Das war gestern, Helen, als sie die Kirche betraten. Kachektisch, bis zur Kanzel reichend waren sie, die sich inmitten der Messe von der Kuppel aus hernieder ließen, ohne dass sie Flügel gehabt hätten. Stattdessen wuchsen ihnen schmale blutsteinerne, sich zu den Enden hin tubisch aufweitende Röhren aus den Rücken, die in alle Himmelsrichtungen ausgerichtet waren. Ihre Augen, nichts als tiefschwarze Brunnen, in denen man, sah man genauer hin und kniff die eigenen zusammen, Sterne zittern sah. Ihre Köpfe waren von enormer Größe und erinnerten an die von Feten. Sie glichen einer dem anderen. Nur in ihren Häuten unterschieden sie sich, die zunächst von blässlich flimmernden Filamenten überzogen waren, als schwömmen sie in einer Art liquidem Äther, der sie umgab. Jedoch hoben die Filamente sich, sobald man sie, die nun unter uns waren, näher ansah. Es kamen weiche, opak schimmernde Hautflächen zum Vorschein. Sie waren tief und wie offene Fenster zum Himmel, in denen ein jeder wohl sah, was er sah. Denn jeder, obgleich es Mann, Frau oder Kind war, beschrieb etwas anderes, als man sich, als sie wieder fort waren, aufgeregt unterhielt. Kein einziges Wort hatten sie gesprochen, nur zu uns herabgesehen. Dann verließen sie die Kirche, duckten sich einer nach dem anderen unter dem großen Torbogen hindurch und traten hinaus. Fast erwarteten wir, dass sie in der Morgenhelle, die hier und da bereits zwischen den Wolken durchbrach, zu Staub zerfallen müssten. Doch das taten sie nicht. Sie stellten sich gleichmäßig verteilt auf dem Kirchenvorplatz wie ein Heer nach Osten hin auf. Sie verharrten. Manche von uns liefen, all ihren Mut zusammennehmend, unter sie, und erschraken sehr, als sie dort, wo eigentlich hätten Münder sitzen müssen, zuvor jedoch nichts war, weit klaffende Wunden erblickten, mit denen sie die Wolken am Himmel aufzehrten, bis nichts mehr war außer Licht, Helen. Das war gestern.
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Daphne
Manchmal Wurzeln
Das Haar
Manchmal Rinde
Das Gefühl
Manchmal Blätter
Die Organe
Das Rauschen
Manchmal Äste
Die Arme
Das Knarzen
Der Wille zu dir
Manchmal wie Harz
Das Blut
Die Möse
Der Schwanz
Das Aufbrechen der Borke
Schemenform (Proto)
Wieder lief ich des Weges, den ich einst nahm.
So oft warf ich meine Hände dabei ins Feuer.
Und jedes Mal in jeder Mitte dieses Waldes ließen
sie mein Haus, auf das sie mit ihren nachtlangen Fingern zeigten,
erneut in diesem großen Kessel versinken.
So lange habe ich dich hier nicht mehr gesehen.
Die Bäume brachen ihre Borken durchgehend stumm auf.
Fleischweiß ist es hier geworden. Einzig hinter der Tränenmauer
gingen Wölfe auf Zehenspitzen auf und ab.
Die Wölfe wortostwärts
Weißbärtig und mit langen, sich zuspitzenden Zähnen setzte sich der Frost nur eine Mannshöhe über dem Boden an jenen Stellen der Stadt fest, an denen sich noch immer vergangene Morde leibten, die von niemandem, so hatte es sich herausgestellt, wegzukarren waren.
Ihr Haus, das in den blutenden Wäldern lag, war von diesem Geschehen in der Stadt gerade soweit entfernt, dass es genügte, sich Geschichten über sie zu berichten, die man sich gegenseitig des Nachts in dunklen Gassen in die Taschen steckte. Fern der Tage, an denen die alten zahnlosen Weiber der Stadt mit ihren zerbrochen Krügen versuchten, den Bildermost aufzufangen, der aus den dunklen Augenhöhlen der gestürzten Statuen rann.
Vielleicht hatte sie in den roten Forsten, die die Stadt umgaben, tatsächlich Tag für Tag Wölfe aus Dörrobst geformt. Jedenfalls war dies die lohnenswerteste Erzählung, die sie in seinen Augen zu finden glaubten, als er zu ihnen in die Stadt zurückkehrte, um ihnen mitzuteilen, dass es nicht notwendig sei, die geschicktesten Frauen an den Webstühlen zu beauftragen, die Stadt mit ihren Mauern von dem loszuweben, was außerhalb von ihnen lag.
Oh doch, gab man ihm zur Antwort. Denn nur so sei man sicher, dass die Wölfe nicht in die Stadt kommen könnten, um aus den Krügen den eingesammelten Bildermost ihre Kehlen hinunterlaufen zu lassen.
