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Ein Fluch ohne Autor

In Teseo Albinesis Aufzeichnungen aus dem Jahr 1539 wird beschrieben, wie der Okkultist Ludovico Spoletano den Satan beschwor, weil er Fragen hatte, die ihm sonst niemand beantworten konnte. Ein Magier, der sehr von dem deutschen Gelehrten Johannes Trithemius beeinflusst zu sein schien, schrieb Werke wie das Steganographia, das alchemistische und magische Inhalte mit verschlüsselten Botschaften kombinierte, bis er an einen Punkt kam, wo er – ähnlich wie Doktor Faustus glaubte – alles bereits zu kennen, aber doch nichts zu wissen.

„Komm in meinen Körper, Majestät; ganz einfach, um den Stift in meiner Hand zu führen. Was sind diese verschollenen Wahrheiten, von denen ich vermute, dass es sie irgendwo geben muss? Was steht in den uralten Schriften, die ich nicht besitze?“

Der Teufel aber blieb diesmal unsichtbar. Womöglich hatte er seine vorrangige Garderobe gerade in der Wäsche, oder ihm fehlte ein Knopf an seinem feurigen Jackett.In Ludovicos Körper wollte er ebenfalls nicht fahren, um sich als menschliches Wesen über das Schreibpult zu beugen. Also schnappte er sich nur den Stift des Gelehrten, um als körperloser Autor zu fungieren.

Was der Teufel schrieb, war vielleicht nur von Ludovico zu entziffern: eine Reihe von diabolischen Kritzeleien, die von links nach rechts zu lesen sind. Nachdem der Text an mehrere gelehrte Männer weitergegeben wurde, ohne dass die Entschlüsselung gelang, verschwand er auf wundersame Weise in der Versenkung.

Selbstverständlich ist die Geschichte über Ludovico Spoletano eine Anekdote.

In einem bibliografischen Anhang zu Fortunato Castellanis „Tractatus contra hereticos” (Mantua, 1683) findet sich ein einziger, beiläufiger Vermerk über einen gewissen Ludovicus Spoletanus. Von ihm heißt es, er habe „mehr gewusst, als ihm erlaubt war”, und er sei „weder mit der Kirche noch mit dem Himmel versöhnt gestorben”. Die Bemerkung steht zwischen zwei Notizen über die Besitzverhältnisse einer lombardischen Reliquie und den Tod eines Benediktinerabts in sinistra fama – doch in ihr liegt ein Rätsel, das seither einige Leser beschäftigt.

Spoletano war, dessen scheinen wir gewiss zu sein, im Umfeld der römischen Kurie tätig. Allerdings nicht als offizieller Gelehrter oder Mönch, sondern als Mann, der Bücher kopierte und zugleich verbarg. Es heißt, er habe Handschriften aus Toledo, Avignon und dem zerstörten Scriptorium von Bobbio besessen, darunter auch eine italienische Teilübersetzung der sagenumwobenen Clavis Inferni.

Erschütternd ist jedoch der Bericht, der nur einmal überliefert ist – in einer anonymen Fußnote eines italienischen Grimoire-Drucks aus dem Jahr 1721 –, dem zufolge Ludovico Spoletano in der Nacht des 3. November 1666 eine Gestalt traf, die sich selbst nicht beim Namen nannte.

Er soll, nach dieser Quelle, drei Fragen erhalten haben:

„Wie viele Stufen führen zur Erkenntnis?“

„Was trennt das gesprochene Wort vom geschriebenen?“

„Wem gehört ein Gedanke, der vergessen wurde?“

Spoletano, so heißt es, tat sich mit der Beantwortung der ersten Frage nicht schwer, die zweite wusste er mit einem lateinischen Zitat zu umgehen – doch bei der dritten habe er geschwiegen. Die Gestalt habe daraufhin geantwortet: „Dann wirst du zwar sehen, aber das Gesehene nicht deuten können.“

In den darauffolgenden Jahren schrieb Spoletano ein Werk mit dem Titel „De Umbris Pactis“, von dem nur drei Fragmente erhalten geblieben sein sollen: Eines befindet sich angeblich in der Bibliothek des Escorial, ein anderes in einem privaten Archiv in Mailand und das dritte ist auf dem Index der verlorenen Bücher von Borges’ imaginärer Biblioteca de Babel verzeichnet. Die Fragmente selbst bestehen aus Diagrammen, abgebrochenen Aphorismen und einer sich endlos wiederholenden Fußnote: „Der Pakt ist ein Spiegel. Wer hineinblickt, sieht nicht sich selbst, sondern das, was ihn sieht.“

Ob Spoletano tatsächlich den Teufel traf, sei dahingestellt. Vielleicht war es nur ein anderer Teil von ihm selbst, ein übermüdeter Kopist, der am Rand eines Pergaments mehr sah, als dort stand. Vielleicht hat er nie existiert, sondern wurde nur als Warnung erfunden – wie so viele andere, die von Wissen kosteten, das nicht getrunken werden wollte.

