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Robert W. Chambers: Der König in Gelb

Die Sammlung seltsamer Jugendstil-Geschichten des amerikanischen Autors Robert W. Chambers blieb nahezu für ein ganzes Jahrhundert ein ungelesenes Buch. Die erste Hälfte des Buches besteht aus vier unheimlichen Geschichten, die, außer der losen Verbindung des Königs in Gelb, nichts miteinander zu tun haben.

Der König in Gelb ist ein Buch, das jeden, der es liest, in den Wahnsinn treibt. Chambers’ Sammlung war für damalige Verhältnisse seiner Zeit weit voraus. Sie ist einer der ersten literarischen Metatexte, einer Form, die bei so verschiedenen Autoren wie Franz Kafka, H. P. Lovecraft und Vladimir Nabokov Verwendung fand. Das Spiel mit Andeutungen, der literarische Isis-Schleier wurde hier geboren. Im letzten Jahr (2014), wurde dieses Buch, das zum Zentrum der HBO-Serie “True Detective” avancierte, an die Spitze der Amazon-Bestsellerlisten katapultiert. Aber auch in dieser ersten Staffel bleibt der König in Gelb ebenso ungesehen wie im Buch. Aufreizend angedeutet zwar, aber nie aufgedeckt.

“True Detective” ist ein düsterer, existentieller Neo-Noir-Stoff, der zahlreiche Hinweise auf den König in Gelb ausstreut. Angesiedelt ist der Mehrteiler im Louisiana Bayou. Die Detectives Rust Cohle und Martin Hart jagen einen Serienmörder, bekannt als der Gelbe König. Die Referenzen an Chambers Werk sind mannigfaltig, ob es sich nun um Symbole handelt, die auf den Leichen hinterlassen werden oder um direkte Zitate, die in den Dialogen vorkommen (Rust Cohle werden dabei jedoch hauptsächlich Sätze aus Thomas Ligottis “The Conspiracy Against The Human Race” in den Mund verfrachtet). Auch finden die beiden Detectives ein Notizbuch, in dem Texte aus Der König in Gelb stehen. Selbst das Wall Street Journal hat einige Artikel veröffentlicht, die sich auf die Verbindung zwischen Buch und Serie beziehen. So blieb das literarische Phänomen nicht aus: ein Buch, hundert Jahre nach seiner Veröffentlichung, wird zum Bestseller und greift um sich wie ein Virus. (Ich spreche hier vornehmlich vom angelsächsischen Raum, in Deutschland hinkt man traditionell allem hinterher.)

Dennoch bleibt die grundsätzliche Frage nach dem Warum dieses merkwürdigen Erfolges. Die Antwort dürfte in dem liegen, was Lovecraft sagte. Es geht um die Kraft, mit der ein Mythos gezeichnet wird: Geschichten, die ein literarisches Universum miteinander teilen, definiert von der unerklärlichen Furcht vor äußeren, unbekannten Kräften des unauslotbaren Raums.

In Brooklyn 1865 geboren, war Robert W. Chambers ein in Paris ausgebildeter Schriftsteller, der dutzende Romane und Sammlungen in den unterschiedlichsten Genres veröffentlichte. Seine größten Erfolge aber hatte er mit Romanzen und seinen Erzählungen im Bereich des Übernatürlichen. Obwohl Chambers den Leser nie mehr sehen lässt als ein Bruchstück, deuten seine Geschichten doch an, dass sie sich einer ähnlichen Handlung bedienen wie Poes “Maske des roten Todes”. Wie in Poes Erzählung scheint der König in Gelb eine Larve zu sein, die sich unter den dekadenten Adel mischt, eine schreckliche Gestalt, von der man nicht sicher sein kann, ob sie nun eine Maske trägt oder nicht. Noch bizarrer hingegen wirkt Carcosa, eine verfluchte Stadt in einer fremden Welt.

Aus heutiger Sicht ist das Bemerkenswerteste an Der König in Gelb nicht der literarische Wert der Geschichten. H. P. Lovecraft, der stark beeinflusst war von Chambers’ Arbeit, nannte ihn einen “gefallenen Titanen”, der mit guter Bildung und Herkunft ausgestattet, dennoch unfähig blieb, diese zu nutzen. Die beste Geschichte im König in Gelb ist “Der Wiederhersteller des guten Rufes”, eines der großen Beispiele eines unzuverlässigen Erzählers. Der Rest ist bestenfalls Durchschnittskost. Dennoch war Der König in Gelb in einer weiteren Sache bahnbrechend: 27 Jahre bevor H. P. Lovecraft sein Necronomicon ersann, enthüllte Chambers’ “Zauberbuch” unwiderstehliche Wahrheiten über den Kosmos all jenen, die mutig genug waren, es zu lesen. Es hat zu allen Zeiten Autoren gegeben, die fiktive Bücher erfanden, aber keiner ist dabei so weit gegangen, um deren Existenz glaubhaft zu machen. Nach S.T. Joshi, einem Literaturkritiker und führender akademischen Figur, der eine Studie über phantastische Geschichten schrieb, baut True Detective auf die Kraft einer Idee, die seit mehr als einem Jahrhundert gewachsen ist.

“Mit Der König in Gelb stellt Chambers eine flüchtige Verbindung zwischen Geschichten her, die ansonsten nichts miteinander zu tun haben. Er tut das auf eine sehr indirekte Weise, tröpfchenweise, und hat somit viele spätere Schriftsteller mit dem fasziniert, was er nicht schrieb.”

Das macht den Mythos als literarische Form so gewaltig. Es gilt, damit einen fruchtbaren Boden für künftige Autoren zu schaffen.

“Schriftsteller wie Chambers waren sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, jedes Detail des Universums, das sie entworfen hatten, auszuarbeiten, während sie gleichzeitig darum bemüht waren, zu erklären, dass da noch so viel mehr unter der Oberfläche lauert,”

sagt Joshi.

“Es ist dieser Mangel an Definition, das anderen Autoren erlaubt, die Lücken zu füllen, die Themen und Ideen für eine neue Zielgruppe neu zu interpretieren.”

Das ist es, was True Detective mit dem König in Gelb so faszinierend macht. Während Chambers mit nur ein paar Dutzend Sätzen seinen Mythos skizzierte, nutzt die Idee des gelben Königs unsere existentiellen Ängste, unsere Zurechnungsfähigkeit, unsere Handlungsfähigkeit und unseren Platz in einem Universum, dass sich nicht im mindesten um uns schert. Mehr als die spezifischen Handlungsdetails der Geschichte selbst, ist es der Abgrund, den die Protagonisten von True Detective untersuchen. Blickt man in Cohles Augen, sieht man die unausgesprochene nihilistische Verzweiflung. Man sieht dort gespiegelt die Seele eines Mannes, der den König in Gelb gelesen hat – nicht als billiges Taschenbuch, sondern geschrieben auf den Seiten unseres modernen Lebens. Ob es da unten im Abgrund wirklich einen Gelben König gibt, ist dabei völlig nebensächlich.

Stephen King Re-Read: Nachtschicht

Zu Beginn seiner Karriere wollte niemand wollte eine Kurzgeschichtensammlung von Stephen King veröffentlichen. Als aber Shining, sein erster Hardcover-Schlager, gleich nach Carrie einschlug wie eine Bombe, begann seine Karriere auf Hochtouren zu laufen. Doubleday hatte King unter Vertrag und verlangte einen weiteren Roman im folgenden Jahr, aber King war mit einem Buch zugange, von dem es schien, als könne er es niemals beenden: Das letzte Gefecht. Ohne vorhersagen zu können, wie lange er noch brauchen würde, schlug er seinem Verlag vor, eine Sammlung mit Kurzgeschichten herauszugeben, die er für verschiedene Magazine wie Cavalier, Penthouse und Cosmopolitian geschrieben hatte, zusammen mit einem Vorwort von King selbst und vier neuen Storys. Zwanzig Geschichten also, die über mehr als ein Jahrzehnt hinweg geschrieben wurden, einige davon bereits als King erst 22 Jahre alt war. Das wurde widerwillig akzeptiert, und so erschien das Buch ohne Cover-Artwork in einer ersten Auflage von 12 000 Exemplaren. Das Buch beginnt und endet mit zwei Geschichten, die den in Brennen muss Salem etablierten Mythos ergänzen. Die erste, “Briefe aus Jerusalem“, kann man durchaus als Vorgeschichte zu Salem’s Lot lesen und ist eine Verneigung vor H.P Lovecrafts Cthulhu-Mythos. Der Schauplatz könnte durchaus auch Innsmouth sein. Angesiedelt im Jahre 1850 erzählt die Geschichte von einem uralten Übel, das in einer kleinen verlassenen Stadt gefunden wird, die der Vorfahre des Erzählers und sein Diener dort entdecken. Der Nachkomme, der uns die Geschichte erzählt, ist dazu verdammt, die Fehler seines Vorfahren zu wiederholen. King hat später oft und gerne “Pastiches” geschrieben, d.h. Erzählungen in Anlehnung an einen bekannten Stil. Ich denke da an Arthur Conan Doyle oder Raymond Chandler. Auch ist die Briefform ein beliebtes stilistisches Manöver des 19ten Jahrhunderts gewesen, um einem Sachverhalt den Anstrich von Realität einzuhauchen.

“Spätschicht” 1970, Cavalier

Eine der frühen Top-Geschichten Kings und seine erste verkaufte Geschichte überhaupt. Die atmosphärische Beschreibung der Spinnerei, das Arbeitsklima… bereits das ist Naturalismus pur. Gleichzeitig kann man hinter dem “Short-Shocker von Amerikas aufregendstem Autor” durchaus eine Gesellschaftskritik erkennen, die ja immer wieder mal in seinem Werk zu finden ist: Unachtsamer Umgang mit Natur und Umwelt. Hört sich auf den ersten Blick banal an, entfaltet aber bei King immer wieder eine immense Wirkungskraft. In seinen besten Erzählungen gibt es diesen doppelten Boden zwischen Horror und “Realismus” immer zu finden. Ohne moralischen Zeigefinger, völlig unterhaltsam. Aber das Unterbewusstsein weiß Bescheid.

“Nächtliche Brandung” 1974, Cavalier

Stephen Kings Erzählung Nächtliche Brandung kann man getrost als eine erste Skizze zu Das letzte Gefecht verstehen. Captain Trips, sprich; das Supervirus A6 dreht hier das erste Mal seine Runden. Wir begegnen einer handvoll Jugendlicher am Strand in einer bereits post-apokalyptischen Umgebung, die gerade Alvin Sackheim verbrannt haben, der sich diese Supergrippe eingefangen hat. Das ganze war gedacht als ein Menschenopfer, um die “Bösen Geister” davon abzuhalten, die Gruppe ebenfalls zu infizieren. Keiner glaubt natürlich diesen Humbug, aber alle machen mit, um mal etwas Neues auszuprobieren. Die Symptome zeigen sich trotzdem auch innerhalb der Gruppe.

Das ist dann auch schon die ganze Geschichte; und sie ist, wie sie da steht, lau. Allein dass sie zum Radius von The Stand gehört, macht sie etwas attraktiver, für sich allein genommen, bietet sie zu wenig.

“Ich bin das Tor” 1971, Cavalier

In der Sammlung findet sich auch Kings erster veröffentlichter Ausflug in die Science-Fiction und eine meiner ersten wirklichen Berührungen mit diesem Genre. “Ich bin das Tor” ist die Geschichte eines Astronauten, der mutiert, um einem Außerirdischen die Fähigkeit zu geben, durch seinen Körper zu sehen. Nur ist er ein schlechtes Medium, und die Bilder sind verzerrt; der Außerirdische, der mit den Schrecken der Erde konfrontiert wird, übernimmt seinen Körper und zwingt ihn, in seinem Namen zu morden. Der Tonfall ist fast wie bei Ray Bradbury, aber mit einem ausgeprägten King’schen Horror-Touch und einem echten Knaller am Ende.

Bekanntlich setzen Horror-Kurzgeschichten die höchste Kunstfertigkeit voraus. An ihnen ist vollumfänglich zu erkennen, was der Autor kann. So wie hier. Auch wenn King sich der Science Fiction zuwendet, tut er das, wie es Horror-Autoren tun. Diese Geschichte ist ein perfektes Kleinod, bei der, angefangen von der Grundidee, die gar nicht so spektakulär ist (ein Astronaut fängt sich während einer Venus-Expedition etwas ein, das ihn verwandelt) – bis hin zur Pointe der letzten drei Sätze (auch wenn der so infizierte einen vorübergehenden Sieg erringt, kann er das, was er mitgebracht hat, nicht aufhalten) alles stimmt.

“Der Wäschemangler” 1972, Cavalier

Das Groteske ist eine Urform des Horrors. Nicht zuletzt führt uns die was-wäre-wenn-Frage oder die grenzenlose Übertreibung auf die richtige Fährte. King spielte in seinen frühen Jahren konsequent durch, was geschähe, wenn sich uns vertraute Dinge oder Maschinen, die uns als Helfer dienen, plötzlich gegen uns wenden würden. Ich habe fast ausschließlich gelesen, dass diese Geschichte die lächerlichste sei, die King je schrieb, und ich kann nachvollziehen, woran das liegt. In Wirklichkeit sehe ich in ihr einen boshaften Humor. Eine Sache, die bei King in den letzten Jahrzehnten immer mehr verschwunden ist.

“Das Schreckgespenst” 1973, Cavalier

Es hat den Anschein, als seien in “Nachtschicht” alle grundlegenden Motive des King’schen Kosmos angelegt, zu denen freilich auch gehört, dass sich ‘etwas’ unter dem Bett oder – wie hier – im Schrank verbirgt. Ein Klassiker. Etwa zur gleichen Zeit geschrieben wie The Shining, ist auch dies hier eine Geschichte, in der ein Vater eine Bedrohung für seine Kinder darstellt.

“Graue Materie” 1973, Cavalier

Auch in diesem klassischen Verwandlungsstück über schlechtes Bier finden wir jenen Humor, der Kings Frühphase begleitet. Alkoholiker spielen bei King eine erhebliche Rolle, schließlich weiß er darüber bestens Bescheid. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass er selbst sich manches Mal wie diese Graue Materie fühlte.

Obwohl diese Geschichte sehr einfach gestrickt ist, kann man in ihr den hervorragenden Handwerker erkennen, der King nun eben ist. King beginnt diese Geschichte mit Blind Eddie, dem ‘permanenten Ladendieb’ der Nachteule, einem 24-Stunden-Laden, der das Zentrum der Geschichte ist. King wurde später oft dafür kritisiert, dass er Markennamen inflationär verwenden würde, während man ihn heute als verlässlichen Chronisten amerikanischen Lebens lobt, der es eben fertig bringt, diese für sein Schreiben wichtige Dimension bis heute durchzuhalten.

“Schlachtfeld” 1972, Cavalier

Ein ganz anderes Kapitel in dieser Sammlung sind die vom übernatürlichen Beeinflussten Action-Stories – oder Thriller wie eben “Schlachtfeld”, “Lastwagen”, “Der Mauervorsprung”, und sogar “Quitters Inc.” Sie bedeuten nicht mehr als das, was auf dem Papier steht. Man kann sie schlichtweg genießen wie man einen Marsriegel verschlingt. Die Idee – ein Auftragskiller bekommt eine Kiste von der Mutter des Konzerngründers einer Spielwarenfabrik, den er gerade umgebracht hat. Bei der Kiste handelt es sich um die “Vietnam – Ausgabe” einer Spielzeugsoldateneinheit. Natürlich geht es um Rache. Diese Idee also ist im Grunde so simpel und beweist nur eins: gute Autoren benötigen keine abwegigen Plots, um eine solide Geschichte zu generieren.

