Zwischen Spiegel, Masken und Symbol: Eine literarische Deutung von “Morena”

Morena von Michael Perkampus, ist ein poetisch dichter, in suggestiver Sprache verfasster Prosatext, und lädt den Leser von der ersten Zeile an in eine Welt des Ambigen, Unaussprechlichen und Symbolisch-Aufgeladenen ein. In ihrer schwer fassbaren Erscheinung wird die titelgebende Figur zur Projektionsfläche eines Ich-Erzählers, dessen Begegnung mit ihr zwischen intellektueller Erhebung, erotischer Faszination und psychischer Zerrüttung oszilliert. Der Text verweigert sich einer linearen Narration und entfaltet seine Wirkung vielmehr im Sinne symbolistischer und dekadenter Ästhetik, die den Übergang zwischen Bewusstsein, Traum und Halluzination zum eigentlichen Erzählraum erklärt.

Schon die Einleitung legt den mythischen Ton fest: Morena wird eingeführt als eine “überirdische Schönheit”, die gleichsam einem uralten Geschlecht entstammt und deren Aura potenzielle Bewerber gleichermaßen anzieht wie abschreckt. Der Ich-Erzähler nähert sich ihr nicht durch Leidenschaft oder Mut, sondern durch eine Art intellektueller Zurückhaltung – ein Zugang, der weniger auf Handlung als auf Erkenntnis abzielt. In der Nähe Morenas erhebt sich das Ich zu philosophischen Höhen, spricht über Jakob Böhme, über alchimistische Poetik, über Widerspruch als schöpferisches Prinzip. Schon hier deutet sich an, dass die Begegnung nicht empirischer, sondern symbolischer Natur ist. Morena wird nicht als realistische Figur gezeichnet, sondern als katalytisches Prinzip, das das Subjekt zu transzendieren scheint.

Diese Art der figuralen Überhöhung erinnert an die literarischen Frauengestalten des Symbolismus und der Dekadenz: an die mystische Ligeia bei Edgar Allan Poe, an Moreaus Salome-Bilder oder an Joris-Karl Huysmans’ desillusionierte Schönheitsphantasmen. Die Frau wird zum Spiegel des männlichen Selbst, zum Ort metaphysischer Projektion. In Bruno Schulz’ Zimtläden etwa erscheinen weibliche Gestalten nicht als Individuen, sondern als transformierende Mächte des Raums – so wie Morena nicht einfach “ist”, sondern fortwährend “wird”. Sie ist Maske, Bandage, Atemgerät, Kleid mit Brandflecken – sie wechselt ihre Erscheinung wie ein mythologisches Wesen, das zwischen Krankheit, Verklärung und Subversion changiert.

Der Text gewinnt seine eigentliche Stärke in jenen Szenen, in denen Realität, Erinnerung und Assoziation ineinanderfließen. So etwa, wenn der Erzähler Morena später in einem Schnellrestaurant trifft – ein profaner, kapitalistisch aufgeladener Ort, der im Kontrast zur mystischen Aura der früheren Begegnungen steht. Doch auch hier bleibt Morena von Rätseln umgeben: Ihre Maske ist verschwunden, ihre Wunden geheilt, doch das Kleid ist verräterisch gezeichnet. In der Folge kommt es zu einer irritierenden Handlung: Der Erzähler greift unvermittelt nach ihrer Brust. Diese Szene wirkt wie ein brutaler Einbruch des Körperlichen, ja des Übergriffs, in eine zuvor von symbolischer Codierung getragene Atmosphäre. Zugleich aber bricht hier auch das Subjekt zusammen: Die Fische auf dem Teller stieben über die Fliesen, als wollten sie „zurück ins Meer“ – eine starke metonymische Geste für Flucht, Rückkehr zum Ursprung oder Scheitern der Synthese von Begehren und Symbol.

Besonders aufschlussreich ist der wiederkehrende Spiegel mit der Inschrift “Ich habe nie…” – ein Satz, der sich jeder Vollendung verweigert. Dieses motivische Fragment verweist auf das poststrukturalistische Moment des Textes: Die Bedeutung bleibt offen, verschoben, aufgeschoben – was Derrida als différance bezeichnet. Es ist das Versprechen einer Wahrheit, die sich der Sprache entzieht, ein Nicht-Gesagtes, das zwischen Leser und Text schwebt. In psychoanalytischer Lesart könnte diese Leerstelle als Verdrängung gelesen werden, als Hinweis auf das Unbewusste, das nicht artikuliert werden kann, sondern als Lücke zurückbleibt.

Der Text operiert mit klaren Elementen einer hermetischen Poetik: Spiegelsymbolik, mystische Philosophie, wiederkehrende Motive der Transfiguration. In dieser Hinsicht nähert er sich dem Werk von Gustav Meyrink an, insbesondere dem Golem, in dem das Ich durch eine symbolisch verdichtete Welt wandert, die weniger äußere Wirklichkeit als innerer Zustand ist. Ebenso ist eine Nähe zu Jorge Luis Borges’ Texten spürbar – etwa in der doppelbödigen Spiegelstruktur, im Verschmelzen von Text, Erinnerung und Metapher. Morena könnte als Borges’sches Symbol gelesen werden: eine Figur, die nicht existiert, sondern Bedeutung produziert. Der Spiegel, in dem sie erscheint, ist nie neutral: Er zeigt das Ich, das es nicht erkennt.

Letztlich ist Morena kein Text, der sich entwirren lässt – und darin liegt seine literarische Qualität. Es ist ein dichter, vielfach gebrochener Raum der Deutung, der zwischen Eros, Erkenntnis, Scheitern und Schweigen schwebt. Der Schluss – “Was wollte ich sie fragen?” – öffnet nicht nur den Blick auf eine verpasste Gelegenheit, sondern formuliert das Wesen des Textes selbst: eine Frage, die unbeantwortet bleibt, weil sie vielleicht nie gestellt werden konnte. In dieser schwebenden Unschärfe liegt die größte Nähe zur symbolistischen und surrealistischen Literatur: Sie will nicht erklären – sie will erfahren werden.

— Ende —

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