Doch in einer marginalen Anmerkung des Jesuiten Botero findet sich ein Satz, der uns zu denken geben sollte. Er schreibt: „Spoletano? Das ist lediglich ein Fluch ohne Autor.“

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Esset nicht davon

Vom christlichen Satan über den islamischen Iblis und den hinduistischen Ravana bis hin zum zoroastrischen Angra Mainyu taucht die Idee eines singulären Wesens, dass das Böse repräsentiert, als kulturelle Allgegenwart immer wieder in den Annalen der Menschheit auf. Eine gegnerische Kraft, die sich im Kontext bestimmter Traditionen und Gesellschaften auf einzigartige Weise als Archetyp manifestiert.

Elizabeth Knapp starrt hinaus in die Dunkelheit, die nie so dunkel sein wird wie der Schatten des Codex Gigas, ein kollosales Ding von 75 Kilogramm, das in nur einer Nacht auf 160 Tierhäuten geschrieben wurde, das sie freilich überhaupt nicht kennt. Welche Magd hätte auch einen derart klugen Kopf besessen, hinter die Fassade der Furcht zu schauen. Es mag sein, dass die gefallenen Engel noch alles fest in ihren Krallen hatten und dass es dem Benediktinermönch Herman nur deshalb gelang, eingemauert im Kloster Podlaschitz den Teufel anzurufen. Gerufen hat wohl noch jeder, aber kam der Schwefelfürst denn auch? Hier wird es so gewesen sein müssen, denn die einheitliche Kalligraphie des Manuskripts, die sich durch den gesamten umfangreichen Inhalt zieht – darunter die gesamte lateinische Vulgata, medizinische Abhandlungen und magische Formeln -, lässt die Zeit von nur einer Nacht selbst für eine außergewöhnliche menschliche Willensanstrengung im Unmöglichen zurück. Was bedeutet es aber, etwas Unmögliches zu schaffen, wenn es doch unmöglich ist?

Die Schätzung gibt uns zumindest den Anhaltspunkt, dass ein Schreiber, der sich Tag und Nacht über das Papier beugt, in fünf Jahren einen letzten Punkt setzen könnte. Doch wer vermag so lange dem Schlaf zu entkommen? Und was, wenn doch die Aufgabe lautet, dieses Unding in nur einer Nacht zu schreiben, weil es sonst keinen Hals mehr geben würde, auf dem sich ein Kopf befindet, der die Finger anleitet, um zumindest fünf dieser Jahre durchzuschreiben, ohne auch nur ein einziges Mal abzusetzen?

Schließlich konnte der Mönch sein Gelübde nicht einhalten und steuerte seiner späteren harten Strafe bereits in den böhmischen Gassen einer sonderbaren Nacht entgegen, wo der weiße Schenkel einer Tochter Liliths ihn lockte. Wieder. Und wieder. Immer ein anderer Schenkel, aber immer der gleiche Lockruf.

Elizabeth Knapp hingegen fragt sich erneut: „Was wäre ich ohne den Teufel?“

Der Mönch, an den sie denkt, mag seit Jahrhunderten in der Tiefe der Erde ruhen, ein Pakt mit Luzifer mag ihn in jener Nacht vor der Verdammnis bewahrt haben, und es grenzt an ein Wunder, dass er sich durch das Schreiben der Teufelsbibel nicht noch tiefer in den Abgrund gestürzt hat. Er blieb eingemauert, aber lebendig. Und der teuflische Engel durfte sich sogar auf einer ganzen Seite selbst porträtieren, denn eine gewisse Eitelkeit kennt selbst die Pestblume, das Verderbnis unter schönem Schein. Für Elisabeth hatte der Teufel nur Böses im Sinn, aber das Versprechen von Reichtum, Jugend, und Freiheit bekam auch sie, bevor ihre Seele dann auf einer Kohlenrutsche nach unten fahren durfte, um im Heizraum der Hölle Kaffee zu kochen.

Dennoch möchte ich ein Wort zur Verteidigung der jungen Magd hervorbringen, die im 17. Jahrhundert in Groton, Massachusetts, als Hausangestellte dem örtlichen Reverend diente. Vielleicht war es ihre Gewöhnlichkeit, die sie ängstigte. Dabei hätte sie diese Eigenschaft als Segen auffassen sollen. Aber was wusste sie schon von der scheußlichen Welt, in der die Menschen hausen? Manchmal mag es nur ein kleines Ärgernis sein, das der Teufel registriert, ein widerspenstiges Streben, und sei es zu Beginn auch noch so harmlos. Das klingt vielleicht nicht nach einer Verteidigung, und doch: Im Alter von sechzehn Jahren begann Elisabeth, Symptome der Besessenheit zu zeigen. Es waren körperliche Schmerzen, die sie peinigten und deren Ursache sich nicht ermitteln ließ. Am heftigsten erschrak sie über die unnatürliche Stimme, die bei unpassenden Gelegenheiten aus ihrer Kehle kam. Aber kann es für dieses groteske Gebaren überhaupt eine passende Gelegenheit geben? Eine Besessenheit hört sich jedenfalls nicht nach der versprochenen Freiheit an, die ihr der Teufel bot. Vielmehr machte er sich selbst ans Werk, um ihre Hand gegen die Familie des Pfarrers zu erheben. Ihre Hand sollte mit Blut geschmückt werden, wie jetzt, da sie verloren im Wald umhertaumelt. Doch sie begann, sich zu weigern. Möglicherweise war sie nicht einverstanden mit einem zu frühen Betrug. Und also zögerte sie. Sie hielt mitten im Schwur inne, mitten im Fall – ein Augenblick der Weigerung, ein letztes Flackern menschlichen Widerstands. Und genau das, so sage ich, ist Grund genug, ihr zu vergeben – oder sie wenigstens anzuhören.