“Manchmal kommen sie wieder” 1974, Cavalier

In dieser Geschichte über Zombie-Schukinder, die auf Rache sinnen, treffen zwei von Kings Lieblingscharakteren zusammen. Der Hauptcharakter ist ein High-School-Lehrer, wie man ihn aus Carrie, Brennen muss Salem, Feuerkind, The Shining, Das letzte Gefecht, Christine oder Dead Zone, Es und Die Leiche kennt. Die bösen Jungs sind direkte Nachkommen Billy Nolans aus Carrie: das Haar mit Wachs zurückgekämmt fahren sie ein echtes Stück Detroit-Stahl durch die Gegend, immer höhnisch und bewaffnet mit Springmessern.
Dieses doch sehr auffällig wiederkehrende Szenarium deutet nicht zuletzt auf eine psychologische Verarbeitung Kings hin.

“Erdbeerfrühling” 1975, Cavalier

Diese Geschichte erschien zum erstenmal im literarischen Magazin der University of Maine, und wie alle Geschichten Kings aus dem Umfeld des Ubris Magazine (“Erdbeerfrühling” und “Nächtliche Brandung” aus dieser Sammlung, “Kains Aufbegehren” und “Achtung – Tiger!” aus Blut) ist auch diese mehr im Stil eines Schriftsteller-Workshops geschrieben als dass sie eine persönliche Note abgibt.

Auch hier treffen wir ein Motiv an, von dem King in seiner Anfangszeit besessen schien: ein Mann verwandelt sich in in etwas anderes. Angefangen von “Ich bin das Tor” zu “Graue Materie” oder “Das Schreckgespenst” bis “Shining”, treffen wir dieses Motiv immer wieder an. Aber auch in “Duddits” oder “Tommyknockers”, “The Dark Half” etc. Wer sich den Motivketten Kings öffnet, wird nahezu ein Aha-Erlebnis ernten können. Nehmen wir noch “Feuerkind” und “Dead Zone” dazu; hier sind es Charlie McGee und Johnny Smith, die durch die Ausübung ihrer psychischen Kräfte zu ganz anderen Menschen werden. Und dann wäre ja noch King selbst, der sich sozusagen in Richard Bachmann spaltete. Ein hinreißendes Thema, über das man lange spekulieren könnte.

“Der Mauervorsprung” 1976, Penthouse

Wie auch “Lastwagen” und “Schlachtfeld” gehört diese Story zu den straight-forward-Actionstories. Darin ist nicht mehr oder weniger enthalten als das, was auf dem Papier steht. Aber es sind meist die einfachen Geschichten, die der Technik bedürfen – und Kings Talent macht eine großartig effektive Geschichte aus der Tatsache, dass Stan Norris das 43. Stockwerk auf einem 13 cm breiten Mauervorsprung umrunden muss. Dass das natürlich nicht alles ist, versteht sich von selbst.

“Der Rasenmähermann”1975, Cavalier

Ich habe beim “Wäschemangler” bereits von der Groteske als Grund und Boden für Horror-Vibes gesprochen. Diese Geschichte hier ist allerdings reinrassig mit dem Grotesken verbunden und somit eine der Außergewöhnlichsten, die King je geschrieben hat. Stellen wir uns allein dieses Bild vor: ein dicker nackter Mann kriecht auf allen Vieren hinter einem knallroten Rasenmäher her, um das Gras, das dieser abschneidet, aufzuessen. Das hört sich lustig an und irgendwie bizarr – und das ist es auch, denn das Lachen bleibt einem dann später durchaus im Halse stecken. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Verweise auf die Griechische Mythologie, die man leicht überliest oder mit denen man zunächst vielleicht nichts anfangen kann. Es gibt nicht wenige Stimmen, die diese Geschichte für sinnfrei halten – das sind genau jene, die sie nicht verstanden haben und vielleicht nocheinmal lesen sollten.

“Quitters, Inc.” Bis dahin unveröffentlicht

Hier ist nach “Der Mauervorsprung” die nächste straight-forward-Actionstory. Gäbe es die Quitters wirklich, bin ich mir ziemlich sicher, dass die Tabakindustrie dicht machen könnte. Wie so oft bei Kings unglaublichen Short-Schockern, geht es auch hier um die simpelste Abhandlung psychologischer Fragen. An Effizienz mit Sicherheit nicht zu schlagen.

“Ich weiß, was du brauchst” 1976, Cosmopolitan

Eine Geschichte, wie man sie sich auch sehr gut in einem Frauenmagazin vorstellen könnte. Romantik, ein wenig “thrill” durch den Stephen King-Touch, fertig. Man täte der Geschichte unrecht, wenn man sie als schlecht bezeichnen würde, sie ist nämlich – wie immer – gut geschrieben. King – wie man früher behauptete – würde auch dann gelesen, wenn er das Benutzerhandbuch zu einer Kaffeemaschine schreiben würde. Das sagt viel aus.

“Kinder des Zorns” 1977, Penthouse

Mit seinen dunklen Maisgöttern und verdrehten religiösen Ritualen erinnert auch diese Geschichte an den Einfluss Lovecrafts. Es gibt nicht wenige, die sich diese Story als Roman gewünscht hätten. Das mag der Grund gewesen sein, warum so viele unsägliche Filme sich an diesem Thema abarbeiteten. Keinem davon gelang es auch nur in die Nähe des Geheimnisses zu kommen, das da zwischen den einzelnen Sätzen mitschwingt und die ungeklärt bleiben müssen.

“Die letzte Sprosse” Bis dahin unveröffentlicht

Dies ist keine Horrorstory, aber ohne Zweifel die beste und engagierteste Geschichte der ganzen Sammlung. Hier zeigt King eindrucksvoll, welch herausragender Autor er eigentlich ist. und dass ihn bereits in seiner Frühphase kaum einer das Wasser reichen konnte, was sorgfältig ausgewählte Details, die Beherrschung des Spannungsbogens oder die fesselnde Atmosphäre betrifft. Vertrauen, Einsamkeit, Liebe. Das sind die zentralen Schlagworte – eine Episode aus der Kindheit eines Geschwisterpaars, die mit dem Selbstmord der Schwester als Erwachsene endet. King wird stets aufs neue den Beweis antreten, dass er das Übernatürliche dem Menschlichen unterordnet. Hier hat diese Formel einen ersten Höhepunkt zu verzeichnen.

“Der Mann, der Blumen liebte” 1977, Gallery

Eine simple Geschichte, die wohl mehr einer Fingerübung ähnelt. Eine, in der der Leser bis zum entscheidenden Moment getäuscht wird – oder besser, auf eine falsche Fährte geführt wird, bis der erzählerische Klimax der ganzen Erzählung seinen literarischen Effekt ausspielt.

“Einen auf den Weg” 1977, Maine

“Einen auf den Weg”  spielt – anders wie “Briefe aus Jerusalem” nach den Ereignissen, die in Brennen muss Salem geschildert werden. Es ist eine einfache Geschichte über eine Familie, die sich während eines Schneesturms in die mittlerweile verlassene Stadt verirrt, und wäre ein effektiver und sauberer Abschluss des Romans gewesen, der Hinweise darauf gibt, dass Ben und Mark ihre Mission am Ende von Brennen muss Salem erfüllt haben. Die Familie in dieser Geschichte trägt den Namen Lumley, und wenn wir uns jetzt “Briefe aus Jerusalem” noch einmal ansehen und mit Brian Lumleys Geschichte “Sie lauern in der Tiefe”, vergleichen, die drei Jahre vorher – also 1974 – erschienenen ist, entdecken wir Kings kleine Geste in Richtung des englischen Kollegen. Die Hauptfigur Booth scheint ein Probelauf für Stu Redman aus “The Stand” zu sein. An diesem Roman arbeitete King zeitgleich.

“Die Frau im Zimmer” Bis dahin unveröffentlicht

Den Schluss bildet eine weitere ambitionierte Geschichte über einen Mann, der seine krebskranke Mutter vergiftet. Ob sie es so will, bleibt dabei unentschieden. King sah seine eigene Mutter sterben und fing diese Details perfekt ein. Auch hier ist zu erkennen, dass es King in erster Linie um die Figuren geht und erst in zweiter Instanz um das Übernatürliche.

Mit seinen ganzen Höhen und Tiefen ist diese Sammlung Kings Kurzgeschichten-Klassiker schlechthin. Unter den ganzen epochemachenden Romanen, die er schrieb, ging stets fast ein wenig unter, dass King ein Meister dieser wichtigsten aller literarisch-phantastischen Formen ist. Zwischen echten Höhepunkten finden sich immer wieder einige B-Stories, die aber dennoch von einem erstaunlichen Handwerk zeugen. Und über Kings Fantasie müssen wir uns ohnehin nicht unterhalten.

Arkham Horror: Die gesammelten Novellen Band 1

Die Geschichte von Arkham Horror beginnt eigentlich schon 1981, als das Rollenspiel Call of Cthulhu erschien, das natürlich nach H.P. Lovecrafts gleichnamiger Story benannt ist. Das Spiel wurde bis 2014 immer wieder neu aufgelegt und verbessert. 1987 wurde auf dieser Basis das Brettspiel “Arkham Horror” veröffentlicht und als bestes Fantasy-Spiel des Jahres ausgezeichnet. Es hatte sich mühelos gegen eine Menge anderer Lovecraft-Basierter Spiele durchgesetzt, die es nicht mal zur Veröffentlichung gebracht haben. Und auch dieses Spiel wird ständig erweitert und verbessert. Um eine Spielwelt noch lebendiger werden zu lassen, liegt es natürlich nahe, Romane und Geschichten in Buchform zu veröffentlichen, so dass sich die Spieler alles noch besser vorstellen können. Im günstigsten Fall interessieren sich auch Leser für die Bücher, die sich ohnehin gern in Lovecrafts Kosmos bewegen.

Cross Cult

Bei Cross Cult gibt es bereits die Romane “Das letzte Ritual” und “Litanei der Träume”, die in diesem Universum angesiedelt sind. Im Dezember 2022 erscheint dann bereits “Der Kult der Spinnenkönigin”. Aber heute habe ich “Dunkle Ursprünge” vorliegen. Die gesammelten Novellen Band 1; was natürlich vermuten lässt, dass es auch hier mehrere Ausgaben mit kürzeren Geschichten geben wird.

Wie im Spiel auch, reisen wir mit den unterschiedlichsten Protagonisten in Lovecrafts fiktive Stadt Arkham in Massachusetts im Jahre 1926. Es versteht sich von selbst, dass uns die Romane und Novellen unserer Arkham Horror-Files weit weg von den geschützten Ufern führen, direkt hinein in das dunkle Unbekannte. Alle vier Geschichten dieser Sammlung, die von Dave Gross, Greame Davis, Richard Lee Byers und Chris A Jackson geschrieben wurden, tauchen mit einer Mischung aus Pulp-Action und übernatürlichem Horror tief ein in die Geheimnisse unter der Oberfläche unserer bekannten Realität. In Arkham sind die wilden Zwanziger nicht ganz so verlaufen, wie wir das in Erinnerung zu haben glauben. Natürlich gibt es auch hier Flappers und Jazz, die Prohibition, Schwarzbrenner und Mafiosi. Aber es gibt auch weitaus seltsamere Dinge. Menschen sind verschwunden. Andere berichten, dass sie unbeschreibliche Kreaturen gesehen haben. Und die Luft verdichtet sich mit einem Gefühl der Vorahnung, das wie ein böser Nebel durch die Straßen zieht. Etwas Uraltes beginnt sich zu rühren.

Natürlich muss man sich die Frage nach der Qualität der vier hier gesammelte Erzählungen stellen. Dave Gross war Redakteur von Zeitschriften wie Dragon, Star Wars Insider und Amazing Stories. Er ist jemand, der die Welt der Pulp Magazine versteht. Abgesehen davon bringt er es auf 10 Romane, bei uns ist er jedoch völlig unbekannt. Er eröffnet mit “Die Nacht der Jägerin”.

Greame Davis studierte Archäologie, was für ein Lovecraft-Setting immer von Vorteil ist, schrieb aber von 1986 an bei Game Workshop das gefeierte Warhammer-Rollenspiel mit. Tatsächlich hat er danach an zahllosen weiteren Tabeltop- und Videospielen mitgearbeitet. Von ihm bekommen wir die Geschichte “Das Klagelied der Vernunft”.

Richard Lee Byers schreibt für die Reihe der Forgotten Realms an einer anderen legendären Fantasy-Welt mit. Beeinflusst ist er von den richtigen Leuten, nämlich logischerweise Lovecraft und Richard E. Howard, aber auch von Karl Edward Wagner und Jack Vance. Seine Geschichte trägt den Titel “Der Zorn der Leere”.

Chris A Jackson ist von Beruf Seemann. Auch er hat einen starken Hang zu den bisher genannten Spielen, obwohl er sich mit dem Schreiben von Piratengeschichten einen Namen gemacht hat. Mit seinen Weapon of Flesh Romanen über einen magischen Attentäter landete er mehrmals auf der Kindle-Bestseller-Liste. Seine Geschichte heißt “Das Tor in der Tiefe”.

Vielleicht erkennt man bereits an dieser Vorstellung, dass es sich bei vorliegenden Geschichten um eine Menge Spaß handelt. Vor allem jene Leser, die sich über die eher unterhaltsame Ausrichtung lovecraft’scher Welten beschweren, sollten auch hier eher nicht zugreifen, um ihre Nerven zu schonen. Doch Lovecrafts Welten sind sozusagen für alle da. Eine echte Leseempfehlung kann ich allerdings nur an die richten, die ihre Spielwelt mit reichlich Hintergrundmaterial ausstatten wollen. Das bedeutet nicht, dass die hier gebotenen Geschichten schlecht sind, aber nach dem lesen hat man sie dann doch schnell wieder vergessen. Eine Bereicherung der Spielwelt sind sie aber dennoch.

Die seltsamen Geschichten des Robert Aickman

Robert Aickman ist selbst in seinem Heimatland England ein vergessener Autor. Der 1914 geborene und 1981 an Krebs gestorbene Schriftsteller ist für Peter Straub der “tiefgründigste Verfasser” von Horrorstories des 20. Jahrhunderts. Eine Leserschaft, die ihn über den Kultstatus hinaus brachte, fand er zu seinen Lebzeiten nicht. Der  renommierte britische Verlag Faber & Faber hat das zu Aickmans Hundertsten Geburtstag 2014 geändert und veröffentlichte eine Sammlung seiner lang nicht mehr in Druck befindlichen Erzählungen.

Bei uns brachte der DuMont-Verlag zu Beginn der 1990er Jahre zwei schmale Büchlein mit willkürlich zusammengestellten Geschichten heraus und bis zum heutigen Tag galt es als ziemlich unwahrscheinlich, dass wir mehr von diesem brillanten Autor bekommen. Doch manchmal geschehen tatsächlich Wunder, und so hat sich der Festa-Verlag der Sache angenommen und bringt in 6 Bänden die Werke des englischen Genies heraus.

48 strange stories, wie er seine Geschichten selbst nannte, sind von Robert Aickman bekannt. Für seine “Pages from a Young Girl’s Journal” bekam er 1975 den World Fantasy Award.