Doch was er ihnen von ihr, die in den Wäldern lebt, berichtete, war etwas anderes. Aber es hörte ihm niemand zu. Und er fragte sich, ob sie, die man verbannt hatte, ihn nicht auch Kassandra gerufen hatte, als er sie wieder verließ und sie sich von ihm verabschiedete. Genau wusste er es nicht mehr. Und obwohl er verstand, wie ihm geschah, flüsterte er noch ein letztes Mal zu sich:
Sie formt die Bilder wortostwärts.
Unendlich müde und verloren ließ er sich unter dem kalten klammen thronenden Bartmassiv des Frostes niedersinken, der seine soeben ausgehauchten Worte klar vernommen hatte, und dessen Augen sich nun blitzend öffneten, und bemerkte nicht, wie er sich in der Kälte mit dem Gesicht zum Himmel gewandt niederlegte, und sich bereits wie ein Bogen dem eiskristallnen Thron entgegen von seinem Nabel aus zu wölben begann.
Cheir
Meine Hand, gespalten am Glas, wollten sie mir wieder schließen.
Ich sah hin und wusste:
das ist ganz und gar unmöglich,
schreibe ich und lese: Blut
Crash
Der Druck auf meine rechte Körperseite, auf diese Extremitäten, die Knochen, die äußeren Flächen. Das Hervortreten der Schulterblätter. Die Unterbindung des Blutflusses der Beine. Das Gras berührt, die Wange den Boden. Das Klaffen der oberen Lippe. Die Beckenschaufel wieder und wieder in Erde bewegt. Die starkschnellen Schläge. Links, unter meiner Brust. Unter den Rippenbögen, die flache Atmung. Die Weite von vorn, von hinten Wärme. Die Haut deiner Hand. Das Blut schmeckt eisern. »Maybe the next one. Maybe the next one.«
(angelehnt an die Romanverfilmung "Crash" von David Cronenberg)
Gen Eden
Ich ziehe an zwei Bändern, die rot aus meinem Sternum herabhängen,
ich ziehe an einer von Hand in meinen Brustkorb gelegten Schleife.
Ich tue das, weil es mir in den Sinn kommt,
als ich im Spiegel sehe, dass sich kleine Buchstaben auf meinen Lippen profilieren.
Ich ziehe an beiden Bändern, löse einen Zirkus aus, der mich bauchpinselt,
blau-weiß gestreift vom Nabel bis zu den Zehen
versuche ich von hier oben aus
– mich tief in die offene dunkle Erde hinabbeugend –
möglichst alle grünen Schlangen in meinen Korb zu legen,
die gerade hektisch durch das Gewitter aalen,
die die zwei Clowns, die sich entspringen,
sobald sie sich gegenseitig als Leiter zum Himmel zu nutzen versuchen,
in die Grube der Sphinx werfen sollten.
Papageien steigen aus meinem Hintern empor,
fliegen gen Eden.
Dein Haus
Spürst du, dass du dich dort oben befindest? Mitten auf dem Marktplatz der Stadt. Bemerkst du das Ungleichgewicht? Dein linker Arm ist kräftiger als der rechte. Deine Augenbinde ist dir die eigentliche Obsession und hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Trotzdem haben sie dir einen falschen Namen gegeben. Das hat der Leibwächter im Anzug da unten überhaupt nicht geblickt. Auch er sieht, wie alle anderen, auf dem Weg in dein Haus, die Tauben, hat aber immer nur die gleiche Wahrnehmung von ihnen. Allenfalls deine freigelegten Brüste hat er, kurz einmal aufschauend, besehen. Anfassen kann er sie ja nicht, dafür stehst du zu hoch.
Ich sehe manchmal die Weibchen heraus, besonders an ihrem schönen Nacken erkenne ich sie. Oft ist ihr Kopf zierlich und schmal. Manche haben eine Halsbandzeichnung. Bewegen sich anders. Beobachten. Fliegen davon. Nimmst du deinen eigenen Körper noch wahr? Ja, das tust du. Denn dein linker Arm ist kräftiger als der rechte. Er hält ein Ungleichgewicht. Du spürst es. An ihm. Und überall. Dein Schmerz, das sog. Richtschwert, ist eigentlich kein Ding. So plakativ verleiht der Mensch dir Attribute. In deinem Haus.
Rote Arbeit
M: Sie sagten, Sie hätten rote Arbeit an ihm verrichtet. Wie meinen Sie das?
F: An seinem Körper.
Ich habe ihm die Kehle aufgeschnitten.
Habe meine Hände in sein noch warmes Blut getaucht.
Nur ins Blut, nicht in dich. Immer nur ins Blut, niemals in dich,
habe ich mir immer wieder gesagt, um es auszuhalten.
M: Sie sehen es gerade vor sich?