Reverend Samuel Willard dokumentierte die Ereignisse akribisch und zog Ärzte und Gelehrte zu Rate, um natürliche Ursachen auszuschließen. Erst nachdem er alle wissenschaftlichen Erklärungen ausgeschöpft hatte, schrieb er ihren Zustand tatsächlich einer dämonischen Besessenheit zu. Und Elisabeth trat als Zeugin ihrer selbst in den Ring. Sie gestand, dass der Satan sie in einen Pakt treiben wollte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu weigern, zur Mörderin zu werden, was zu einer Eskalation ihrer Anfälle führte. Der Reverend jedoch, dem wir diese Überlieferung zu verdanken haben, beendete seine Aufzeichnungen unbeschadet und Elisabeth Knapp entschwindet damit aus unserem Sichtfeld. Ich aber kann sie dort im Wald noch stehen sehen, und wie zu vermuten ist, wandert sie, mit einer kleinen Abfindung im Gepäck, die ihr der fromme Mann mitgegeben hat, in ein anderes Leben hinein.

Elisabeth ist außer Sicht. Ich vermute, sie wird ein Dorf gefunden haben und ihr Empfehlungsschreiben vorgelegt haben.

„Die Dame, die Ihnen das hier vorlegt, ist eine gute Christin. Stellen Sie sie ein.“

Schließlich weiß auch sie nur zu gut, was zwanzig Jahre zuvor in Salem geschah, gar nicht weit von hier. Der Reverend konnte sie unter keinen Umständen kurieren, also konnte er sie auch nicht behalten, ohne um das Leben seiner Familie zu bangen. Die Kladde, die der Teufel ihr zeigte, verbindet uns mit einem weiteren Schriftstück, das bis zum heutigen Tage nicht übersetzt werden konnte, auch wenn das Blutbuch, in dem Elisabeth sich neben vielen anderen Frauen eintragen sollte, keine einzige Zeile von ihm selbst enthält. Einen Seelenschwur scheint auch er nicht fälschen zu können, aber seine Handschrift haben wir trotzdem bekommen,und damit eine Kalligraphie seiner Klaue, die möglicherweise sogar seine Kenntnisse des Amharischen verrät, jener göttlichen und unveränderbaren Sprache also, die man im Garten Eden hören hätte können, wenn man sich damals in der Nähe des Baumes der Erkenntnis aufgehalten hätte, als Eva sie zum ersten Mal erklingen ließ, und die in ihrer Reinform noch immer in der Provinz Amhara in Äthiopien gesprochen wird.

Ihre ersten Worte richtete Eva allerdings nicht an ihren Gemahl, sondern an die Schlange, als sie ihr auf die Frage ‚Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr von keinem Baum die Früchte essen dürft?‚ antwortete:

„Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!“

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Die späte Mrs. Radcliffe

Um das spätere Leben von Mrs. Radcliffe ranken sich einige Phantasien. Während die Jahre schweigend vergingen, machten verschiedene Gerüchte die Runde. Es wurde behauptet, sie sei in Italien, um Material für eine neue Romanze zu sammeln. … Ein anderer hartnäckiger Bericht besagte, dass sie von ihren eigenen geisterhaften Schöpfungen in den Wahnsinn getrieben und in eine Anstalt eingewiesen worden sei. Ein unbedeutender Dichter jener Zeit brachte in aller Eile eine ‚Ode an Mrs. Radcliffe über ihren Wahnsinn‘ in Druck. Oft wurde öffentlich behauptet, sie sei tot, und in einigen Zeitungen erschienen Nachrufe auf sie. Das Lustige an der Sache ist, dass sie selbst sich nicht die Mühe machte, mehr als eine der irreführenden Meldungen zu widerlegen. In einer erstaunlichen Anekdote, die von Aline Grant, der Biografin von Mrs. Radcliffe, erzählt wird, wandte sich Robert Will, ein Schreiberling, nach einer Meldung über den Tod der Schriftstellerin an den Verleger Cadell und bot ihm eine Romanze – The Grave – unter dem Namen „The late Mrs. Radcliffe“ an. Daraufhin erschienen Anzeigen in den Zeitungen.

Amüsiert über diese lächerliche Nachricht kam Mrs. Radcliffe eines Abends am Soho Square an und stieg lautlos die steilen Stufen zum Dachboden von Robert Will hinauf. Sie öffnete geräuschlos die Tür und trat in eine kleine, schwarz verhangene Kammer, die mit Totenköpfen, Knochen und anderen Friedhofsutensilien geschmückt war. Eine Sanduhr stand auf einem Sarg, und ein Beistelltisch war mit gekreuzten Schwertern und einem Dolch geschmückt. Ein junger Mann in Mönchskutte arbeitete fieberhaft mit seinem Federkiel im Schein einer Kerze.