Um Aickman zu verstehen, muss man viel Aickman lesen. Laird Barron sagte, dass dies Arbeit bedeute. Man kehrt zu seinen Geschichten zurück, sucht nach einem Zugang, einer Nahtstelle oder dem versteckten Haken. Und sobald man ihn glaubt, gefunden zu haben, wird man später, wenn man wieder zu diesen Geschichten zurückkehrt, bemerken, dass sich alles verändert und verschoben hat. Aickman ist einer jener raren Autoren, die einen Virus im Gehirn hinterlassen. Mit diesem Autor zu interagieren, bedeutet, eine Art der Quantenverschränkung zu erleben. Seine Geschichten nehmen das Unterbewusstsein und mutieren es in einer Weise wie es die Aufgabe transgressiver Literatur ist.

Aickman assistierte seinem Vater in dessen Architekturbüro, bevor er 1944 seine eigene Firma gründete. 1951 veröffentlichte er ein Buch mit Kurzgeschichten zusammen mit seiner Sekretärin Elizabeth Howard, zu dem er drei Erzählungen beitrug.

Dark Entries

1964 wurde seine erste eigene Sammlung veröffentlicht, “Dark Entries”. Zu seinen Lebzeiten erblickten weitere fünf Bände das Licht der Welt, sowie ein Roman und eine Autobiographie. Zwischen 1964 und 1972 war er als Herausgeber der ersten acht Bände der Serie “Fontana Book of Great Ghost Stories” tätig.  Posthum wurde eine letzte Sammlung, ein Roman und der zweite Teil seiner Autobiographie veröffentlicht. Seine besten strange stories wurden in dem Band “The Wine Dark Sea” (1988) und “The Unsettled Dust” (1990) veröffentlicht.

Robert Aickman; (c) R. B. Russel

Aickmans Großvater war der viktorianische Schriftsteller Richard Marsh, der 1897 seinen Besteller mit “The Beetle” hatte (dt. “Der Skarabäus”), der sogar Bram Stokers Dracula auf die Plätze verwies.

In deutscher Übersetzung ist es natürlich noch schwieriger, etwas von Aickman zu finden, aber nicht aussichtslos. So sollte man nach “Glockengeläut” sowie “Schlaflos” aus DuMonts Bibliothek des Phantastischen suchen.

Aickmann war ein kultivierter Ästhet und befasste sich mit Ängsten, die auch jene Kafkas gewesen sein könnten, in einem präzisen, etwas erhöhten Stil, als ob er hinter einem Schleier der Gelehrsamkeit stünde, von wo aus er den Leser anspricht. Aber Aickman gehörte zu einer späteren Generation und war freier, so dass er die wirbelnden Ströme der Sexualität tiefer in seine eindringliche Geschichten einarbeiten konnte. So behält auch der Titel seines Buches “Dark Entries” etwas von der finsteren Doppeldeutigkeit des Nachtaktiven und Obszönen.

In Aickmans Geschichten wird niemals die vorrangige Natur des Merkwürdigen enttarnt, das seine Figuren belauert. Zur Hälfte sind diese an ihrem eigenen Untergang mitbeteiligt, wenn sie mit schlafwandlerischer Sicherheit ins Unbekannte gezogen werden wie in einen Traum.

Aickmans ‘seltsame Geschichten’ sind Geheimnisse ohne Lösung, jede endet mit einer wehmütigen Note über unsere zweifelhaften, unzulänglichen Kenntnisse, über die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit.

Marvin Keye schrieb in seinem Vorwort zur Anthologie “Masterpieces of Terror and the Supernatural”, die er herausgab, dass er zunächst zögerte, die Geschichte “The Hospice” (dt. “Das Hospiz”) in die Sammlung aufzunehmen, weil er nicht herauszufinden im Stande war, was sie aussagen wolle.

Die exemplarische Geschichte

“Glockengeläut” beginnt dann auch mit dieser exemplarischen Geschichte. Die beiden Bände der Bibliothek des Phantastischen, die einst bei DuMont erschienen, haben wir Frank Rainer Scheck zu verdanken, und auch wenn es zu Beginn der 90er üblich war, eine Mischung aus mehreren Originalveröffentlichungen zu präsentieren – was aus heutiger Sicht ein Ärgernis ist – können wir uns glücklich schätzen, überhaupt zwei schmale Bände in Übersetzung vorliegen zu haben, zumindest bis jetzt.

“Das Hospiz” ist wohl eine von Aickmans wichtigsten Geschichten. Auf relativ wenigen Seiten legt er Fragen des Übergangs, der Identität und des Handelns auf den Tisch. Die Veränderlichkeit der Wahrnehmung, das dünne Furnier von Loyalität und Sicherheit. Aickmans Arbeit stellt oft eine wichtige These der ganzen unheimlichen Literatur vor: Das Leben ist viel seltsamer, als wir annehmen. Er fragt oft, was wissen wir eigentlich? Die Antwort kann nur immer die gleiche sein: Nichts, und möglicherweise noch weniger. Man liest diese Geschichte sechs oder sieben Mal (vielleicht auch öfter), und kommt immer noch nicht dahinter. Das aber ist genau das, was sie beabsichtigt. Die besten Geschichten sind jene, die ins Unterbewusstsein kriechen und flüstern und rätselhaft bleiben. Sie führen uns in die Dunkelheit und lassen uns dort allein. Vielleicht finden wir wieder heraus, vielleicht auch nicht. Viele Geschichten von Kafka funktionieren so, viele von Cortàzar tun es ebenfalls – und natürlich die meisten von Aickman.

Aber Aickman ist keineswegs ein Avantgardist, der krude Rätsel für seine Leser zusammenspinnt. Das Hospiz ist in einer einfachen Sprache gehalten, fast flach, mit einem Minimum an Erschütterung und Bewegung: Ein Reisender verirrt sich auf einer Straße irgendwo in den West Midlands, kommt durch eine Siedlung, die aussieht wie im 19. Jahrhundert, mit hohen Bäumen und einsamen Häusern, sieht das Hinweisschild, das gutes Essen und andere Annehmlichkeiten verspricht, außerdem hat er fast kein Benzin mehr. Zu allem Überfluss wird er auch noch von etwas, das eine Katze gewesen sein könnte, ins Bein gebissen, als er kurz aussteigt, um sich grob zu orientieren. Dieser Biss, der sich vielleicht entzünden könnte, spielt im weiteren Verlauf nur die Rolle, dass er da ist und schmerzt. Das ist die erste Irreführung der Erwartungshaltung.

Im Hospiz wird er freundlich aufgenommen und kommt gerade richtig, um am Abendessen teilzunehmen. Die Schilderungen und Geschehnisse sind immer nur knapp neben einer gewohnten und erwarteten Reaktion, einer bekannten und nachvollziehbaren Szenerie, aber sie treffen niemals das Bekannte, das jemals Erlebte. Ihm wird also das Essen in mehren Gängen serviert, die exorbitant sind, gewaltig und unbezwingbar – und damit beginnt ein merkwürdiger Reigen, der sich zwar niemals ins Groteske zieht, aber einiges aus der Atmosphäre des Theater des Absurden schöpft.

Sexualisierte Metafiktion

Ein weiteres Beispiel einer Geschichte, die ihre Kraft durch das Wiederlesen erst entfaltet, ist “Ravissante” (französisch für bezaubernd oder hinreißend). Gleichzeitig ist diese faszinierende Erzählung eine von Aickmans Ungewöhnlichsten, die durchaus ins Perverse abdriftet. Der für Aickman typische introvertierte Erzähler macht auf einer Cocktailparty die Bekanntschaft eines Malers. Ein spröder und unnahbarer Mann, in seinem Auftreten eher enttäuschend, aber ein Maler mit einer gewissen Ausdruckskraft. Seine Frau ist noch kühler und uninteressanter, nur die Karikatur einer Frau, die fast nie etwas sagt. Der Maler stirbt und hinterlässt dem Erzähler sein gesamtes künstlerisches Schaffen, von dem er nur ein Gemälde und einen Stapel Briefe und Schriften behält. Was er nicht nimmt, wird von der Witwe verbrannt. Die eigentliche Erzählung beginnt, als der Erzähler eines dieser Papiere liest, das den Aufenthalt des Malers in Belgien dokumentiert. Der Inhalt bezeugt den Besuch bei der steinalten Witwe eines symbolistischen Malers.

Es ist offensichtlich, dass dieses Haus, in dem Madame A. lebt, auf einer anderen Realitätsebene existiert. Die Witwe selbst ist herrisch, das Haus schwach beleuchtet, und die Realität scheint einen unangenehmen, fließenden oder verschwommenen Aspekt anzunehmen. Madames Ausführungen sind merkwürdig und beklemmend, und als auch noch ein geisterhafter Pudel mit Spinnenbeinen durch den Raum streift, zieht Aickman die Schrauben des Unheimlichen an. Der Aufenthalt des Malers wird von Mal zu Mal bizarrer und erreicht seinen befremdlichen Höhepunkt, als Madame ihn einlädt, die Kleidung von Crysothème, der abwesenden Stieftochter, zu berühren und zu untersuchen, indem sie ihm Befehle gibt, darauf zu knien, darauf zu treten und die Wäsche zu küssen.

Der Maler gehorcht jedem dieser unmöglichen Schritte. Diese psychosexuelle, fetischistische  Auseinandersetzung mit Chrysothèmes Kleidung gipfelt in der Einladung, eine Truhe voller Unterwäsche zu öffnen. Wiederum, sowohl von Madames Befehlen als auch von seinem eigenen Drang getrieben, gehorcht er und erklärt, dass der Duft berauschend war. Verloren in dieser Träumerei, vergisst er die Zeit, bis er bemerkt, dass ihm kalt ist und er seinen Geruchssinn verloren hat. Als er auch noch ein Bild an der Wand entdeckt, das er selbst gemalt hat, hat er genug und flieht aus dem Haus. Auf dem Weg nach draußen folgt ihm die Madame mit einer Schere und fleht ihn an, ihr eine Haarlocke als Souvenir zu geben.

Die Geschichte endet mit der Erosion des Glaubens an eine materielle Realität. Aickman listet diffuse Symbole und Manifestationen auf, die er auch in der Erzählung verwendet. Der Maler zweifelt an allem, was er bei Madame erlebt hat und ruft damit auch die Zweifel des Lesers hervor. Die mögliche Erklärung für all dies ist die klassische Freudsche Trinität von Ich, Über-Ich und Es; mehr oder weniger tritt der Maler in die Substanz seines eigenen Bewusstseins ein, wörtlich und bildlich. Das entspricht Aickmans Vorstellung von einer gelungenen Gespenstergeschichte, nämlich dass der Autor das Unterbewusstsein für poetische Zwecke nutzen sollte. Dennoch befriedigt diese Erklärung – wie bei vielen Aickman-Geschichten – nicht, oder genauer: Aickmans Geschichten gehen über dieses vereinfachte System hinaus.

Der umgekehrte Succubus

Das Thema, das sich durch “Ravissante” zieht, ist das des Künstlers, der sich von seinen eigenen kreativen Prozessen entfremdet fühlt. Der fragliche Maler glaubt, dass sein Werk von “jemand anderem” stammt. Das wäre dann ein Beispiel für Inspiration als Besitz. Betrachtet man die Geschichte unter diesem Aspekt, wird sie metafiktional. Unser Maler kommt durch einen schattigen und fleischigen ontologischen Tunnel zu einem Haus, der seinen eigenen Geist repräsentiert. Dort wird er an die Quelle seiner eigenen Inspiration herangeführt. Der Muse selbst kann er allerdings nicht persönlich begegnen. An diesem Punkt ist er von dieser Quelle auf eine ziemlich unheimliche, onanistische Weise besessen. Obwohl es sich um einen Besitz handelt, der durch gebrauchte Gegenstände vermittelt wird – nämlich durch Kleidung, die auf seltsame Art und Weise als Substitut benutzt wird – handelt es sich nach wie vor um einen fruchtbaren Besitz. Chrysothème ist nicht so sehr ein Sukkubus, der Energie entzieht, sondern – paradoxerweise – ein weiblicher Inkubus, der Energie liefert. Sie ist ein abwesender Inkubus, aber dennoch ein Inkubus.

Diese beiden Beispiele sind unvollständig in ihrer kurzen Analyse, die im Grunde nur dazu dienlich ist, sich der Faszination von Aickmans strange stories auszuliefern, die so rar auf uns gekommen sind und die mehr Aufmerksamkeit verdienen, weil sie zur Basis jeden Verständnisses über die moderne Weird Fiction gehören, ohne deren Kenntnis ein schrecklich großer Teil für immer fehlen würde.

Stephen King wird 75

Stephen King wird 75

Seit Carrie, seinem ersten Roman, stellt Stephen King eine Gewissheit auf, die ihn durch sein gesamtes Werk begleiten wird: Wahrer Horror ist in der Realität verankert. Das Übernatürliche – Telekinese, das Monströse, das Unheimliche, das Außerirdische – fungiert oft als eine Art Ruhepol in einer stets klaustrophobischen Handlung. Der wahre Horror erscheint dann in Form von Alkoholismus, häuslicher Gewalt, Ehrgeiz, Obsessionen, Trauer, religiösem Fanatismus.

Von Anfang an hatte es King darauf angelegt, den großen amerikanischen Roman zu schreiben. Das ist der Traum eines jeden Schriftstellers seit dem 19ten Jahrhundert. Daran versuchten sich Autoren wie Philip Roth, Ernest Hemingway oder William Faulkner und natürlich viele mehr. Aber es ist Stephen King, der dieses ehrgeizige Ziel wirklich erreicht hat. Der Grund ist relativ simpel: Der Horror ist das Genre, das alles Tun der Menschheit am besten erklärt.

In Kings Romanen finden wir das Grauen auf die schrecklichste Art und Weise dargestellt. Es sind jene Dinge, die ihn selbst erschrecken. Betrachtet man das von der Basis seiner Autorenschaft her, macht ihn das zum interessantesten Autor überhaupt. Nehmen wir als Vergleich Mary Shelly, die mit ihrem Frankenstein-Roman den eigentlichen Horror-Boom auslöste. Sie spricht da über den Schrecken jener Zeit, über den Fortschritt der Wissenschaft; aber das Erschreckende in diesem Roman ist nicht das grüne Monster, das im Billigkino über die Leinwand flimmerte, sondern das, was mit den Menschen geschieht. Und genau das tut Stephen King in seinem Werk, in dem er selbst auch immer präsent ist. Wenn er über Schriftsteller mit Alkoholproblemen schreibt, erkennt man immer den großen Erzähler aus Maine. In vielen seiner Geschichten. In “Misery” gibt es einen Bestseller-Autor und einen fanatischen Fan, eine ehemalige Krankenschwester, die ihn entführt. Es gibt häufig eine King-ähnliche Figur in seinen Romanen. Er schrieb einen sehr schönen Roman mit dem Titel “Lisey’s Story” (dt. “Love”), in dem wir lesen, was mit der Witwe eines Horrorschriftstellers passieren kann. Diese Witwe ist natürlich Tabitha, seine Frau. Jemand, der in seinem Werk ebenfalls sehr präsent ist.

Merkwürdigerweise wird King nach wie vor von Leuten in die Horror-Schublade gesteckt, die sehr wenig von Literatur verstehen, und wahrscheinlicher noch weniger von King selbst. Bedenkt man, dass César Aira, also jemand, der immer wieder für den Nobelpreis nominiert ist, King ins argentinische Spanisch übersetzt hat, wird diese Kluft erstaunlich offenbar.

King baut mit jedem einzelnen Roman an einem Kanon. Das gelingt ihm, weil er nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch ein großer Leser ist, ein Kulturkonsument. Er interessiert sich für Serien, Filme und Musik und referiert fleißig auf all diese Dinge. Er macht Musik, spricht über Musik, und bezieht Musik auf sehr interessante Weise in seine Erzählungen ein.

