Dort beim Hexenkraut

Einst kannte ich mein Gesicht, nicht aber seinen Umfang. Ich kannte auch die Farbe meiner Augen; insofern sei gesagt, dass ich durchaus einmal daran glaubte, die Welt sei erschaffen worden und sie beträte mich durch meine Poren, doch – –

Gerüchte ziehen durch das Land. Bodennah kriecht der feuchte Dunst, der von den Zungen platscht, über die Felder, und damit verderben sie dem Morgen die Schönheit der aufgehenden Sonne. Die Waldlaubsänger sirren in den frisch mit Tau bezogenen Baumbetten mit dem Zwielicht um die Wette, flappen um ihre Koje herum, bringen ihre Hymnen den Würmern dar, den großen Ernährern, die aus der Erde ragen, dem Humus, dem Sand.

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Die Ankunft des Genies

Wild kam der Mond um die Ecke gerudert, eine farbige Wolkenbank dazu nutzend, nicht in die schattigen Giebel der Häuser zu donnern. Er war eindeutig zu schnell, das Himmelzelt glatt um diese Zeit. Dann aber fing er sich, zunächst in den Ästen der alten Ulme, die, unsichtbar, weil unter der Erde, mit ihrem Wurzelwerk den Fluss vorwärts trieb, und trat dann, Halt gefunden habend, seinen abendlichen Dienst an. Der gute Nachtwächter, ein verlässlicher Kumpan der leeren Räume da oben, entdeckt so manch frivoles Geschehen, aber er schweigt als Lampe und als Geheimnisträger. Cornelius dient er als Grund dafür, wach zu liegen.

einst fror
ein Stein mit seiner Brut
und log
das Alter an, will mich
zur Feuerstelle quälen
ein Tropfen
Flammenhaar

»Wörpünnich?« Was; mein Maul wie zugenäht?! Wie Honig, der die Waben hält, das Kupferleuchten: Wachs-nichts-als-Wachs! Dann aber hülft ein kleiner Spotze=Strudel, schon gehtʼs besser: Wer also … »bin ich?«
Ich sehʼ doch, wie du da im Kessel rumwalkst; antworte mir!
Die Ankunft des Genies: 3 Tage focht man um das Kind, das ganz blau von Atemnot ins Jammertal des Lebens kroch – und wirklich kann man von kriechen sprechen – ›Ich hab ein Kind gekriecht‹ –, sozusagen; oder auch: ›Das Kind – ein Krieg!‹
Asphyxisches Wunder in der unhygienischen Wochenstube, in der die Schneeschlappen trocknend herumlagen, was bist du ein garschtʼges Leben! Willst neues Leben willkommieren und statt warmholder Paradiesik istʼs, als gebäre man im Scheißhaus des ganzen Universums. Aber: ein Genie! – man siehtʼs schon an den schwarzen Augen!
Die Physiognomie der Böhmen, die Gestalt großer, unbeirrbarer Bäume; ein Egerländer auf altfränkischm Bodn. Der Vater: Damenschneider der Franzosen, so dass der Bub das Dämelgen ›Grippe‹ (Gripine von Lyon) beinahe einmal nackert zu sehen bekam.
Das Verbotene hangt an uns wie eine ewige Versuchung. Und wenn wir uns gegen das Elysium nicht wehren, baden wir alsbald im Wein.
Wenn das Schöne die Verdammnis ist, dann bin ich gern der Heizer der Höllengestade! Mein Sinn geht nach Wärme und den schmackigen Schenkeln, aber freilich werd ich mein Zimmer in einem Herzen nehmen, verantwortlich sein für das rosane Blut in den Lippen der schwellenden Jungfrau, der ich beiwohne. Wann ich nur erst Alchymist geworden!

Das Haus am Meer

Die Tatzen zitterten über den Sand, bevor das blaue Meer folgte und die Abdrücke wieder verschlang. Nur das Flackern einer jahrtausendalten Geschichte, die sich so lange wiederholt, bis der Strand abgeschliffen ist. Doch vorher muss der Brunnen werden. In Wirklichkeit zieht sich nämlich das Meer zurück und hinterlässt nur seine Schattenwelten.

Sehr früh schon huschte sie in Kleidern aus dem Haus, gefolgt von der dünnen Luft, die sich über Nacht in ihrer Kammer aufgetürmt hatte ohne entweichen zu können. Natürlich wusste sie auch diesmal nicht, wo sie graben sollte, ein Traum aber hatte ihr gesagt, die Tiefe warte bereits auf das Eisen des Spatens.

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Der Elvegust

Das Aufblitzen der Scheinwerfer eines sich nähernder Knudson-Taunus fräst für kurze Zeit einen gespenstischen Schein in die Nacht. Die Häuser entlang der Schlossstraße wirken wie übriggebliebene Kulissen aus Alain Resnais ›Letztes Jahr in Marienbad‹, wo die Komposition stets wichtiger ist als die Aktion, die Sinneseindrücke persönlicher als die Interpretation. Ansaugen, Verdichten, Arbeiten, Ausstoßen. Ein Schattenregister.

Gitternetz der Beobachtung: Verschwunden ist das, was die Pupille nicht streift, ein ungesehener Winkel, möglicherweise ein Scheunentor, ein Stein unter der Brücke, ein Grashalm im Wasser neben dem eigenen Gesicht.

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Die Servierdame

Ich erwache erneut. Es ist immer ein Wunder dafür verantwortlich. Manches davon erscheint mir wie eine Schallplatte – rund. Und dann befinde ich mich an einem anderen Ort, der wie ein Damm um mich herum gebaut ist. Manchmal denke ich an seinen Schutz, manchmal denke ich an eine Trennung. Die Welt hat ihren Zustand verändert, ist jetzt gasförmiger denn je.

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Der Beobachter

Alle Lichter verwandelten sich in eine strafende Ebbe. Ich saß, von der windigen Dunkelheit eingehüllt, auf der Brüstung des Rathauses und beobachtete die von hier aus einsehbare Fläche unter mir, denn wir alle waren abkommandiert, um die Schatten zu beobachten, die in immer größerer Zahl in die Stadt einfielen.

Sie waren uns all zu ähnlich, und was wir zu berichten hatten, wurde mit großem Interesse verfolgt, wenn auch wir mit niemandem unserer Auftraggeber direkt sprachen, denn ein Beobachter ist nun einmal kein Sprecher.

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