Mrs. Radcliffe setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und flüsterte: „Robert Will, was tust du hier?“
Dem jungen Mann standen vor Schreck die Haare zu Berge, als er die bleiche Erscheinung betrachtete, die im flackernden Licht grässlich wirkte. Ihre dünne, weiße Hand streckte sich langsam aus, ergriff das Manuskript und hielt es über die Kerzenflammen. Als es zu Asche zerfallen war, verließ die Besucherin den Raum so lautlos, wie sie ihn betreten hatte. Am nächsten Tag beeilte sich der verängstigte Robert Will, den Verleger zu informieren, dass der Geist von Mrs. Radcliffe das Manuskript verbrannt hatte.

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Kleewald Robinson

In der Staraba, einer Bar am Rande der Stadt, die bekannt war für ihre zwielichtigen Dienstleistungen – sogar eine Wochenzeitung gab man heraus, die gespickt war mit Kleinanzeigen, die ein Normalsterblicher nie hätte entziffern können – saßen Mention Handsome, der seine Frau umbringen lassen wollte und Carl Canal, der Chefredakteur besagter Wochenzeitung 23 Minuten vor der Sperrstunde am Tisch mit der Nummer 7. Die Zeitangabe ist nicht so wichtig, man sehe es mir als eine Marotte nach, die Tischnummer allerdings, die dürfen Sie sich merken, wenn Sie wollen.

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Eine Künstlerin der Selbstkasteiung

Vorher: Das Bielehaus

Sieben Jahre lang hatte ich nichts von ihr gehört, sie nicht gesehen. Es war, als wäre mein Ende gekommen, als wäre es schwer und schnell gekommen, als würde eine Tonnen schwere Bleikugel zu lange über mir schweben. Gespenster eines weiten Landes prozessierten in einem sich windenden Grau, verschwanden darin, schlummerten darin. In meinem Magen behielten sie Zerberusanteile, Sümpfe und stehende Kloaken zurück. Land nimmt auf, Land speichert Land, Zeiten, Epochen. Ich denke daran, wie lange sie sich nicht bewegen konnte, eingesperrt in einem Karton. Sie malte Puppen, als der Winter schon vor der Tür stand. Es war kein regulärer Winter, keine Jahreszeit, die sich durch vier teilen ließ. Diese Puppen mit den klebrigen Abdomen, die sich gegenseitig ein Auge ausstachen oder sich mit riesigen Messern selbst in Teile schnitten, hatten ihr Aussehen über die Jahre kaum verändert. Sie malte sich selbst ohne Haare, aus ihrem Unterleib spritzte Urin und sie nahm alle Farben des Regenbogens an. Sie war eine Künstlerin der Selbstkasteiung. Auf diesem Wege gelangt, was übrig bleibt, schneller unter die nasse, schwere Erde.

Als ich sie besuchte, fuhr ich mit der Bahn in den Norden. Zwölf Stunden lang konnte ich keinen Platz ergattern und lümmelte auf dem Boden mit jenen, die ihre mit Bier gefüllten Rucksäcke langsam und beständig leerten. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, lag sie betrunken und nackt im Garten meines dreißigsten Geburtstagsfestes, sehr blass, wie aus Marmor geschlagen. Jemand trug sie die Stufen nach oben und legte sie in ein Bett. Der Retter wusste nicht, wer sie war, aber das wusste sie ja selbst zu keinem Zeitpunkt.

Sieben Jahre: In dieser Zeit erneuert sich der Körper vollständig, man wird ein anderes Wesen sein. Sie hat in dieser Zeit nur durch ihre Bilder gemordet; für die physische Klimax fehlte ihr die Kraft. »Ich male, wie du schreibst: von Verrat und Tod«, empfing sie mich in ihrer Kemenate. Der Boden war voller Glasscherben, Hautfetzen und Blut. „Ich erforsche das Leben nicht, indem ich in Leibern wühle, sondern in mir selbst.“ Sie wischte die purpurnen Lachen mit einem Kleid auf, das sie sich danach überstreifte. Ich leckte die Wunden ihrer Beine, das war die einzige Körperlichkeit, die sie duldete. Das Messer, die Scherben, die Zunge.
Danach fuhren wir ins Krankenhaus, um ihre Schnitte nähen zu lassen.

Gestern zur Geisterstunde sah ich mich erneut in diesem Zug, der nach Gefängnis stank, fahren. Solange man unterwegs ist, kann man sich nicht auf die Festigkeit des Körpers verlassen. Alles ist vage, und die vorbeirauschende Landschaft zeigt, wie Veränderung aussieht.