Viele seiner Geschichten drehen sich um das Erwachsenwerden. Es gibt eine Geschichte, die später verfilmt wurde und an die wir uns alle erinnern. “Stand by me” ist ein Initiationsfilm, in dem es um eine Gruppe von Jungen geht, die sich auf ein Abenteuer begeben, um die Leiche eines Toten zu suchen. Die Geschichte heißt natürlich “Die Leiche”, und darin geht es auch um eine andere, introspektive Reise. Erzählt wird sie von einem erwachsenen Schriftsteller, der sich an den Moment des Erwachsenwerdens erinnert. Im Grunde geht es um die Traurigkeit, die Unschuld zu verlieren. Stephen King ist heute 75 Jahre alt geworden und wie jeder große Geist immer noch ein Kind. In vielen seiner Bücher sind Kinder die wahren Protagonisten.

Der Phantastikon-Podcast widmet sich auch in Zukunft dem Gesamtwerk, beginnend bei Carrie, einem Roman, der über Mobbing spricht, lange bevor Mobbing überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt wurde, über religiösen Fanatismus in der Figur der Mutter, über Ignoranz und darüber, wie man aus der Norm ausbricht, die Gewalt gegenüber demjenigen erzeugt, der sich outet, der aber später so erzählt wird, als wäre das Opfer die eigentliche Gewalttätige. Alles begann 1974 mit Carrie und es ist ein unglaublicher Roman mit Rekonstruktionen von Zeitungen, Nachrichten, Fragmenten von Gerichtsakten. Das Erschreckende an dem Roman ist nicht das telepathische Mädchen, sondern alles, was sie diesem armen Mädchen antun. Er macht uns mit der Gewissheit vertraut, dass wir alle irgendwann für andere das Monster sind. Darum geht es in Kings Werken.

Ich gratuliere dem King aufs herzlichste und in jahrzehntelanger Verbundenheit

Urban Fantasy (2) – Die Geburt eines Genres

Dieser Artikel ist Teil 12 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Im vorigen Beitrag sprachen wir über die Definition der urbanen Fantasy und ihren Ursprüngen. Nun wollen wir mal sehen, wie dieses Genre entstanden ist und warum es so populär wurde.

Charles de Lint, der Pionier der urbanen Fantasy

Das allererste Werk der Urban Fantasy war wahrscheinlich der 1984 erschienene Roman “Moonheart: A Romance” von Charles de Lint. Den Begriff Urban Fantasy gab es damals allerdings noch nicht. Urban Fantasy wurde 1997 von John Clute und John Grant in ihrer Encyclopedia of Fantasy als Texte definiert,

„in denen die phantastische und die herkömmliche Welt interagieren, sich kreuzen und zu einer Geschichte verschränken, die sich signifikant um eine reale Stadt dreht.“

Ironischerweise war die Serie, die das Genre begründete, nicht in einer realen Stadt angesiedelt, sondern in einer imaginären. Newford, das von Charles de Lint erfunden wurde, stellt eine typisch amerikanische Stadt dar, mit seinen wohlhabenden Wohngebieten und Slums, seinen Stränden und Brachflächen und natürlich seinem ausgedehnten Netz von unterirdischen Tunneln. Die Newford-Serie begann mit der Kurzgeschichte “Uncle Dobbin’s Parrot Fair”, die 1987 zum ersten Mal in Isaac Asimovs Science Fiction Magazin erschien. 1993 wurden mehrere Kurzgeschichten von Charles de Lint, alle in Newford angesiedelt, von Terri Windling zusammengestellt und unter dem Titel “Dreams Underfoot” veröffentlicht.

“Dreams Underfoot” ist eine denkwürdige Lektüre. Wir treffen auf farbenfrohe Charaktere, lernen sie lieben und erforschen die Geheimnisse Newfords und ihrer Gesellschaft. Manche Geschichten grenzen an den Magischen Realismus oder den Surrealismus, zum Beispiel “Freewheeling”, wo ein Straßenkind Fahrräder klaut, um ihnen die Freiheit zu schenken. Für den Protagonisten haben selbst unbelebte Objekte eine Seele, einen eigenen Geist und verdienen es daher, frei zu sein. Ist er wahnsinnig, oder nimmt er etwas Reales wahr, eine Magie, die in weltlichen Objekten versteckt ist? Wir werden es nie erfahren. Während des gesamten Buches verflechten sich Realität, Mythos und Magie so eng miteinander, dass es manchmal unmöglich ist zu sagen, was real und was eingebildet ist. Ob die Magie echt ist oder nicht, ändert aber nichts an der Bedeutung der Geschichten. Wichtig ist, woran die Menschen glauben. Das ist die Theorie der einvernehmlichen Realität: Dinge existieren, weil wir wollen, dass sie existieren.

“Dreams Underfoot” wurde mit Werken literarischer Fantasy wie “Little, Big” (1981) von John Crowley und Mark Helprins “Wintermärchen” (1983) verglichen. In Übersetzung liegt kaum etwas von de Lint vor und schon gar nicht seine wichtigsten Werke.

Sex, das Übersinnliche und Rock and Roll!

Einige würden sagen, dass der erste urbane Fantasy-Roman “War for the Oaks” (1987) von Emma Bull war. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem zustimme, aber lasst uns über dieses Buch reden. Es erzählt die Geschichte von Eddi McCandry, einer jungen Sängerin, die in Minneapolis lebt. Sie hat einen schlechten Tag, oder besser gesagt, eine schlechte Nacht. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt und verließ seine Band, und später begegnet sie einem finsteren Mann und einem riesigen Hund. Die beiden Geschöpfe sind ein und dasselbe: ein Phouka, ein Feenwesen, das Eddi zum Bauernopfer im jahrhundertealten Krieg zwischen den Höfen von Seelies und Unseelies auserkoren hat.

“War for the Oaks” ist nicht der passendste Titel für diesen Roman, da der Krieg der Feenhöfe nicht im Mittelpunkt der Geschichte steht. Rockmusik schon. Ein guter Titel für dieses Buch wäre “Eddi and the Fey “(der Name von Eddis Band) oder noch besser “Sex & Fey & Rock & Roll!” Emma Bull war Musikerin; sie spielte Gitarre und sang bei den Flash Girls, einem Goth-Folk-Duo, und war Mitglied von Cats Laughing, einer psychedelischen Folk-Jazz-Band. Zweifellos hat ihre Leidenschaft für die Musik den Krieg um die Eichen inspiriert.

Dieser Roman würde eher als paranormale Romanze denn als urbane Fantasy durchgehen. Die Handlung dreht sich um Eddi und ihr Liebesleben (und ihr Sexualleben, obwohl es keine expliziten Sexszenen gibt). Es gibt sogar eine Dreiecksbeziehung zwischen Eddi und zwei übernatürlichen Wesen, ein Erzählmuster, das später zu einem Markenzeichen paranormaler Romantik werden wird.

Insgesamt gibt es in diesem Buch nicht viel Action. Das meiste davon (vor allem der mittlere Teil) ist gefüllt mit Dialogen zwischen Eddi und dem Phouka oder anderen Mitgliedern ihrer Band. Obwohl es einige gute Ideen enthält, werden sie in diesem Roman nicht ausgenutzt. Auf der positiven Seite ist der Schreibstil begeisternd, und die Geschichte ist sehr einfallsreich, aber die Charaktere sind klischeehaft (der Preis des Tapferen, die edle Königin, die böse Hexe, usw.). Der Phouka ist eine Ausnahme, da er subtiler zu sein scheint als die anderen.

Ich erwähnte dieses Buch aus historischen Gründen, weil es die Voraussetzungen für jene erfolgreicheren Romane und Serien schafft, die urbane Fantasy mit paranormaler Romantik verbinden.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch Bedlam’s Bard (1998) von Mercedes Lackey, das Ähnlichkeiten mit dem Krieg um die Eichen hat. Auch hier handelt es sich um eine Geschichte über Musik und Elfen in einer zeitgenössischen Umgebung. Es ist interessant zu sehen, wie urbane Fantasy-Autoren Folk- und Rockmusik in ihre Erzählungen integriert haben. Charles de Lint erzählt in seinen Geschichten oft von Musik, und das ist kein Zufall. In den 70er Jahren beeinflusste die Fantasy- und Horrorliteratur die Populärmusik in hohem Maße, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass die Musik in den 80er und 90er Jahren sozusagen diese Gunst erwiderte, indem sie eine neue Generation von Fantasy-Geschichten inspirierte. Dieses riesige Thema verdient allerdings einen gesonderten Beitrag; denn nun wollen wir wieder zur Sache kommen und über Vampire sprechen!

Hier sind Vampire!

Heute sind Vampire aus der urbanen Fantasy nicht mehr wegzudenken. Sie sind überall. Anfang der 90er Jahre war dies jedoch nicht der Fall. Der Roman, der Vampire in die urbane Fantasy einführte, war 1993 “Bittersüße Tode” von Laurell K. Hamilton, der erste Teil der Anita Blake-Serie.

Wie ich bereits im Artikel über die Ursprünge der urbanen Fantasy erwähnt habe, ist es schwierig, die Grenzen zwischen Vampir-Fantasy (einem Subgenre der Horrorliteratur) und urbaner Fantasy zu ziehen. Meiner Meinung nach besteht der Unterschied zwischen Horror und Fantasy darin, dass ersteres eher introvertiert und letzteres eher extrovertiert ist. Horrorliteratur konzentriert sich oft auf das, was die Charaktere fühlen, mit einem Schwerpunkt auf starke negative Emotionen wie Ärger, Angst, Trauer, etc.. Fantasy stützt sich mehr auf den Sinn für das Wunder, und beinhaltet in der Regel einen umfangreichen Weltenbau, um diese Wirkung zu erzielen. Das ist keineswegs eine absolute Regel, aber sie gilt doch recht häufig.

“Bittersüße Tode” ist schwer zu kategorisieren, da es sich gleichermaßen an Horror-, Thriller- und Fantasy-Genres anlehnt. Der Roman spielt in einer Welt, in der Vampire den Lebenden ihre Existenz offenbarten. Wie zu erwarten war, sorgte eine solche Offenbarung für Aufregung, wenn nicht gar Panik. Schließlich sind Vampire für Menschen keine Opfer. Was sollte also der rechtliche Status eines Vampirs in unserer Gesellschaft sein? Sollten sie die gleichen Rechte wie die Lebenden haben?

Die Autorin überspringt gerne die sozialen und rechtlichen Aspekte dieses Problems, um sich auf die Handlung zu konzentrieren. Anita Blake hat einen ungewöhnlichen Beruf: Sie ist Animatorin und arbeitet für die Polizei. Sie erweckt die Toten, damit die Polizei sie verhören kann. Praktisch für die Polizei, nicht wahr? Ihre Hauptzeugen sind tot? Keine Sorge, Anita Blake wird sie für Sie wiederbeleben!

Ihr anderer Job ist noch gefährlicher: Sie richtet Vampire hin. Wenn sie einen Gerichtsbeschluss zur Hinrichtung hat, kann sie einen Vampir in aller Legalität töten. Wenn sie keinen Gerichtsbeschluss hat … Nun, sie tötet diese Blutsauger sowieso. Nicht alle Vampire werden im Roman als blutrünstige Monster dargestellt, aber es wird angedeutet, dass die meisten von ihnen genau das sind. Wir sind nicht weit von der TV-Serie Buffy – Im Bann der Dämonen (1997-2003) entfernt. Kurz gesagt, Anita Blake ist eine selbsternannte Agentin 007 mit einer Lizenz zum Töten, und sie benutzt diese Lizenz recht großzügig und eliminiert die bösen Jungs, ob sie nun leben oder untot sind. Mit „Jungs“ meine ich sowohl Männer als auch Frauen, denn der Hauptschurke des Romans ist ein weiblicher Vampir. Kein Sexismus hier.

“Bittersüße Tode” ist ein Roman, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite beschäftigt. Hamilton zeichnet sich durch die Kunst aus, Spannung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Ihr Stil ist voller starker Empfindungen. Es wäre jedoch unfair zu sagen, dass der Roman nur sensationslüstern ist. Unter einer relativ flachen Vampirjägergeschichte kann man einige interessante Beobachtungen über die menschliche Psychologie ausmachen.

Hamilton ist wahrscheinlich die erste urbane Fantasy-Autorin, die sich in das Reich der weiblichen Fantasien vorwagt. Im folgenden Jahrzehnt werden wir vielen Schriftsteller/innen auf diesem Weg folgen. Diese Fantasien sind nicht so unschuldig, wie es sich männliche Autoren vielleicht vorgestellt haben. Zum Beispiel werden viele Frauen von Männern mit starken Persönlichkeiten angezogen. Das wussten wir spätestens seit Byron und seinen Gedichten über charismatische, aber gefährliche Männer. Seit Anfang der 40er Jahre beschäftigt sich das Kino mit diesem Thema. Gefahr und Romantik – eine gewinnbringende Kombination! Humphrey Bogarts Verkörperungen mögen hart, manchmal sogar gefährlich gewesen sein, aber keine von ihnen konnte sich in Raffinesse und Wildheit mit Anne Rices Lestat oder Hamiltons Jean-Claude messen.

Raffinesse, Wildheit und Sexappeal – das ist die siegreiche Kombination für einen Vampir in einem urbanen Fantasy-Roman. Hamilton verstand das und stellte Vampire als die Verkörperung der tiefsten weiblichen Wünsche dar. Obwohl diese Ansicht zunächst schockierend erscheinen kann, ist sie angesichts der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse überraschend aufschlussreich. (Für wissenschaftliche Informationen zu diesem Thema empfehle ich das Handbuch der Evolutionären Psychologie von D. M. Buss. Siehe insbesondere das Kapitel Sexuelle Interessen von Frauen über den gesamten Ovulationszyklus hinweg: Funktion und Phylogenie von S. W. Gangestad, R. Thornhill und C. E. Garver-Apgar.)

Sprechen wir nun über einen anderen urbanen Fantasy-Autor, der das Genre mitgestaltet hat. Er braucht keine besondere Vorstellung; meine Damen und Herren, hier ist Neil Gaiman!

Niemalsland von Neil Gaiman

“Niemalsland” begann als Fernsehserie, die erstmals 1996 auf BBC Two ausgestrahlt wurde. Sie wurde von Neil Gaiman und Lenny Henry geschrieben und von Dewi Humphreys inszeniert. Im selben Jahr adaptierte Gaiman die Serie zu einem Roman. Und was für ein einflussreicher Roman das war!

Niemalsland ist eine Parallelwelt, die neben der unseren existiert, aber normalerweise von uns nicht gesehen werden kann. Manchmal fallen Menschen aus unerklärlichen Gründen „durch die Ritzen“ und werden Teil dieses unsichtbaren Universums. Gaiman benutzt dies als Metapher für soziale Ausgrenzung; diese Menschen sind nicht mehr Teil der zivilisierten Gesellschaft, verloren alles, was sie besaßen, sind obdachlos und müssen den rücksichtslosen Regeln der Unterwelt gehorchen. Doch so grimmig dieser Ort auch erscheint, er ist voller Abenteuer und Magie, was ihn für eine romantische Seele attraktiver macht als unsere scheinbar sichere und berechenbare technologische Welt.

Es gibt keine Vampire oder Werwölfe in Niemalsland, aber es gibt alle möglichen fantastischen Kreaturen, einige von ihnen sind dabei fremdartiger als andere. In diesem Roman entdeckt der Protagonist die Existenz eines unsichtbaren London, eines unterirdischen London. Hinter jeder Londoner U-Bahn-Station verbirgt sich eine geheime Welt, die an die mittelalterliche Vergangenheit der Stadt erinnert. Es gibt ein Kloster unter Blackfriars, am Earl’s Court lebt ein echter Graf mit seinem Hof, und unter Angel versteckt sich … na ja, ein Engel! Interessanterweise gibt es in Niemalsland keine paranormale Romanze, nicht einmal einen Hinweis darauf – das ist urbane Fantasy in ihrer reinsten Form.