F: Ja.
M: Wieso haben Sie ihre Hände in sein Blut getaucht?
F: Weil es das einzig Warme an ihm war. Es ging mir nicht um seine Seele.
M: Wieso nicht um die Seele?
F: Sie war ihm nie heilig.
M: Sie war ihm nie heilig? Was hat Sie das vermuten lassen?
F: Es ist keine Vermutung!
Er wollte Verständnis von mir. Immer wieder Verständnis.
Aber das ist etwas, dass ich nie entwickeln konnte.
Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich konnte es nicht, kann es auch jetzt nicht.
M: Wieso nicht?
F: Weil ich nicht in der Lage bin solch eine Sicht auf´s Leben anzunehmen,
wie er sie sich hatte beibringen lassen.
Wer hat dich nur so zugerichtet, habe ich ihn zuvor noch gefragt.
Das fühlt sich nicht an!
Ich dachte auch, als sein Körper dann ganz blutleer und ausgekühlt da lag,
das ist grauenhaft, was ich da getan habe.
Aber ich konnte doch nicht, nur damit wir uns verstehen, anfangen leicht zu werden.
Das wäre nicht richtig gewesen. Zumal ich schwanger war.
Ich hätte ihn gar bitten müssen, mir zuvorzukommen.
Hätte darauf hoffen müssen, dass er zuvorkommend ist.
Aber das hätte er noch weniger gekonnt.
Deswegen musste ich können. Und dass ich kann, das wusste ich immer.
Nur dass ich irgendwann muss, das hatte ich gehofft, würde nie passieren.
Als er aber verstanden hatte, dass es nun wirklich keine Möglichkeit mehr gibt,
da hat er sich völlig in meine Arme zurücksinken lassen.
Verstehen Sie?
Eins: Nacht ohne Morgen
Es gab Erste. Diese Ersten waren viele. Sie hatten sich daran gewöhnt, ihre Hände verschollen zu wissen. Ihr Mund von einem weißen Band fortgetragen, das vor ihren blass marmorierten Stirnen davonwehte, während sie sich ins Dunkel drehten ohne jemals wiederzukehren und für immer dort stehen blieben, von wo aus sie gerufen worden waren. Unbewusst streifen die, deren Namen noch unausgesprochen nicht zu Asche zerfallen sind, sie in den Straßen und auf den Feldern. Das Einzige, was sie von ihnen wahrnehmen, so sie wach und vermöge sind, ist allenfalls ein eisiger Luftzug, der rückwärts in der Zeit all die Türen verschließt, die jene sich zeit ihres verbleibenden Lebens offenzuhalten gedenken.
Es würden Weitere folgen – bis bald kein Name mehr in dieser Welt vorhanden, ich jene noch geschlossene Tür passieren muss.
Ich habe Angst – denn:
Müsste ich dann fortan und ewig in diesem in der Fremde drohenden Meer bestialisch aufgepellter Herzen wandeln, würde ich die Götter wohl bitten, mir das Licht von der Haut zu nehmen.
Ich müsste dunkeln, um im Dunkel zu sein.
Auch ich
Was glaubst du, Mensch, ist dein Menschenleben, dein Geschlecht, noch wert, wenn du nicht wagst zu leben, Leben nicht wahrnimmst, wenn es ist?
Ich verrate es dir: Nichts.
Ich weiß, dass ich es nicht mehr schützen wollen würde. Ich würde nicht mehr plädieren für dich, wenn man dich vor die Hunde gehen ließe. Ich würde zuschauen und denken: Die Hunde immerhin wissen noch, was sie wollen, und erschrecke doch sehr darüber, dass das so für mich geworden ist.
Du tötest mich. Daher.
Keinen warmen Gedanken, keinen einzigen Wortfunken habe ich noch für deine Gewalt. Man hat dich mir völlig aus meinem Blut gewaschen. Hat mich angefasst, auch ohne Hände. Denn ohne ist jede Gewalt noch gewaltiger. Niemals aber habe ich dir erlaubt, mich so anzufassen. Denn Menschsein heißt nicht: Ich nehme mir.
Zu dürfen. Einem Menschen begegnen dürfen, das ist das Einzige, was ich dir anbieten kann. Die letzte Bastion ist tatsächlich mein Geist. Dir, deinen Hunden, entzogen.
Ich wünschte, ich könnte über diesen Gedanken hinauskommen. Aber ich kann es nicht. Weiß auch nicht, ob ich es noch werde.
So wittern sie auch mich.
Wir gehen
Wir gehen von etwas aus.
Schaffen uns ab mit aller Kraft,
denn wir schaffen es nicht,
uns abzuschaffen.
Wir gehen uns nach.
Vergehen nach uns.
Wir nähern uns nicht.
Wir gehen.
Gehen gleichmäßig
nacheinander.