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Die Engelmacherin

Oben am Kriegerdenkmal; erste Liaison mit einer, die im Damensattel ritt. Aufgespartes Pfläumchen, Wald und Pavillon zum tratschen, Hirsche zum schießen, alles kräftig begatten, jedes zweite Kind stirbt, alle Damen ran an den Halm, den Born aufgesperrt! Das kleine Ding durchlaucht.
»Ich sehe, Ihr seid gekommen!«
(Ja, was sonst, der einzige Spaß, etwas Verpothenes & Empörendes zu tun!) Wie würde das edle Ding auf eine Tüte Gummibären reagieren?
»Ich habe Euch Blumen mitgebracht!«
Dafür gibt sie nicht ihre Hand.

Das ungewaschene Bein hinaufschnuppern, mit der Nase in den Röcken verheddert verenden –
(Der Galan sieht aus wie ein Räuber!)
»Euch wächst noch nicht einmal Gesichtshaar!« Aber er hat einen feisten Händedruck, man merkt’s, wenn er rund herum die abgebundenen Taille tastet. Die Romanze beginnt mit der Neugier, das Aufsatteln ist ein Akt der Wonne, bei dem sie schreit wie ein abgestochenes Ferkel. (Wer braucht schon Hände!) Die Blumen fest in der Hand, Knöchel blank, der Rohling hechelt den Gestank des rohen Fleisches in ihr rosafarbenes Loch, garniert mit kleinen weißen Zähnchen, und zwischen den Beinen brennt der Scheiterhaufen und riecht auch noch nach Brandbeschleuniger.
Da geht sie : Au!, den Hain und Au!, das Pferd, flennt wie ein Rohrspatz, wie mit dem Kleid, den Röcken einen Stallboden aufgewischt. Die Kloaken der Jungstuten, das werden die urbanen Verhältnisse später notwendig machen, müssten betreut werden, hier ist nicht jeder Edelmann, da wird sich schon mal bedient, da wird sich hergegeben, wer soll’s denn richten, wenn nicht der Pfiffikus des Waldes?
»Ich habe Euch nun ein für allemal durchlaucht!«
(Das büßt er, der Knecht!)
Am Heuschuppen schnuppern; getraut er sich denn zurück nach dieser Szenerie? Das Hubertusrudel wird’s verbreiten, flüsternd : Das kleinste Dämelchen ist vom Pferd gefallen, hat sich an seltener Stelle verwundet, wie der Zufall es will. Rumtreiben, rumtreiben; da sind doch nur Holzfäller und kaiserliche Pilzpflücker am Werk! (– und Pferde Auf- und Absattler!)
Gar nicht so wie in den getürkten Geschichtsbüchern, wer von wem abstammt, Blickwinkel der Heraldik, so manch einer unter schöner Ornamentik dahingerafft, Blutleer, aber die Zeit war wer im Gegensatz zu allen Blödeleien der Moderne. Sowas wie Hosenbeine kaufen, keinen Rock tragen, etepeteten (anstatt trompeten), höfeln oder dienern, kratzbuckeln, und dann im Heu die dreckigen Gedanken der Mahlzeit der Pferde beigemischt!
»Das will ich jetzt aber genau wissen, dir läuft die Ehre die Beine runter, versickert in Fetzen! Im Grunde müsste man dich ersäufen oder alles verschweigen; doch das würfe Fragen auf, wenn du mit gespreizten Beinen die Decke anstarrtest, die Hecksen dir die Frucht aus dem Leib pellten. Da soll jemand auf den Umfang achten, die Zofen alles abschnüren!« – das enge Ding noch enger, die Libertines am gaffen, die Engelmacherin mit der brüllenden Kutsche eingefahren und begastet, als wäre sie nicht die, die dann ihre Tränke aus dem Tuch pult, von Welt gewandet, wie eine Schirmherrin schwarzer Künste.
Ersäufen oder verschweigen!
Während sie tatsächlich Risse und Speckflecke zählt, Stricknadeln in ihr pfuschen. Die berechtigte Frage, »Wieso denn?«, auf den bebenden Lippen. Hubertuston!
Der Hirsch, der ihr zwinkert, tot oder anderweitig beschäftigt, die Leber in einem Zwack herausgedampft und redlich getilgt, je nach Stand, frisches Blut, Organ aus dem Leib, die Frucht in der Kälte ein Klumpen blutiger Dotter, dampfend der Geist an der Speckdecke haftet, Formen choreografiert. Jemand betritt den Raum und ahnt es nicht, da kniet doch tatsächlich eine Vettel?
»Ich habe Euch Blumen mitgebracht!« (– oder allerlei Beeren, die ich fand.)
»Stellen Sie’s ab, und sagen Sie mal, tickt die Uhr da?«

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Villon

Hier werden sie mich nicht finden. Hier werden sie mich endlich für eine faulende Leiche halten; doch keiner ahnt, dass nicht die Maden mich, sondern ich immer noch die Maden fresse.

Die Scheiterhaufen brennen, die Henkersknoten tanzen. Dolche werden in die Leiber versenkt, aber ich, ich bin dem Leben längst entflohen.