Ich glaube, Niemalsland ist einer der besten urbanen Fantasy-Romane überhaupt. Witzig, fantasievoll, aber auch zum Nachdenken anregend – so sollte das Genre sein. Im Mittelpunkt einer urbanen Fantasy-Geschichte sollte die Stadt stehen, das urbane Leben mit seinen Gegensätzen und Paradoxien.

Urbane Fantasy mag ein eskapistisches Genre sein, aber dies ist ein zweideutiger Eskapismus, der uns immer wieder in die Realität zurückführt. In Niemalsland wird dieser zweideutige Eskapismus durch die Konflikte, die der Protagonist im oberen und auch im unterirdischen London hat, aufgezeigt. Ersteres repräsentiert die Realität, zweites die Fantasie.

Gaiman produzierte weitere bemerkenswerte Werke, insbesondere die Comic-Serie “Sandman” und den Roman “American Gods” (2001), für die er mehrere Preise erhielt, darunter Hugo, Nebula, Locus und Bram Stoker Awards.

Im nächsten Beitrag zur urbanen Fantasy werden wir über die Entwicklung des Genres im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sprechen, beginnend mit Jim Butcher und Kelley Armstrong.

Raymond Chandler: Der große Schlaf

Zum 80-jährigen Jubiläum begann der Diogenes-Verlag 2019 die Raymond Chandlers Klassiker in einer neuen Übersetzung herauszugeben. Nachdem ich mir das Buch einmal angesehen hatte, das von Frank Heibert neu übersetzt wurde, tendiere ich doch eindeutig zu der Übersetzung von Gunar Ortlepp, die 1974 erschien.

Raymond Chandler sagte einmal, er sei der erste gewesen, der auf realistische Weise über Los Angeles geschrieben habe. Um über einen Ort zu schreiben, sagte er, müsse man ihn lieben oder hassen, oder beides, abwechselnd, so wie man eine Frau liebt. Leere und Langeweile waren zwecklos. L. A. hat ihn nie gelangweilt. Er fand es vielleicht banal, aber niemals leer. Er liebte es (als er 1912 ankam) und hasste es (als er 1946 abreiste), bis es schließlich, wie er sagte, für ihn eine müde alte Hure geworden war. Er hat diese Stadt besser als jeder andere verstanden, ihren Rhythmus und ihre Grobheit, ihre Tankstellen, die verschwenderisch mit Licht gefüllt sind, die Häuser in den Schluchten, die in der Schwärze hängen, den Geruch der Luft, das Gefühl der Winde, den Puls des Ortes, weshalb seine Romane zu keiner Zeit veraltet wirken: Er hat die Essenz der Stadt eingefangen, nicht nur ihre zeitliche Oberfläche.

Der große Schlaf

Mit Philip Marlowe schuf er ein individuelles Gewissen, das so stark war, dass es durch nichts korrumpiert werden konnte. Weder Geld, noch Frauen, noch Macht oder Prestige. Mit seiner Kombination aus englischem und amerikanischem Hintergrund verknüpfte Chandler die Mythen des weißen Ritters und des amerikanischen Cowboys und schuf so einen Mann mit einem beängstigenden Moralkodex, der zufällig auch eine der einsamsten Figuren der gesamten amerikanischen Literatur war, ein Mann ohne Freunde, ohne Familie, ohne Haustiere, ohne Vergangenheit, ohne wirkliche Zukunft und, wie es scheint, ohne Wünsche außer der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und einem gelegentlichen Verlangen nach einer Blondine, obwohl Frauen Marlowe nicht wirklich interessierten. Im Großen und Ganzen war er für sie unerreichbar. Chandler verstand, wie die Einsamkeit zu unserer neuen modernen Krankheit wurde, zum Zustand einer ganzen Kultur. Sie ist die Quelle eines Großteils der kontrollierten, halb poetischen Emotionen, die Marlowe und jeder Geschichte von Chandler zugrunde liegen.

Philip Marlowe ist eine der großen Figuren des angloamerikanischen Romans, ein Protagonist, der mit Sherlock Holmes konkurriert und ihn für manche sogar übertrifft. Marlowe ist der Schlüssel für die anhaltende Anziehungskraft dieses ersten Romans und der sechs folgenden. 1951 sagte Chandler zu seinem Verleger:

“Es sieht so aus, als wäre ich ein Leben lang an diesen Mann gebunden”.

Chandler glaubte gern, dass er und Marlowe viel gemeinsam hätten. In mancher Hinsicht war das so, in anderen Punkten nicht. Marlowe war der vollendete Junggeselle, während Chandler an seine Mutter gebunden war, die er verehrte, und später an seine ältere Frau, die er anbetete und auf ein Podest stellte.

Die Wahrheit ist, dass sowohl er als auch sein Privatdetektiv ein Rätsel waren. Marlowe, so sagte er, besaß eine Unschuld, die fast unreif wirken konnte, wenn man den Aufstand gegen eine korrupte Gesellschaft als unreif bezeichnen kann. Er wusste, dass, wenn es eine Hoffnung für die Zukunft gab, sie auf dem Individuum ruhte, dem Mann (oder der Frau), der/die für sich selbst denkt und keine Befehle von oben annimmt.

Es ist schwer zu ermessen, wie radikal „Der große Schlaf“ (The Big Sleep) 1939 der Öffentlichkeit erschien, mit seiner Darstellung einer Welt voller „moralischer Defekte“, wie sehr diese „Studie der Verderbtheit“ verstörte, die von Pornographen und homosexuellen Erpressern, Mafiosi, korrupten Polizisten und reichen Mädchen bevölkert war, die nackt für Drogen posierten, von bösartigen Töchtern, die aus Rachsucht töteten, und von Gangstern, die Politiker kontrollierten. Der Roman schildert ein räuberisches Amerika in der Mitte des Jahrhunderts, in dem das Kaufen und Ausgeben, das Feilschen und Drängen, die Korruption und die Gier und all die miesen kleinen Geheimnisse unter der schnoddrigen, rüden Oberfläche der Stadt den Tod des viktorianischen Schönheitsideals bedeuteten. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Chandler sowohl ein englisch-viktorianischer als auch ein kalifornisch-amerikanischer Schriftsteller war.

Der Titel – “The Big Sleep” – bezieht sich auf einen Euphemismus für den Tod. Marlowe wird in das Haus des alten Generals Sternwood gerufen, dessen wilde Tochter Carmen von einem zwielichtigen Buchhändler erpresst wird. Die Handlung, die für ihre Komplexität berüchtigt ist, führt bald in eine Welt der Pornografie, des Glücksspiels und des zwielichtigen Hollywoods. Sie ist nicht makellos, und es gibt einige lose Enden. Als Howard Hawks den Roman verfilmte, fragte er: “Wer hat den Chauffeur umgebracht?”, und Chandler antwortete, er habe keine Ahnung. Für ihn war die Handlung immer dem Charakter, der Stimmung und der Atmosphäre untergeordnet.

Seine erste Detektivgeschichte veröffentlichte Chandler Ende 1933 im Magain “Black Mask”.

Zwischen diesen Anfängen und 1938, als er begann, The Big Sleep zu schreiben, schrieb er 21 Black-Mask-Geschichten, in denen er die Qualitäten seines späteren Werks entwickelte und verfeinerte. In den frühen Geschichten finden sich mehrere Marlowe-Prototypen, Schauplätze in Los Angeles, gute und böse Cops, gemischt mit dem üblichen Krimicocktail aus Gewalt, Drogen, Sex und Schnaps.

Als er “The Big Sleep” schrieb, “kannibalisierte” Chandler (so seine eigene Beschreibung) seine Geschichten. Die zentrale Handlung des Romans stammt aus zwei Geschichten, “Mord im Regen” (veröffentlicht 1935) und “Der Vorhang” (veröffentlicht 1936). Beide Geschichten standen für sich allein und hatten keine gemeinsamen Figuren, aber sie hatten Ähnlichkeiten. In beiden gibt es einen starken Vater, der von seiner wilden Tochter bedrängt wird. Chandler verschmolz die beiden Väter zu einer neuen Figur und tat dasselbe mit den beiden Töchtern der Geschichten. Es gibt auch noch andere Quellen. Wie Carmen Sternwood hatte seine eigene, sehr geliebte Frau Cissy als junge Frau nackt posiert und wie Carmen Opium genommen. Marlowes Alkoholprobleme spiegeln Chandlers eigene latente Alkoholsucht wider. In praktisch jeder Szene eines Chandler-Romans zündet sich jemand eine Zigarette an oder trinkt einen Schluck.

Chandler hat in seinen Büchern keine Wohlfühlwelt geschaffen. Er ließ es zu, dass man sich unglücklich gegenüber der Gesellschaft fühlte, zu der man schließlich ebenfalls gehörte. Er erlebte das Aufkommen des Fernsehens und der Massenwerbung: Das Fernsehen hatte seiner Meinung nach Potential, obwohl es eine solche Passivität erzeugte, dass man beim Zuschauen wie im Urschlamm versank, während die Werbung ein ausgeklügelter Betrug war, eine Verschwendung menschlicher Intelligenz, ein Betrug an der Öffentlichkeit, eine von Natur aus unehrliche Tätigkeit, die ihn garantiert dazu brachte, jedes Produkt zu hassen, das angepriesen wurde. Auch die neue Konsumkultur nach dem Zweiten Weltkrieg gefiel ihm nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass das komplett geflieste Badezimmer zum neuen Standard der Zivilisation geworden war. Besonders hasste er die Idee der eingebauten Obsoleszenz – ein Begriff, der leider kaum noch in den Mund genommen wird.

„Egal, wie man lebt, am Ende stirbt man allein, wie ein Hund in der Gosse“, schrieb er an seine ehemalige Sekretärin Dorothy Fisher, nicht lange nach Cissys Tod. Das ist eine harte Aussage von einem Mann, der im Herzen ein Romantiker war. Leider hat sie sich für ihn bewahrheitet. Und doch lebt sein Werk weiter – diese sieben bemerkenswerten Romane und etwa zwei Dutzend Erzählungen, mit denen man sich so köstlich amüsieren kann. Der aufmerksame Leser kann noch viel mehr finden. Viele Schriftsteller kommen und gehen, aber Chandler ist einer von denen, die für immer bleiben werden.

Der Thriller – Die reine Sensation

Das uns allen vertraute Genre des Thrillers zeichnet sich durch seine Ungewissheit und die ständige Erregung der Sinne aus, die zusammen ein gemischtes Gefühl von Beklemmung und Verwunderung erzeugen, durchsetzt mit Furcht und sogar Angst. Diese Bandbreite an Gefühlen und Erfahrungen wird durch eine unvorhersehbare Handlung erreicht, bei der der Leser (oder Zuschauer) die Folgen eines Ereignisses abschätzt. In der Regel steigert sich die Spannung in einem Thriller, sobald sich die Geschichte dem Höhepunkt nähert, gefolgt von einem unvergesslichen Ende.

Dank der nervenaufreibenden Elemente wie Spannung und Verbrechen, Verschwörung und Rache gehört der Thriller seit jeher zu den kreativen Genres (das betrifft nicht nur die Literatur), die die Aufmerksamkeit des Publikums über viele Jahrhunderte hinweg fesselten. Bei der Erwähnung des Wortes Thriller denken viele wahrscheinlich an Alfred Hitchcock und seine herausragenden Filme, zum Beispiel “Psycho”. Die Geschichte des Genres reicht jedoch weit in die Antike zurück.

Der Begriff “Thriller”

Wenn wir uns zunächst die Herkunft des Wortes “Thriller” ansehen, dann stoßen wir bereits im frühen 14. Jahrhundert auf das altenglische Wort þyrlian, das “durchlöchern” “oder durchstechen” bedeutet. Der Begriff þyrel bedeutete im Mittelenglischen etwa “Nasenloch”. Und dann gibt es noch den Begriff þurh, der “durch” bedeutet, vergleichbar dem mittelhochdeutschen “dürchel”, der ebenfalls “durchbohrt” oder “durchlöchert” bedeutet. Der Begriff “ein zitterndes, erregendes Gefühl geben” ist erstmals in den 1590er Jahren mit dieser Bedeutung belegt, und der Hintergrund ist die metaphorische Vorstellung davon, etwas “mit Gefühl zu durchdringen”.

In erster Linie ist dieses Genre also für das erzeugen emotionaler Intensität bekannt. Das Fehlen von Informationen, die erzeugte Angst, das Geheimnisvolle – all das ist in diesem Genre vorhanden. Die Hauptfigur hat eine schwierige Aufgabe zu erfüllen, die eine heldenhafte Anstrengung oder ein Opfer erfordert, um sie zu vollenden.

Die Spannung kann im Laufe des Buches zunehmen oder den Leser von der ersten Seite an ergreifen. In jedem Fall muss das Werk die meiste Zeit über spannend bleiben. Aber das Hauptmerkmal eines jeden Thrillers ist seine Intensität, die den Leser buchstäblich zu einem wahren Reiten auf den Wellen der Intrigen und Leidenschaften veranlasst.

Oft ist das Versprechen eines ausgezeichneten Thrillers nicht nur das hohe Können des Autors, sondern auch eine gründliche Recherche des Themas und eine verwickelte und fesselnde Handlung, die direkt im Wort selbst steckt: es soll ein zittern und beben im Leser ausgelöst werden.

Dies kann im Grunde als Hauptziel des Thrillers angesehen werden. Darüber hinaus liefert der Thriller aber auch oft recht detaillierte Informationen über sein eigenes Setting, zum Beispiel über das Rechtssystem, das medizinische System, die Geschichte der Spionage usw. Es gibt also Autoren, die auf der Grundlage ihrer medizinischen oder militärischen Erfahrung Romane mit einem komplizierten und faszinierenden Plot erschaffen.

Ein Thriller ist kein Krimi

Sehr oft werden Krimis mit Thrillern verwechselt, aber es gibt einen offensichtlichen Unterschied zwischen diesen beiden Genres. In Krimis stößt die Hauptfigur auf ein Rätsel (z. B. einen Mord) und muss Hinweise finden, um die Lösung zu finden. Im Thriller wird die Hauptfigur mit einer schrecklichen Situation konfrontiert (eine drohende Katastrophe, Serienmörder, unbekannte Viren usw.), deren Lösung in der Entwicklung neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten besteht.

Im Thriller liegen alle Hinweise auf der Hand, so dass der Leser eher steile Wendungen der Handlung erwartet als ungewöhnliche Antworten auf Fragen. Thriller berühren die Gefühle des Publikums in erheblichem Maße, während Detektive die Verbindung mit der intellektuellen Seite des Falles erfordern.

Thriller zeichnen sich durch Spannung aus – ein Gefühl von angenehmer Faszination und Aufregung über das, was als Nächstes kommt, gemischt mit Befürchtungen, Vorfreude und eben manchmal sogar Angst. Diese Gefühle entwickeln sich im Laufe einer Erzählung aus unvorhersehbaren Ereignissen, die den Leser oder Zuschauer dazu bringen, über die Konsequenzen der Handlungen bestimmter Figuren nachzudenken. Die spannungsgeladenen Gefühle steuern auf einen Höhepunkt zu, der mit Sicherheit in Erinnerung bleiben wird.

Dabei ist das Genre keineswegs ein modernes.

