22. Dezember 2024

Simon Tinkerbell

Sie sah mich an. Anderen war sie versprochen. Anderen. Und weil in mir alle sind, kann sie mit mir allein nicht ihr großes Haus bewohnen.

Ich erinnere mich an eine Geschichte. Wieder ist es eine Liebesgeschichte – vielleicht ist es sogar eine moralische Geschichte, aber das war mir zum Zeitpunkt der Lektüre noch nicht klar:

Ein Mann und eine Frau verlieben sich ineinander. Das ist an sich keine Sensation. Sie verbringen eine Woche wie im Fieber miteinander. Es ist ein sicheres Zeichen des Wahnsinns, daß für sie keine Außenwelt mehr existiert. Sie sind ein Wesen geworden, das einzige Wesen in der Auflösung aller Begrenztheit.

Nach dieser Woche will ein kurzes „Ernüchtern“ die Planungsgespräche aufnehmen lassen.

Es ist immer wieder erstaunlich (obwohl man es für selbstverständlich halten wird), daß Liebende glauben, eine Zukunft zu haben und diese planen zu können. Aber weiter: Sie sagt ihm, daß sie ihm sofort ihr Leben für immer schenken wolle, doch sie habe eine Bedingung. Sie dürften sich von heute an ein Jahr lang weder sehen, noch sich schreiben, noch anderweitig Kontakt miteinander aufnehmen. Danach wolle sie ihm also ihr Jawort geben.

Ich gehe jetzt nicht näher auf die Gefühlsregungen ein; sagen wir, dieser Liebestest wurde so vereinbart und schließlich angenommen.

Das Jahr vergeht (auch hier erspare ich mir Einzelheiten und die Beschreibung nervöser Zustände – die Geschichte wechselt von ihr zu ihm) und der Tag des Wiedersehens naht. Aber siehe da: Die Dame will den Herrn nicht mehr, nämlich gerade, weil er es ausgehalten hat und sich an die Vereinbarung hielt, obwohl es ihn beinahe verzehrte. Sie sagte: wenn nämlich die Glut in ihm tatsächlich schwächer war als seine Kontrolle, wäre die Leidenschaft nicht in der Form ausgebrochen, die sie sich für ein Leben mit ihm gewünscht hätte.

Simon Tinkerbell – Liebestest; aus: Katastrophen der Leidenschaft

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