Meine Balladen werden sie in Schenken plärren, am Galgen noch ein letztes Wort, solange ihnen der Kragen noch nicht zu eng geworden. Rühmen werden sie sich, mich gekannt zu haben, den Vagant und Desperado, den einen oder anderen Körper mit mir zusammen bestiegen zu haben. Doch geliebt habe ich immer alleine. Welch üppige Mahlzeit bereitete mir ein rotes Weib! Wie ergoss ich mich in den Sommern! Man erkannte mich lange genug an der Henkers-schlinge um meinen Hals, die ich zum Spott in jede Stadt hineintrug wie ein kostbares Schmuckstück, das ich in Wirklichkeit nie besaß. Da gafften sie, nicht wahr, ihr gafftet alle! Denn soviel Frevel schien euch der Allmächtige nicht in eurem Verstand unterzubringen. Ich bin der Rotz, der Deibel, der Aussatz. Habt ihr das nicht gesagt? Von der Brut aller Huren! Und das Leben ergab sich mir wie ein Geschenk, es wollte gelebt werden von mir, denn es galt, einen Pakt zu erfüllen: Mir das Leben, dafür aber Acht und Bann! Mir den Gesang, dafür eine durstige Kehle! Mir die guten Fötzlein, dafür niemals eine Gefährtin!

Aber wer im Nehmen konnte besser sein als ich, denn ich nahm den freien Himmel und ich nahm jedes Stückchen Staub in diesem Räuberkessel der Welt. Wenn es eine Hölle gibt, dann haben sie sich dort eingerichtet mit ihrem Silber und Gold, denn an welchem Platze könnte man seinem Lotterleben besser frönen, als unter den Verängstigten und Eigenen? Dahin haben sie mich nie gebracht und nun sind sie mich los, weil ich verschwunden bin. Spurlos. Nein, ich werde nicht die geringste Spur von mir hinterlassen, nicht eine! Ich werde verstummen, denn mein Testament wurde längst geschrieben.

Oh Guillaume! Nur an dich gedenke ich noch in Freundschaft! Deine verzeihende Hand lässt mich auch in dieser Stunde nicht los und berührt mich da, wo auch ich das Herz sitzen habe, Hund und Ungeheuer, das man mich schimpft. Ja, Guillaume! Dein missratener Pflegesohn steht in diesem Herbst vor den geöffneten Toren des Abyssos und träumt. Und er wird den Weg gehen, hinaus aus des Menschen Pfuhl. Wie oft habe ich ihnen meine Venusinen vorgetragen? Daran werden sie noch denken, wenn sie dem Schwulst und der Schnörkel der Dichter überdrüssig sind, jenen gansigen Männlein, die noch nie ein Elend angefasst, außer ihrem eigenen! Die sich in der Wirklichkeit flüchten, weil ihnen die bunte Welt nicht taugt und sich Doktrin über Doktrin geben lassen von Parteien und Gemeinschaften, die ihnen Schnallen ums Maul binden. Was wären diese doch für armselige Kreaturen, dächten sie einmal nur der Freiheit Sinn und verlören ihren Brotherrn! Denen sprechen sie nach dem Maul in fetten Versen und herzloser Schmiererei! Aber mich wollen sie zum Schund und Schmutze werfen. Ja, genau! Das Leben ist eine kostbare Vulgarität, das kann man sich nicht abwaschen im Bade, im Parfum. Laben sich an des Königs Lambretten und ich trag tagein tagaus den Bettelsack, weil ich doch sehen will, woʼs hingeht und woʼs ankommt, was ich aus meinem Bauch herausfließen lasse. So istʼs ein Teil von mir, dem ich nicht abscheulich bin.

Die Troubadoure, die scheißen und die pissen nicht, die schwitzen es sich durch die Haut, die genauso fahl wie jede andere aus ihren feisten Kleidern spickt. Aber hätten sie jemals nur den Aufruhr des Blutes erlebt und besungen, dann rutschte das, was in ihrem Kopfe klingt, eine Etage tiefer, dort hinein, wo die echten Glocken sitzen. Aber selbst der Vollmond, der mit dem Gesicht eines sehr schönen Mädchens im Verse gefüllt wird, glotzt dumpf wie ein Schaf von oben herab und fühlt die Liebe nur im Taschentuch, das bedauerliche Tränen auffängt, weil es juckt unterm Kleid und das Jucken in keiner Strophe abgehandelt wird. Man möchte ihnen gerade helfen und sie zusehen lassen dort im Stroh, wo die Stute nass läuft. Da hat aber doch der ärmste Stallknecht noch mehr Freude daran. Die Liebe! Die Liebe! Das ist ein unnützes Ding aus Brokat für diese feinen Wichte mit ihren Schmalzlippen und starren Strümpfen.

Tharanne! Gib du gut acht auf meine Moritaten und Bänkellieder, die dir stets sagen, wo ich gefunden, was ich je gesucht und alles, was mir sonst noch widerfahren genannt werden kann.