Die Evolution der Thriller

Die Odyssee von Homer gilt als einer der frühesten Prototypen des Genres und verwendet ähnliche Techniken wie die modernen Thriller von heute. Der Held dieses Epos, Odysseus, macht sich auf die Heimreise zu seiner Frau Penelope und muss dabei außergewöhnliche Strapazen und Prüfungen bestehen. Er kämpft mit Zyklopen, einem einäugigen Riesen, und den Sirenen, die Seeleute in den Tod singen, während er auf seiner Heimreise aus dem Trojanischen Krieg mit dem Meer selbst kämpft. Diese Begegnungen erzeugen allesamt Spannung und lassen den Leser mit der Frage zurück, ob Odysseus es jemals nach Hause schaffen wird, und wenn ja, wie er es schaffen wird.

Rotkäppchen ist ein frühes Beispiel für das Psycho-Stalker-Thema.

Eine häufige Konvention des Genres ist die Psycho-Stalker-Geschichte. Rotkäppchen ist ein frühes Beispiel für das Psycho-Stalker-Thema. Dieses europäische Märchen lässt sich bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen und erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, das durch den Wald geht, um seiner kranken Großmutter Essen zu bringen. Sie begegnet einem Wolf, in manchen Versionen dem “Großen Bösen Wolf”, und sagt ihm, wohin sie geht. Er kommt ihr zuvor, frisst die Großmutter und wartet verkleidet als eben diese Großmutter auf das Mädchen, während sich der Leser fragt, ob das kleine Mädchen einen solch bösen Feind überleben wird.

Im 19. Jahrhundert wurden den Gebrüdern Grimm zwei verschiedene deutsche Versionen dieses Märchens vorgelegt, und sie haben es dann in die heute geläufige Geschichte verwandelten, über die es unzählige Analysen gibt.

Das Aufkommen des Rachekrimis

Der 1844 von Alexandre Dumas geschriebene Graf von Monte Cristo ist ein gewagter und abenteuerlicher Rachethriller über einen Mann namens Edmond Dantès, der von seinen Freunden verraten wird und zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Dort trifft er auf einen alten Mann, der ihm alles beibringt und ihm das Versteck eines großen Schatzes verrät. Edmond erwirbt dieses Vermögen und rächt sich an denen, die sein Leben zerstört und ihn eingesperrt haben. Dieser Literaturklassiker nimmt die Leser mit auf ein gefährliches und spannendes Abenteuer, das Edmonds Suche nach Rache, Zufriedenheit und schließlich Frieden begleitet.

Das Kernstück eines guten Thrillers war aber von Anfang an die Psychologie. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass der Psychothriller neben dem Spionage- oder Agententhriller und dem Horror-Thriller das Zentrum des Genres bildet.

Der Psychothriller

Wie viele andere revolutionäre Konzepte wie den Schauerroman oder den Krimi, der sich daraus ergeben hat, haben wir auch den Psychothriller den Viktorianern zu verdanken.

Der Monddiamant wird oft als der erste Detektivroman überhaupt angesehen (was er aber nicht ist). Hier die Ausgabe bei dtv.

Wilkie Collins ist der heute wenig bekannte Erfinder der Idee des psychologischen Thrillers. Obwohl er weniger bekannt ist als Dickens oder die Brontë-Schwestern, kann man diesen viktorianischen Innovator als einen der einflussreichsten Romanautoren seiner Zeit bezeichnen.

In den 1860er Jahren veröffentlichte Collins vier Romane, die oft als “Sensationsromane” bezeichnet werden: “Die Frau in Weiß”, “Die Namenlosen”, “Der rote Schal” und “Der Monddiamant” – Romane, die zur Zeit ihres Erscheinens sehr populär waren und das viktorianische Publikum mit ihren düsteren Rätseln, die an gewöhnlichen und vertrauten Schauplätzen spielten, in Erstaunen und Schrecken versetzten.

In diesen großartigen Romanen erfand Collins eine Reihe von erzählerischen Tricks und Methoden, auf die Krimiautoren noch heute zurückgreifen. Ein solches Element ist die Idee, dass die Hauptfiguren sich nicht auf ihre eigenen Erinnerungen verlassen oder ihnen zumindest nicht trauen können – und dass sie nicht wissen, ob sie tatsächlich für ein Verbrechen verantwortlich sind. Dieses Konzept des “unzuverlässigen Erzählers” ist heute in der Ich-Erzählung eines Thrillers gang und gäbe, wie in Girl On The Train von Paula Hawkins, mit der Erzählerin Rachel, die unter alkoholbedingtem Gedächtnisverlust leidet.

In Collins’ Roman “Der Monddiamant” ist es das Opium, das für diese Idee der Unzuverlässigkeit sorgt – etwas, das Collins’ enger Freund Charles Dickens so faszinierend fand, dass er dessen Einflüsse in seinen eigenen unvollendeten psychologischen Thriller “Das Geheimnis des Edwin Drood” aufnahm. Der Monddiamant wird oft als der erste Detektivroman überhaupt angesehen, in dem ein unbezahlbarer Mondstein-Diamant gestohlen wird, was zu Anschuldigungen und Verdächtigungen gegen alle Figuren führt. Collins erlebte die Opiumsucht am eigenen Leib und verlieh den Auswirkungen auf seine Erzähler eine realistische Ebene.

Unzuverlässige Erzähler im Thriller

Collins entwickelte auch das immer bekannter werdende Mittel mehrerer Erzähler, die ihre eigene Perspektive präsentieren – einige von ihnen können Personen sein, von denen wir (die Leser) selbst entscheiden müssen, ob wir ihnen vertrauen oder nicht. Im Vorwort zu “Der Monddiamant” drückt Collins diesen revolutionären Schritt in seinen eigenen Worten aus:

“In diesem Roman wird ein Experiment versucht, das (soweit ich weiß) bisher in der Belletristik noch nicht versucht worden ist. Die Geschichte des Buches wird durchgehend von den Figuren des Buches erzählt.”

Das Fehlen eines allwissenden Erzählers versetzt den Leser in eine unangenehme Lage, in der die Erzähler, auf die wir uns verlassen, in Wirklichkeit der Mörder sein könnten, den wir gerne gefasst hätten. Wie in “Gone Girl”, wo die abwechselnden Erzählungen von Nick und Amy dazu dienen, widersprüchliche Standpunkte darzustellen, hält diese Technik den Leser im Ungewissen und lässt ihn die Legitimität der einzelnen Figuren in Frage stellen. Dies hat einen großen Anteil an der fesselnden Lektüre, die wir uns von Psychothrillern erwarten. Auf diese Weise leistete Collins Pionierarbeit für das, was ein früher, aber kluger Kritiker als die Fähigkeit bezeichnete, “sein Publikum in Unbehagen zu versetzen, ohne ihm den Grund dafür zu verraten”.

Seine Bücher besitzen eine Lebendigkeit, die im modernen psychologischen Thriller weiterlebt.

Thriller lassen sich in viele verschiedene Untergenres und Kategorien einteilen, und wir haben hier nur an der Oberfläche gekratzt. Das Genre hat sich im Laufe der Jahre an vielen verschiedenen Orten und in viele verschiedene Settings aufgeteilt. Im Großen und Ganzen hat es James Patterson am besten ausgedrückt, als er in seinem 2016 erschienenen Buch “Thriller: Stories to Keep You Up All Night” sagte:

“Thriller bieten ein so reichhaltiges literarisches Festmahl … diese Offenheit für Erweiterungen ist eine der beständigsten Eigenschaften des Genres. Was bei aller Vielfalt der Thriller jedoch allen gemeinsam ist, ist die Intensität der Gefühle, die sie hervorrufen, insbesondere die der Beklemmung und des Hochgefühls, der Aufregung und der Atemlosigkeit, die alle darauf abzielen, den so wichtigen Nervenkitzel zu erzeugen. Wenn ein Thriller nicht spannend ist, erfüllt er per definitionem nicht seine Aufgabe.”


James Patterson: Thriller – Stories To Keep You Up All Night (Zitat übersetzt von Michael Perkampus).

Robert Arthur: Die drei Fragezeichen

Im Grunde gibt es zwei aus Amerika stammende popkulturelle Phänomene, die allerdings erst in Deutschland so richtig zur Geltung kamen. Es scheint so, als hätte es die amerikanische Initialzündung zwar gebraucht, mehr aber auch nicht, denn ihr eigentliches Zuhause war hier bei uns. Man könnte jetzt natürlich noch ein drittes Phänomen hinzufügen, und das sind die Edgar-Wallace-Filme, die eine Aneignung des englischen Krimis betrifft, aber das ist eine gänzlich andere Geschichte.

Bei den beiden angesprochenen Phänomenen handelt es sich einmal um Donald Duck, gezeichnet von Carl Barks und übersetzt von Erika Fuchs, und natürlich um die drei Fragezeichen, um die es hier heute gehen soll.

Es gibt wohl kaum einen Hörer oder Leser, dem die drei Fragezeichen kein Begriff sind. Gerade die sogenannten Kassettenkinder, die heute schon etwas älter sind, verbindet eine ungeheure Treue mit den berühmten Hörspielen von Europa, die seit 1979 laufen. Natürlich ist es nicht so, dass die Serie nur bei uns bekannt wäre, aber irgendwie scheint es, dass Robert Arthur sie hauptsächlich für uns erfunden hätte, aber das wusste er natürlich nicht; und erfahren würde er es ohnehin nicht, denn er starb im Jahre 1969. Zu diesem Zeitpunkt hatte er elf Bücher der Serie geschrieben und Dennis Lynds, der insgesamt 14 Bände unter dem Pseudonym William Arden beisteuerte, zwei weitere.

Auch wenn Robert Arthur Hunderte von Kurzgeschichten für zahlreiche Pulp-Magazine geschrieben hatte, die in den 30er, 40er und 50er Jahren florierten, ist er doch hauptsächlich für seine drei jugendlichen Detektive bekannt.

Arthur arbeitete in den 1940er Jahren und bis in die frühen 1950er Jahre hinein hauptsächlich für das Radio und schrieb Hunderte von Drehbüchern. Im Jahr 1959 zog er nach Hollywood, um sich als Drehbuchautor für Fernsehsendungen wie “Alfred Hitchcock Presents” und Boris Karloffs “Thriller” zu versuchen. Seine Verbindung zu Alfred Hitchcock führte zu einer Zusammenarbeit mit Random House bei den verschiedenen Alfred-Hitchcock-Kurzgeschichten-Anthologien für Erwachsene und Jugendliche, die Arthur herausgab oder als Ghost-Editor betreute, und schließlich zu seiner Kreation der “Alfred Hitchcock and the Three Investigators Mystery Series”.

Seit 1927 gab es vor allem eine Jugendbuchserie, die über allen stand: die Hardy Boys.

In Zusammenarbeit mit dem Lektor Walter Retan bei Random House schuf und entwickelte Robert Arthur eine Serie, die in mancher Hinsicht den Hardy Boys ähnelte. Der Unterschied bestand darin, dass die Qualität des Schreibens und der Charakterisierung im Allgemeinen höher war als in den meisten Serienbüchern, ob nun für Jugendliche gedacht oder nicht.

(c) Harry Kane

Die phänomenale Cover- und Innengestaltung durch Harry Kane und Ed Vebell war ein weiterer entscheidender Faktor für den Erfolg, und es hat auch nicht geschadet, dass der bekannte und hoch angesehene Filmregisseur Alfred Hitchcock eine Figur in den Büchern war. Später, als es mit seiner Gesundheit bergab ging, beauftragte Robert Arthur Dennis Lynds mit der Fortsetzung der Serie. Und damit gab es einen renommierten Krimiautor, der vielleicht am besten bekannt ist unter dem Namen Michael Collins.

Jupiter Jones, Peter Crenshaw und Bob Andrews heißen die drei Detektive im Original, bei uns blieb nur Bob Andrews erhalten, Jupiter wurde zu Justus Jonas und Peter Crenshaw zu Peter Shaw. In den Hörspielen spricht man Justus Jonas als einzigen falsch aus. In Wirklichkeit hieße er nämlich Tschastes Tschones.

Arthur hat sich selbst als Bob Andrews in die Serie eingeschrieben, zumindest hat er einige Attribute von sich auf Bob übertragen. Das fängt beim Vornamen – Robert – an und geht über den Journalismus weiter. Bob Andrews’ Vater ist Reporter bei der Zeitung in Rocky Beach und Arthur hatte einen Master in Journalismus. Außerdem sind beide schlank und unsportlich.

Man darf nicht vergessen, dass die Hörspiele – so beliebt sie sind – eigentlich immer nur ein Abklatsch der Bücher sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass vieles umgeschrieben und weggelassen werden muss. Ein Beispiel ist “Das Gespensterschloss”, das erste Buch der drei Fragezeichen, das 1964 als “The Secret Of Terror Castle” erschien und 1968 bei uns. Sehen wir mal davon ab, dass es in der Hörspiel-Reihe erst an elfter Stelle kommt, gibt es im Buch eine Szene, wo sich Justus und Pete dem Schloss zum ersten Mal nachts nähern und plötzlich etwas über ihre Köpfe hinwegfliegt

Pete duckt sich und schreit, dass es eine Fledermaus sei, und Justus antwortet: “Fledermäuse fressen nur Insekten, niemals Menschen”. Das ist für die Handlung nicht von Belang, aber hier steckt der Schlüssel zur ganzen Serie, denn Robert Arthur hatte eine Vorliebe für Fledermäuse. Die meisten Menschen wussten damals noch nicht, wie wichtig Fledermäuse für das Gleichgewicht eines jeden Ökosystems sind und Arthur sah es als seine persönliche Mission, sie aufzuklären.

In dem Haus, das er zehn Jahre lang in Yorktown Heights in New York bewohnte – ein Haus im Wald, das auch am Croton Reservoir lag – lebte eine große Fledermauskolonie auf dem Dachboden. Arthur nahm seine kleine Tochter tagsüber, wenn die Fledermäuse schliefen, regelmäßig mit hinauf, damit sie sie bewundern und die Zuneigung ihres Vaters zu ihnen teilen konnte. In dem Haus in Yorktown Heights – das drei Stockwerke, einen Dachboden und einen Keller hatte – befand sich Arthurs Arbeitszimmer im dritten Stock, und es kam vor, dass die Fledermäuse nachts verwirrt waren und nicht durch die Dachschindeln nach draußen flogen, sondern durch die Tür vom Dachboden hinunter in den dritten Stock. Da Arthur oft nachts arbeitete, pflegte er den Leuten zu sagen, dass es nichts Besseres gäbe, als einen Krimi oder eine Geistergeschichte zu schreiben, während ein paar Fledermäuse gesellig um den Kopf herumschwirrten.

(c) Harry Kane

Sicher wäre die Serie auch ohne diesen markanten Ort entstanden, aber vielleicht wäre nicht das Gespensterschloss der erste Fall der drei Detektive geworden.

Auch für “Die flüsternde Mumie”, im Original von 1965 der dritte Fall, ließ sich Arthur von seinem Umfeld inspirieren, hier nämlich von seiner Frau Joan, die von 1935 bis 1940 in Ägypten lebte.

Joan war die Tochter von Louis Vaczek, einem ungarischen Diplomaten, der 1935 von Montreal nach Ägypten versetzt wurde, als Joan Studentin an der McGill Universität war. Sie veröffentlichte ebenfalls eine Reihe von Erzählungen, die in Ägypten spielten. Als Robert Arthur und Joan Vaczek heirateten, teilte sie mit ihm ihr Interesse an der Ägyptologie.

