht auf das Gekröse zu treten. Dann zückte er ein Messer, das er in einer Lederscheide an seinem Gürtel hängen hatte und schnitt das Seil durch. »Und bring auch eine Schubkarre mit!«

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Ich bin die Nacht: 11 Wendenschuchs Mühle

»Meine Fresse, was sollen wir jetzt nur machen! Wir müssen doch irgendwas unternehmen!« Erich Wendler sprang um den zu Stein erstarrten Richard Finner herum. Ludwig Pikid und Manfred Bergmann standen gemeinsam etwas abseits, denn man wusste nie, wie dieser unberechenbare Kerl reagieren würde. (Seit dem letzten Maifeuer, in das er laut brüllend seinen halben Hausrat geworfen hatte, weil keine Eier im Kartoffelsalat seiner Frau zu finden waren, blieb man lieber auf Armlänge von ihm weg. Das war das Mindeste!) Roland hatte sich nicht mehr auf die Lichtung gewagt, stand umständlich hinter einem Baum, obwohl er Bäumen im Moment nicht sehr nahe kommen mochte. Er wollte natürlich trotzdem sehen, was jetzt geschehen würde, aber eigentlich war er da, um sicher zu gehen, dass die Münze nicht irgendwo dort herumlag, wo Helmuts Überreste alles durcheinanderbrachten.

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Ich bin die Nacht: 10 Getsemani

Die Münze, die Roland in der Hosentasche vermutete, war nicht da. Er nestelte in den vier Taschen der Jeans herum, begann wieder von vorne, riss sie in die Höhe und schüttelte sie. Eine andere Möglichkeit, danach zu suchen, gab es nicht. Da waren nur noch das blaue T-Shirt und die Lederstiefel, die nach Jauche rochen. Er drehte sie vorsichtshalber dennoch um. Nichts kam zum Vorschein außer ein paar Tannennadeln.

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Ich bin die Nacht: 9 Rache ist Blutwurst

Roland hatte sie Helmut schließlich ohne viel Federlesens überlassen. Er war froh, sie los zu sein. Jetzt fühlte er sich frei von Schuld. Das Gold verätzte nicht mehr seine Handflächen, zog nicht mehr wie ein schweres Gewicht an seiner Hose, wenn er es in der Tasche stecken hatte. Die Münze besaß ein merkwürdiges Eigenleben, das stand fest. Sie war nicht einfach nur aus Edelmetall, nicht nur alt, sondern mindestens genauso verräterisch.

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Ich bin die Nacht: 8 Die wertvolle Duplone

1813 empfing August Wilhelm Schlegel, der ruhmreiche Übersetzer Dantes und Shakespeares, eine Münze von Germaine, der Madame von Staël, als er sie von Göteborg nach London begleitete, weil er sich, zunächst ohne Erfolg, einige Hoffnungen auf den rustikalen Leib der Baronesse gemacht hatte. Es hätte ja durchaus sein können, dass Germaine, die nicht wenige ihrer Kinder im Lotterbett empfangen hatte, mit ihm, der sonst wohl kaum je eine Gelegenheit bekommen würde, etwas anderes als schattige Zeichnungen eines Boudoir zu betrachten, ein Schäferstündchen abzuhalten.

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Ich bin die Nacht: 7 Nachricht aus der Hölle

Pollenstaub, trügerisch wie alles, was den Menschen umgibt, schwebte durch die Luft, Schicht um Schicht. Spechte polterten schneller als ihr Echo. Kreischende Waldeslust. Roland rechnete jeden Augenblick damit, dass mehrere Leute wie in einem Hammer-Film auf die Lichtung stapfen würden, mit Mistgabeln bewehrt – aber es blieb still. Jetzt, da auch Lucki nicht mehr an seiner Seite war, und er allein den zerfetzten Überresten da am Baum gegenüberstand, wäre er am liebsten selbst schleunigst weggerannt. Was, wenn hier noch jemand lauerte? Mensch oder Tier – wer das hier angerichtet hatte, besaß keinen Respekt vor der Beschaulichkeit. Roland erbrach sich auf den Waldboden, während er auf Helmuts Kleiderhaufen zuging, der, eben weil fein säuberlich zusammengelegt, überhaupt nicht ins Bild passte, das satte chaotische Grün zu einer irritierenden Farbe werden ließ. Der kurz aufbegehrende Wind brachte eine Nachricht aus der Hölle vorbei und Roland atmete sie ein:
»Jetzt bin ich in dir und du bist in mir.«

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Ich bin die Nacht: 6 Schnackelhupfer

Der Jüngere hatte nicht nur physisch zu Helmut aufgesehen, langhaarig, schmutzig, es hatte Roland auch nicht sehr bekümmert, dass Helmut, das Denk- und Sprachrohr, gern ein anderes Rohr in seinen Mund steckte, während Roland ihm Äste in sein Zweitloch, wie er es nannte, stecken sollte, Zweigerl am Astl, Astl am Ast; Helmut sah dabei wie ein Beamter auf seine Armbanduhr, sachliche, aufgeräumte Geräusche von sich gebend, ein Experiment im Schatten der Jugend, man nimmt, was man bekommen kann. Aus Meidlin machten sie sich nichts, prahlten sie sich gegenseitig vor (auch wenn das nicht stimmte und nur ihr Ungeschick und Unverständnis dem anderen Geschlecht gegenüber kaschieren sollte). Was waren das für Wesen?

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