Jetzt habe ich euch alle zurückgelassen, auch dich, Marie, die du mir die Backen rundfüttern wolltest bis die Pflaumenbäume blühen. Aber ich musste hinaus, ja ich muss hinfort und auch der Freunde nur mehr gedenken, als dass ich sie mich wiedersehen lassen könnte. Ich bin ein Blatt im Wind, der ewig bläst und mir die Haare längst schon hat vom Kopf gefressen. Mein Gesicht kann er gut erkennen, hat er es doch höchstselbst die Jahre modelliert. So wird er mich denn immer finden und singt mit mir, den dennoch Trauer stets begleitet. Du hast es in mir gesehen, Marie und wolltest mein Blut nur kochen lassen, um neue Balladen zu sinnen. Doch ich bin stumm, weil keine Zeit mich Neues lehrt, als dass der Mensch ein Lügenwurm und die Lügen sich gerne verstecken mögen in Hochwohlgeborenen und Tonangebern. Denen traut man nicht, wenn man auch nur etwas versteht. Hier findet man mich nicht und keinen Ort mehr will ich nennen, wenn es nicht mein geliebtes und glühendes Paris sein kann. Die Verbannung wird sich nicht mehr kehren lassen und an einem anderen Ort möchte ich nur, dass ein Strauch mich krault, bevor ich ihm zum Abschied winke. Denn keine Frau auf Erden küsst so süß wie die schönen Frauen von Paris.

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Das Gelenk des Mastodons

Wie schauderhaft es doch ist, sich so allein zu wähnen. Die Welt um mich herum ist ein unmenschlicher Auswuchs. Die Balztänze der Natur ein hassverzerrtes Gesicht, von einer utopischen Hitze untermalt.

Kaum berührte ich es, zerfiel etwas im Innern dieses Tongefäßes zu Staub. Ein Papyrus – ich rate das, erfahren werde ich es wohl nie – wird sich durch diese leichte Erschütterung in seine Bestandteile aufgelöst haben, ähnlich einem Gegenstand, der verbrannt wurde und noch eine Weile seine bereits ausgelöschte Struktur in Form von Asche aufrecht erhält, bevor der leiseste Hauch dafür sorgt, die Illusion zu vernichten.

Jetzt zerfalle auch ich zu Staub. Meine Hand zitterte beim Öffnen des Gefäßes, aber es war der Sauerstoff, der mit Schwert und Schwefel auszog, um seinen Akt der Auslöschung zu beginnen.

Zunächst ließ sich der schüsselartige Deckel nicht abnehmen. Ich musste meine beiden Hände mit dem wenigen Wasser befeuchten, das mir noch geblieben war. Gerne hätte ich es mit Spucke probiert, aber es war nur Wüstensand zwischen meinen krächzenden Zähnen, eine vermoderte Zunge.

Nichts ist gegen das Sterben einzuwenden, nicht hier, an einem Ort, der das Sterben bedingt, der sich seit dem Miozän nicht verändert hat, der keine Zeit in seinem veränderten Raum duldet. Nichts bewegt sich. Mürbe bin ich, mein Atem ein Keuchen, darüber glotzende, starre Augen. Ich muss den ganzen Kopf schwenken, wenn ich meine Augen irgendwohin richten will, schwenke Grad um Grad… ich liege ja bereits, das Rückgrat durchgebogen, bäuchlings, aufgestemmt, ein zitternder, ausgedörrter Affe. Ich habe meine Großartigkeit vergessen. Ich betrachte das Ende der Welt, selbst am eigenen Leib zu Pergament getrocknet; dieser eine Verzweiflungsakt noch … »Komm schon, Leib!«

Bis hier hin und nicht weiter! Warum auch weiter – und vor allem: wohin weiter? Um mich herum lauern aufgetürmte Wände, kaum gealtert unter der Hitze der Staubhände.

Ich habe dieses Zeug eingeatmet, diesen kranken Zerfall. Überraschend schlagen meine Lungen aus, spannen sich, als ob sie das Fliegen lernen müssten. Ich huste mit ihnen davon in eine rote Ohnmacht … da ist doch noch ein Rest Speichel in meinen Drüsen … nein, mir rinnt bloß die Galle aus!

Eine Stunde später

Kann meine Wange nicht vom Stein lösen! Grüne, üppige Wiesen tändeln vorbei, ein Traum, oder die Erinnerung an ein Land, aus dem ich vor tausenden von Jahren floh, um ein Hirngespinst zu finden. Ich habe das zerfallene Linnen inhaliert, meine Sinne sind von einem dauernden Lechzen nach völligem Zusammenbruch infiziert … Jericho … älteste bekannte Stadt … »Stimmt aber nicht, mit Catal Höyük ist zu rechnen!« So kann man mir keine Lügen unterbreiten … und dann fällt mir auch das noch ein … na, war wohl doch mehr Erinnerung als Traum. (Aber was fasele ich da von Unterschieden? Jede Erinnerung ist ein Traum!) Zum Beispiel erinnere ich mich an die disharmonischen Unterhaltungen, die ich mit meinen Kommilitonen geführt hatte, diesem potverrauchten Gelichter … alles nur spekulatives Reden.