Ich selbst bin ein Freund der amerikanischen Originalcover von Harry Kane, aber ich verstehe natürlich, dass diese in unseren Breitengraden vermutlich nicht so gut funktioniert hätten wie die, die Aiga Rasch angefertigt hat. Heute sind die drei Fragezeichen weit von ihrem Ursprung entfernt, unendlich modernisiert und nicht mehr annähernd so originell wie in ihren Anfängen. Aber sie funktionieren vor allem durch die Hörspiele und sind ein großer Teil der deutschen Popkultur geworden, indem man sie quasi eingedeutscht hat.

Unheimliche Gesellschaft

Carlos Fuentes: Unheimliche Gesellschaft

Als einer der grundlegenden Autoren des “Booms” hat der Mexikaner Carlos Fuentes in seinen wichtigsten Romanen – “Nichts als das Leben” (1962), “Terra Nostra” (1975), “Die Jahre mit Laura Diaz” (1999) u.a. – eine interessante Reflexion über die kulturelle Vielfalt und Geschichte seines Landes angestellt. Gleichzeitig hat Fuentes, wie jeder Autor von Rang, mit Erzählungen wie jenen, die in seinem ersten Buch “Verhüllte Tage” (1954) dargeboten werden, den Kurzromanen “Aura” (1962) und “Das gläserne Siegel” (2001), die Phantastik in seine Erzählungen einfließen lassen.

Fischer verlag

In diesem Sinne ist “Unheimliche Gesellschaft” (2004) eine Sammlung von Rätsel- und Horrorgeschichten, ein Band mit sechs Geschichten und einer Schlüsselfrage: “Ist Leben diese kurze Spanne, dieses Nichts zwischen Wiege und Grab?”

Das Ergebnis spaltete die Kritiker in jene, die sagen, die Sammlung sei nicht mehr als “ein Haufen mittelmäßiger Geschichten” (vornehmlich aus dem Schubladenlager des bürgerlichen Realismus), und jene, die sie als Beispiel für technisches Können, poetisches Staunen und nicht immer gelinden Horror sehen, und das – mit Verlaub – sollten alle sein, die zumindest ein kleines bisschen im Bilde sind.

Die sechs Geschichten in diesem Buch gehen von alltäglichen Situationen aus, um ins Unwirkliche zu führen, aber nicht in der Art der Phantastik von Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, sondern durch die Aktualisierung der alten Tradition der Schauergeschichte mit seinen Villen, Gespenstern und düsteren Geheimnissen.

Hier kehrt Alejandro de la Guardia – ein in Europa lebender Mexikaner – in seine Heimat zurück, um das alte und große Familienhaus seiner Tanten María Serena und María Zenaida zu erben. Es sind so seltsame alte Frauen, so weit entfernt von der heutigen Welt, dass Alejandro sie für zwei Gespenster hält. Sehr spät entdeckt er, dass die alten Frauen echt sind, dass aber etwas anderes ganz und gar nicht stimmt.

Diese Geschichte – die den Erzählungen von Poe und Lovecraft nahe kommt – wird von Fuentes unter Beachtung der Regeln des Genres erzählt (in einem dunklen Ton, wobei er Elemente in der Zweideutigkeit belässt und das Innere des Hauses detailliert beschreibt), aber er fügt ihnen einige der Themen seiner “anderen” Erzählungen hinzu: die Übel der mexikanischen Bourgeoisie (Besitzer großer Villen), die Mischung aus Katholizismus und vorspanischem Glauben in der Volksreligiosität seines Landes, die rassistischen und sexuellen Vorurteile.

In der Geschichte “Die Katze meiner Mutter“, dreht sich das Spiel um die Verachtung einer alten Dame für ihre Haushälterin (die in Mexiko abfällig “gatas” – also Katzen – genannt werden, die indigene Guadalupe). Die Geschichte endet mit der Rache der Reinkarnation einer Hexe, die Jahrhunderte zuvor geopfert wurde.

Fuentes geht über das Altbackene und Immergleiche hinaus, indem er der klassischen angelsächsischen Gotik seine zeitgenössische und lateinamerikanische Version und einen didaktischen Hintergrund verpasst.

In der Geschichte “Calixta Brand” vollzieht ein Mann, der die intellektuelle Überlegenheit seiner Frau nicht ertragen kann, sobald sie im Rollstuhl sitzt und sich nicht mehr bewegen kann, einige erniedrigende sexuelle Praktiken. Sie wird schließlich von einem jungen Mann arabischer Herkunft gerettet, der sich als Engel entpuppt.

Das Herzstück dieser Sammlung ist jedoch “Vlad“, das zwar Teil dieser Sammlung ist, aber noch einmal als eigenständige Veröffentlichung kurz vor Fuentes Tod erschienen ist (2010). Wie unschwer am Titel zu erkennen ist, handelt es sich hierbei um eine Neuerzählung der Geschichte des Grafen Dracula, die in Mexiko-Stadt spielt. Die Metafiktionalisierung ist durch viele Details klar umrissen (Knoblauch, zugemauerte Fenster usw.) und beinhaltet auch die unschuldigen Figuren, die der Graf schließlich beherrscht. Sogar das Zitat “Ich trinke niemals … Wein” fehlt nicht.

Geschichte der Fantasy – Teil 1

Heute beginnen wir im Phantastikon-Podcast mit einer Sendereihe, die aus mehreren Teilen bestehen wird – und dazu begrüße ich euch natürlich herzlich, ob ihr nun aus Neugier zugeschaltet habt oder euch tatsächlich zu den Wanderern durch die phantastischen Welten zählt.

Wer war der Er­s‍te, der eine Geschichte in einer Welt ansiedelte, die nicht die unsre ist?

Wenn wir uns im Genre ein wenig umschauen, dann bemerken wir zuallererst, dass es nicht die eine Geschichte der Fantasy-Literatur gibt. Jeder leitet all das, was wir heute bewundern können, von einem anderen Stammvater ab, mit ein paar Ausnahmen, die sich immer gleichen.

Trotzdem gibt es Unterschiede in der Definition, denn die ungeheure Bandbreite der Fantasy enthält natürlich diverse Merkmale, die essentiell sind für die Bestimmung des Genres. “High Fantasy” lässt sich im Großen und Ganzen damit umreißen, dass sie in einer Welt angesiedelt ist, die nicht der unseren entspricht. Hier wurde eine Welt erschaffen, die eine eigene Geographie und Kulturgeschichte aufweist. Es handelt sich dabei also um eine andere Welt, in der die jeweilige Geschichte spielt. Viele Kritiker gehen davon aus, dass mit “High Fantasy” das Kerngehäuse umrissen wird, wenn wir von Fantasy sprechen. Dennoch ist dies noch ein wenig schwammig ausgedrückt. Eine Zweitwelt oder Anderswelt muss ja nicht notwendigerweise eine andere Welt sein.

Tolkien wollte mit seinem Entwurf von Arda eine Welt präsentieren, die in einer prähistorischen und mythenbehafteten Zeit unserer Erde angesiedelt ist. Gleichermaßen spielen sich Robert E. Howards Geschichten über Conan und Kull in einer Zeit vor aller historischen Geschichtsschreibung ab, die meisten (wenn auch nicht alle) Erzählungen von Clark Ashton Smith weisen ebenfalls einen präzisen Bezug zur sogenannten Realität auf. Smith findet seine Schauplätze überall im existierenden Universum: in der Vergangenheit (Hyperborea, Poseidonis), in ferner Zukunft (Zotique), auf anderen Planeten, darunter bekannte (Mars) und unbekannte (Xiccarph).

Die Wahl des Umfelds rechtfertigt die Idee der Fantasy und macht es den meisten Lesern leichter, das Unglaubliche zu akzeptieren, wenn es einen Bezugspunkt zur – wie gesagt: sogenannten – Realität gibt. Das Setting gibt der Fantasy dadurch einen Rahmen, der nachvollzogen werden kann. Das wirft eine Frage auf: Wer war der Erste, der diesen Rahmen gänzlich verworfen hat und den Schritt jenseits aller Realität wagte? Oder besser: Wer war der Er­s‍te, der eine Geschichte in einer Welt ansiedelte, die nicht die unsre ist?

Was ist eine erfundene Welt?

Es war Lin Carter, der zusammen mit L. Sprague de Camp den Nachdruck und das Sammeln älterer Fantasy-Werke übernahm, und der beantwortete die Frage so: Der Erste, der so eine Geschichte schrieb, war William Morris, der Autor von “Die Quelle am Ende der Welt” und “Die Zauberin jenseits der Welt”. (Und selbst die deutsche Übersetzung wirbt mit dem Etikett “Begründer der Fantasy”). Auf den ersten Blick wirken diese beiden Romane tatsächlich wie “High Fantasy”. Aber sind sie wirklich in einer anderen Welt angesiedelt?

Zunächst muss die Frage erlaubt sein, was denn überhaupt eine erfundene oder von uns unabhängige, zweite Welt ist. Natürlich eine mit einer eigenen Geographie und Geschichtsschreibung, die sich komplett von unserer unterscheidet. Aber wie viel Unterschiede sind notwendig?

Man mag denken, dass Bücher entweder aus dem Drang heraus geschrieben werden, die Welt zu imitieren, oder um etwas Neues zu erschaffen, und dass wir am Ende von Realismus oder von Phantastik sprechen. Das wäre jedoch unbefriedigend, da natürlich jede Literatur in erster Linie auf Erfindung beruht, ob sie sich jetzt realistisch nennt oder nicht.

Gehen wir also davon aus, dass jedes literarische Setting eine Art Ersatz- oder Zweitwelt ist, nämlich in dem Sinn, dass diese Welt der Fantasie und dem Können des Schriftstellers entstammt. Selbst in journalistischen Arbeiten und Sachtexten existiert das Dargestellte nur im Kopf des Verfassers (und des Lesers). Das bedeutet, dass sich jedes Umfeld dazu eignet, in einer Fantasywelt angesiedelt zu werden.

Nehmen wir einmal an, wir lesen ein Buch, das in Berlin spielt, und wir kennen Berlin gut genug, um den Schauplätzen Alexanderplatz oder Brandenburger Tor, und schließlich der ganzen Geographie soweit folgen zu können, dass wir sie als korrekt dargestellt erkennen.

Nehmen wir weiter an, die Geschichte offenbart uns, Berlin habe 15 Millionen Einwohner und der dortige Fußballverein Hertha hätte in den letzten Jahrzehnten regelmäßig die deutsche Meisterschaft errungen. Jeder Berliner oder Fußballfan weiß spätestens jetzt, dass dies nicht den Tatsachen entspricht. Sind das also Fehler oder lesen wir hier über eine Fantasywelt?

Andererseits, was wäre, wenn die Stadt „Beutel­s‍tadt“ hieße, eine Bevölkerungszahl von 3,5 Millionen aufweist, den Reichstag und einen nicht so erfolgreichen Fußballverein hat? Macht der Unterschied des Namens bereits eine andere Welt aus, wo doch so viele Dinge tatsächlich zutreffen?

Diese Fragen können so oder so beantwortet werden, je nach Text. Es gibt natürlich ein prominentes Beispiel: Thomas Hardy legte viele seiner Bücher im Südwesten Englands an, nannte die Gegend allerdings „Wessex“, und oft nutzt er tatsächlich existierende Orte unter fiktionalen Namen – die Stadt Dorset wird zum Beispiel zu „Casterbridge“. „Kein Detail ist sicher“, schrieb er. „Die Beschreibungen fiktiv benannter Städte und Dörfer wurden nur von wirklichen Ortschaften inspiriert und werden schamlos für eigene Zwecke genutzt.“

Betrachten wir noch einen anderen Schriftsteller, den man eigentlich nicht als Erfinder von Welten kennt: William Faulkner. Viele seiner Erzählungen sind in „Yoknapatawpha“ angesiedelt, einem erfundenen Landstrich, der auf dem real existierenden Lafayette County basiert. Faulkner erfand eine Geschichte für sein Land und gestaltete sogar eine Karte, die in seinem Buch “Absalom, Absalom!” abgedruckt wurde. (Hardy hatte übrigens ebenfalls eine Karte seines Wessex.)

Das sind aber nicht die Zweitwelten, nach denen wir suchen (oder was die meisten darunter verstehen würden), aber sie weisen in die richtige Richtung. Sie gehören aber nicht zu den unabhängigen phantastischen Welten. Der Punkt ist, dass sie Teil der real existierenden Welt sind. Ihre Geschichte gehört zu dem Land, in dem sie angesiedelt sind, ihre Gesellschaft ist jene der wirklichen Welt zu dieser Zeit. Das Ziel der Autoren war es, so nah wie möglich an der Realität zu bleiben, auch wenn sie sich ein paar Freiheiten nahmen, die zu ihrem kreativen Repertoire gehörten.

William Morris

Kommen wir zu William Morris zurück. Betrachten wir seine drei berühmten Fantasy-Werke, “Die Zauberin jenseits der Welt”, “Die Quelle am Ende der Welt”, und “Das Reich am Strom”. Sind sie völlig unabhängig von der realen Welt? All diese Bücher rühmen ihre erfundene Geographie (Das Reich am Strom besitzt sogar eine Karte). Die sozialen Komponenten sind ausgearbeitet und unverwechselbar, ähnlich dem europäischen Mittelalter, was Technologie, Klassenstände usw. betrifft. Es sieht alles so aus, als hätten wir es hier mit der gesuchten unabhängigen Zweitwelt zu tun.

“Das Reich am Strom” bezieht sich auf der ersten Seite auf Weihnachten und den Apostel Thomas von Indien. Auf der nächsten Seite erfahren wir, dass die Aufzeichnungen von einem Mönch aus Abington, England stammen. Auf wieder einer anderen Seite sagt der Mönch, dass er die Geschichten gesammelt habe; man könnte also geltend machen, dass seine Erzählung von einer anderen Welt von einem Mann aus dieser Welt geschrieben wurde.

Auf der Suche nach einer Welt, die nichts mit unserer zu tun hat, kommen wir hier also nicht weiter. Die Verwendung eines Mönchs ist ein Beispiel dafür, wie sich eine Fantasy-Welt mit der Realität zu verbinden sucht. Wir können Das Reich am Strom also beiseite legen.

“Die Zauberin jenseits der Welt” erwähnt eine Taufe und verwendet den Begriff “Söhne Adams”. Ebenso bezieht sich die Erzählung auf die “Perlen der Sarazenen” und erwähnt sowohl die Stadt Rom als auch Babylon; auch bezieht sich der Roman auf heidnische Götter wie Diana und Venus, sogar auf Details des christlichen Glaubens (wie die Dreifaltigkeit und die Messe). Das hört sich nicht nach einer unabhängigen Welt an.

Lin Carter dachte aber so. In seiner Einführung zu “Die Quelle am Ende der Welt” erklärte er:

“Obwohl der Text einige verstreute Hinweise auf Babylon, den Papst und verschiedene Heilige enthält, und obwohl die meisten Namen der handelnden Figuren in unserer Welt bekannt sind, handelt es sich bei der Quelle am Ende der Welt um eine jener reizvollen literarischen Landschaften, der es irgendwie gelungen ist, um den gewohnheitsmäßigen Verschleiß herumzukommen.”

Das hört sich gut an. Einige verstreute Hinweise auslegen, ist das, was man tut, wenn man eine literarische Welt erfindet. Aber wenn die Hinweise die reale Welt betreffen, kann man dann nicht davon ausgehen, dass es sich mehr oder weniger auch um unsere Welt handelt? Wo sind die Grenzen?

Man könnte argumentieren, dass jenes Rom der Quelle am Ende der Welt nichts mit dem Rom in unserer Welt zu tun hat. Tatsächlich geht niemand aus der Erzählung in diese Stadt. Die Geographie im Buch wird ziemlich eng gehalten. Da ist das Land Upmeads mit seinen umliegenden Ländereien, aber niemand sagt etwas über das, was darum herum liegt. Wir erfahren lediglich, dass sich Rom etwa 500 Meilen entfernt befindet.

Parallelwelten

Man kann sich Upmeads leicht als ein kleines Königreich vorstellen, etwa wie England oder Frankreich oder ein anderes Land in Europa, und natürlich kann man sich Upmeads auch als eigene Welt vorstellen, wenn man akzeptiert, dass es dort Städte wie Rom oder Babylon gibt. Aber wie sinnvoll ist das?

Ich denke, wir sollten ein wenig sparsamer sein, anstelle von “Begriffe nicht unnötig vervielfachen”, sollten wir sagen: “Realitäten nicht unnötig vervielfachen”. Wenn ein realer Ort in einer Geschichte verankert ist, sollten wir davon ausgehen, dass es sich hier auch um einen realen Ort handelt, es sei denn, die Geschichte belehrt uns eines besseren.

Selbstverständlich kann eine Geschichte, die in einer Parallelwelt spielt, reelle Namen für erfundene Orte enthalten, aber Parallelwelten kamen erst relativ spät ins Spiel, zumindest weit nach den Fantasywelten. Aber auch hier: Wo ist die Linie zu ziehen? Wenn wir eine Geschichte vor uns haben, in der Magie wirklich funktioniert, die Welt aber eindeutig die unsrige ist, sollten wir dann die Geschichte als eine in einer Fantasywelt lesen oder als eine der realen Welt?

Das hängt vermutlich davon ab, ob das Setting die reale Welt in uns heraufbeschwören möchte und nicht etwa eine Parallelwelt. Ist dem so, dann haben wir die Welt als die reale Welt zu akzeptieren, nämlich als die Beschreibung einer fiktionalen, aber realen Welt, in der Magie funktioniert. Der Unterschied zu einer Parallelwelt (wie auch zur Fantasywelt) liegt darin, dass beide eine ihrer Geschichte innewohnenden eigenen Logik folgen und ihre Protagonisten erkennbar unterschiedlich zu Personen unserer Welt agieren. Ist dort die Magie so weit entwickelt, dass sich durch sie die Kulturgeschichte oder der Lauf der Welt völlig anders entwickelt hat, dann haben wir es auf sehr effektive Weise mit einer phantastischen Parallelwelt zu tun.

Lesen wir eine Geschichte über König Artus, die in England spielt, in der Merlin seinen Zauber wirkt, dann lesen wir nicht notgedrungen von einer erfundenen Zweitwelt. Lesen wir Susanna Clarkes “Jonathan Strange & Mr Norell”, scheint die Handlung in Jane Austens England, mitsamt der Stadt London und den Napoleonischen Kriegen zu spielen. Allerdings merken wir schnell, dass hier nicht nur Magie funktioniert, hier scheint es sogar eigene historische Entwicklungen zu geben, die eine eigentümliche Interpretation der uns bekannten sind. Das ist eindeutig eine Parallelwelt, mit der wir es hier zu tun haben.

Bleibt erneut die Frage: Was ist eine unabhängige Welt?

Benötigt eine phantastische Anderswelt eine eigene Geographie? Strange & Norell nicht. Braucht sie eine nachvollziehbare Kulturgeschichte? Nun, von Alice im Wunderland kann man nicht behaupten, dass es dort so etwas gibt. Kann eine Fantasywelt also ohne eigene Geographie und Kulturgeschichte auskommen? Was ist mit den Menschen? Können die Menschen handeln wie jene in der wirklichen Welt, oder sollten sie ihre eigenen Sitten und Verhaltensweisen haben? Sollte dem so sein, wie sehr müssen sie sich von wirklichen Menschen unterscheiden?

Es sieht so aus, als gäbe es vier charakteristische Merkmale, unter deren Berücksichtigung man von einer unabhängigen Welt sprechen kann, vorausgesetzt, es wird nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich dabei um unsere Welt handeln soll, etwa in einer anderen Zeit oder einen unbekannten Teil unserer Welt betreffend. Auch sollte diese Welt nicht in einem Traum (oder in einer Illusion von dieser Welt) zu verorten sein. Mit anderen Worten: weist nichts darauf hin, dass es sich bei dieser Welt um unsere Welt handelt, wird eine Fantasywelt entweder alle oder die meisten der folgenden Merkmale aufweisen:

Erstens scheint es, dass eine unabhängige phantastische Welt stets einer eigenen Logik folgt. Das kann bedeuten, dass hier andere physikalische Gesetze gelten, oder dass Magie ein Äquivalent zur Physik oder zur Wissenschaft darstellt. Oder die Logik entspricht mehr einer Traum-Logik. Der Punkt ist, dass sich die Funktion dieser Welt, ihre Gesetzmäßigkeiten usw, von unserer Welt unterscheidet. In einem solchen Fall können wir davon sprechen, es mit einer unabhängigen Fantasywelt zu tun zu haben.

Zweitens: Geographie. Eine unabhängige phantastische Welt hat eigentlich immer ihre eigene Geographie. Da gibt es einen Ort – und dann gibt es den Ort da drüben usw., vorzugsweise sind all diese Orte benannt, obwohl das, was diese Namen ausmacht, eine eigene Diskussion erfordern würde.

Drittens: Die Welt hat ihre eigene Geschichte. Diese Geschichte kann akribisch und ausladend erarbeitet sein, oder sie kann beschaulich sein, der Punkt jedoch ist, dass sich das Geschehen dieser Welt in einem historischen Background abspielt. Es wurde Handel betrieben, manche Völker haben Krieg miteinander oder sind anderweitig verfeindet. Der Rahmen dieser Ereignisse hilft der Erzählung und dem Weltentwurf in seiner Gesamtheit.

Viertens: Menschen können sich anders verhalten, als wir das kennen. Sie haben vielleicht ihre eigenen Bräuche, denken anders als wir, haben einen anderen Stand der Technik oder haben die Dinge in einer anderen Reihenfolge erfunden als wir. Ihre Sprache ist vielleicht anders, archaischer, und spiegelt ihre anderen Denkgewohnheiten wider. Vielleicht ist aber auch nichts von alledem vorhanden. Was ich zu beschreiben versuche, sind Menschen, die wir uns als Teil ihrer eigenen fiktiven Welt vorstellen sollen und die sich eher auf diese Welt beziehen als auf die reale Welt. Hardys Figuren hingegen sind Engländer, und wir erkennen sie als solche; genauso wie Faulkners Figuren Amerikaner sind, und wir erkennen sie als solche; aber die Bewohner von Tolkiens Mittelerde sind keine Europäer, und wir sollen sie nicht als solche betrachten, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht Europäern ähneln.

Jetzt haben wir unsere vier Merkmale, die hoffentlich festlegen, was es bedeutet, mit einer unabhängigen phantastischen zweiten Welt konfrontiert zu sein. Wie funktioniert das in der Praxis? Benötigt eine erfundene Welt alle dieser Eigenschaften?

Dazu kommen wir im nächsten Teil.

Die Figur Sherlock Holmes

Sherlock Holmes ist neben Dracula jene fiktive Figur, die in der Popkultur am meisten adaptiert und inszeniert wurde. Dass der Detektiv auf der ganzen Welt bekannt ist, liegt aber nicht an den kongenialen Originalgeschichten, sondern an den unzähligen Filmen, Theaterstücken, Musicals und Comics. Fast alle Symbole und Sätze, die aus den vielen Fernseh-, Film-, Theater- und anderen grafischen Reproduktionen stammen und die heute scheinbar zum Kanon gehören – wie etwa der Deerstalker-Hut – kommen in den Texten überhaupt nicht vor. Aber während diese dazu neigen, mit der Mode zu wechseln, scheinen die Originalgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle, die immer wieder bearbeitet werden, sich in unserem kollektiven Bewusstsein festzuhalten wie nichts vor oder nach ihnen.

Der Reichenbach-Schock

1893 stieß der Autor Sir Arthur Conan Doyle den Detektiv Sherlock Holmes von einer Klippe. Die Klippe befand sich in der Schweiz. Es sind die berühmten Reichenbachfälle, die unter ihr dahinbrausen. Aber Conan Doyle war gar nicht vor Ort, er erledigte die Drecksarbeit von seinem Haus in London aus, in dem er schrieb.

“Ich nehme schweren Herzens meine Feder in die Hand, um diese letzten Worte zu schreiben, mit denen ich die einzigartigen Gaben festhalten werde, mit denen mein Freund Sherlock Holmes ausgezeichnet wurde”,

sagt der Erzähler Dr. John Watson in Conan Doyles Geschichte Das letzte Problem, die im Dezember 1893 im Magazin “The Strand” erschien.

Conan Doyle selbst wirkte etwas weniger emotional. “Tötete Holmes”, schrieb er in sein Tagebuch. Man kann sich Conan Doyle vorstellen, sein glattes Haar, das im Kerzenschein schimmert, wie er seinen üppigen Schnurrbart vor Freude dreht. Später sagte er von seiner berühmten Figur: “Ich hatte eine solche Überdosis von ihm, dass ich mich ihm gegenüber fühlte wie gegenüber der Leberpastete, von der ich einmal zu viel gegessen hatte, so dass allein der Name mir bis heute ein kränkliches Gefühl gibt.”

Conan Doyle mag zu diesem Zeitpunkt noch gedacht haben, dass er sich seiner Figur damit entledigt hätte, aber damit unterschätzte er die Fans. Die öffentliche Reaktion auf Holmes’ Tod war anders als alles, was die Welt der Fiktion jemals vorher erlebt hatte. Mehr als 20.000 Strand-Leser kündigten ihre Abonnements, empört über Holmes’ vorzeitigen Tod. Das Magazin überlebte kaum. Selbst die Mitarbeiter bezeichneten Holmes’ Tod als ein “absolut schreckliches Ereignis”.

Der Legende nach trugen junge Männer in ganz London schwarzes Trauerflor. Leser schrieben wütende Briefe an die Redaktion, es wurden Clubs gegründet, in denen es ausschließlich um die Rettung von Holmes’ Leben ging.

Das erste Fandom

Und Conan Doyle war schockiert über das Verhalten der Fans. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. (Sie wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal als “Fans” bezeichnet. Der Begriff – eine Kurzform für “Fanatiker” – wurde erst vor kurzem für amerikanische Baseballbegeisterte verwendet). In der Regel akzeptierten die Leser, was in ihren Büchern geschah. Jetzt begannen sie, ihre Lektüre persönlich zu nehmen und zu erwarten, dass ihre Lieblingswerke bestimmten Erwartungen entspräche.

Die begeisterten Leser von Sherlock Holmes waren es, die das moderne Fandom erschufen. Interessanterweise setzt sich Holmes’ intensive Fangemeinde bis heute fort und läutet endlose Neuerungen ein, wie etwa die US-Serie Elementary und BBCs Sherlock. (Es darf angemerkt werden, dass das bekannte Zitat: “Elementar, mein lieber Watson!”, nachdem die Elementary-Serie benannt ist, gar nicht in den Originaltexten auftaucht).

1887 erschien die erste Novelle mit dem Detektiv: Eine Studie in Scharlachrot. Von Beginn an war er so beliebt, dass Conan Doyle bald darauf bereits zu bereuen begann, ihn überhaupt erschaffen zu haben. Denn diese Geschichten überschatteten alles, was Doyle für sein “ernsthaftes Werk” hielt, etwa seine historischen Romane.

An Veröffentlichungstagen standen die Leser an den Kiosken Schlange, sobald eine neue Holmes-Geschichte in The Strand erschien. Wegen Holmes war Conan Doyle, wie ein Historiker schrieb, “so bekannt wie Queen Victoria”.

Die Nachfrage nach Holmes-Geschichten schien endlos. Aber obwohl The Strand Conan Doyle gut für seine Geschichten bezahlte, hatte dieser nicht vor, den Rest seines Lebens mit Sherlock Holmes zu verbringen. Als er 34 Jahre alt war, hatte er genug. Also ließ er Professor Moriarty Holmes die Wasserfälle hinunterstoßen. Acht lange Jahre widerstand Conan Doyle dem Druck, der allerdings mit der Zeit so groß wurde, dass er 1901 eine neue Geschichte schrieb: Der Hund von Baskerville. Aber an diesem Fall arbeitete Holmes noch vor dem verhängnisvollen Sturz. Erst 1903, in Das leere Haus ließ er Sherlock Holmes mit der Begründung auferstehen, nur Moriarty sei in diesem besagten Herbst gestorben, während Holmes seinen Tod nur vorgetäuscht habe. Die Fans waren zufrieden.

Sherlock – Ein Leben nach dem Tode

Seitdem sind die Fans allerdings noch wesentlich obsessiver geworden. Der Unterschied zu damals besteht ledigich darin, dass wir uns an ein starkes Fandom gewöhnt haben. Maßgeblich beteiligt an der Glut der Leidenschaft ist die BBC-Serie Sherlock, die von 2010 – 2017 in 180 Ländern ausgestrahlt wurde. Hier spielt Benedict Cumberbatch in einer atemberaubenden Performance den zwar modernen, aber besten Holmes, den es je zu sehen gab, begleitet von Martin Freeman als Watson. Seitdem pilgern unfassbare Scharen in den von Holmes und Watson bevorzugten Londoner Sandwich-Shop, oder in Speedy’s Café. Während der Produktion der Serie kam es sogar zu Problemen, weil sich Tausende Fans am Set tummelten, die dann in die Baker Street weiter zogen, die in Wirklichkeit die Gower Street ist.

Bemerkenswert ist, dass sich die Fans von Sherlock Holmes seit mehr als 120 Jahren intensiv mit dem fiktiven Detektiv beschäftigen, unabhängig davon, in welches Medium er übertragen wurde (es dürfte kein einziges fehlen).

Mark Gatiss, der Mitgestalter der Sherlock-Reihe, hat darauf hingewiesen, dass Holmes einer der ursprünglichen fiktiven Detektive ist – die meisten anderen danach geschaffenen Ermittler waren Kopien oder eine direkte Reaktion auf ihn:

“Alles in allem ziehen die Leute eine Linie unter Sherlock und Watson. Agatha Christie kann ihren Poirot nur klein und rundlich machen – im Gegensatz zu groß und schlank. Auch er braucht einen Watson, also erschafft sie Captain Hastings. Wenn man sich umsieht, ist das immer das gleiche Modell. Es ist unverwüstlich.”

Nun, selbst Sherlock Holmes hatte einen Vorgänger, und der stammt aus der Feder von Edgar Allan Poe. Dessen Auguste Dupin trat erstmals 1841 in der Erzählung Der Doppelmord in der Rue Morgue und dann in zwei weiteren Erzählungen auf. Conan Doyle hat ihm Refernz erwiesen, indem er ihn in Eine Studie in Scharlachrot auftreten lässt. Dass er sich bei Poe bediente, bedeutet aber nicht, dass sich Sherlock Holmes nicht in eine völlig eigene Richtung entwickelte. Hier wurde der Detektiv in eine definitive Form gegossen.

Sherlock-Mitgestalter Steven Moffat sollte nun das Schlusswort haben:

“Sherlock Holmes ist ein Genie, deshalb ist er ein bisschen seltsam. Ich weiß nicht, wie oft das im wirklichen Leben vorkommt, aber in der Fiktion kommt es doch oft vor. Und das haben wir Sherlock zu verdanken”

Weiterführende Sendungen:

Arthur Conan Doyle – Spiritist und Gentleman

Musik von Kevin MacLeod.