Für einen Moment ist mir, als habe ich etwas gehört, ich löse mich auf! Schnell das noch … leicht ist das Denken, wenn man eine grüne Wiese unter seinem Hintern spürt, milchgetünchte Lippen und einen vollen Wanst unter die Sonnenscheibe legt! Die Ohren sausen noch von buchstabengetreuen Worten, die Faulheit lässt sich regeln, man fühlt sich ganz allmächtig (muss ja nur alles nachäffen), und bei zwei von hundert (ich übertreibe wieder), pflanzt sich ein Keimling tief ins Nichts, das schon Aristoteles mechanisch belegen wollte … die Seele! Noch unbestimmt – woher soll der Keim auch jetzt schon wissen, was aus ihm einst blüht? Schlummert in Regionen, die kein Mensch begreifen kann. Begriff, Griff: ich wäre ja blödsinnig gewesen, wenn ich da schon gewusst hätte, dass ich mich durch diese verdammte Wüste schleppen würde, um die Existenz des Menschen in der miozänen Periode des Tertiärs zu beweisen! Da sieht man doch, zu was so ein Keim gut ist … Phantasmen schmieren aus dem Hirn … Ich weiß ja nichts von diesem Keim, der bereits beginnt, mich zu verklären. Warum fällt mir auch ausgerechnet ein botanischer Begriff ein? Wiese, Keim … ich arbeite an einem Katalog!

Abend

Liege seit Stunden in dieser Stellung. So wird man mich finden, aber das dauert. Ich kann ja nicht sagen, daß ich gespannt bin, für wen ich das zerfallende Papier sein werde. Seitdem sich das Zeug in meinen Lungen tummelt, muss ich flacher atmen, war doch mehr als ich dachte. Kalt ist es obendrein … fertigerzählen! Jericho also, Catal erwähnte ich, spielt aber nicht wirklich eine Rolle. Die Erfindung der Stadt ging beschlussmäßig vonstatten, als hätte eine vermeintliche Führungsschicht die Erfindung der Stadt angeordnet … ist doch das gleiche wie mit der Schrift (dieser Betrug, den man allen einimpft, der alles auf die Sumerer festnagelt). Die Entdeckung der Tontafeln von Tartaria, die zweitausend Jahre älter sind, hat es wohl nie gegeben! Das Husten wird schlimmer, ich komme nicht mehr an diesen Schlauch … ach, wäre das jetzt eine Pracht, zu ersaufen! Freiwillig würde ich mich dafür hergeben, einmal Kielholen zu dürfen, freiwillig!

Menschenleer, das habe ich mir immer gesagt, Menschenleeres muss man sich ersehnen, und dann muss man sich aufmachen … Da! Wieder hab ich es gesehen! Da schleicht was! Wer will mir durch die Wüste gefolgt sein? Am Ende habe ich gar einen Wächter aufgescheucht – der sieht genüsslich meinem Ende zu!

Nacht

Jetzt, ich kann mich nicht mehr rühren! Ich besitze gutes Wissen darum, dass es eiskalt sein muss, kein Gefühl steckt in diesem ausgedörrten Ding von einem Körper … hätte ich doch nur gewusst, was auf diesem Fetzen stand, dann wäre mir wohler. Geheimnis vor dem Tode … romantisch, wenn man denkt …

Nachtrag

Im Journal of the Royal Institute of Great Britain and Ireland schrieb Frank Calvert 1874:

Ich hatte das Glück, unweit der Dardanellen schlüssige Beweise für die Existenz des Menschen in der miozänen Periode des Tertiärs zu entdecken. Vor der Stirnseite einer Felswand, die sich aus Schichten jener Periode zusammensetzt, in einer geologischen Tiefe von 800 Fuß, habe ich die Leiche eines jungen Mannes entdeckt, der in seinen Händen das Fragment eines Gelenks geborgen hielt, das zum Knochen eines Dinotheriums oder eines Mastodons gehört, an dessen konvexer Seite tief und unverkennbar die Figur eines gehörnten Vierfüßlers mit gebogenem Hals, rautenförmiger Brust, langem Körper, geraden Vorderbeinen und breiten Füßen eingeschnitzt ist. Ich habe an verschiedenen Stellen der Felswand, nicht weit vom Fundort des gravierten Knochens, einen Feuersteinsplitter und einige Tierknochen gefunden, die in Längsrichtung zerbrochen waren, was offensichtlich von Menschenhand geschah, um das Knochenmark herauszuholen, wie es die Praxis aller primitiver Völker ist. Das einzige Rätsel, das bleibt, ist der junge Mann selbst, der neben einem vollen Wasserschlauch gelegen hat, und offensichtlich am Sand erstickt ist, den er scheinbar mutwillig inhaliert hat. Eine Autopsie hat ergeben, dass der Körper mit einem starken Gift infiziert war, dessen Ursprung ungeklärt ist. Das Gelenk des Mastodons stammt allerdings unzweifelhaft aus der Felswand, jedoch kann nicht angegeben werden, wie es ausgerechnet in die Hände des auf so seltsame Weise Verstorbenen gelangen konnte.

Journal

Das Haus am Meer

Die Tatzen zitterten über den Sand, bevor das blaue Meer folgte und die Abdrücke wieder verschlang. Nur das Flackern einer jahrtausendalten Geschichte, die sich so lange wiederholt, bis der Strand abgeschliffen ist. Doch vorher muss der Brunnen werden. In Wirklichkeit zieht sich nämlich das Meer zurück und hinterlässt nur seine Schattenwelten.

Sehr früh schon huschte sie in Kleidern aus dem Haus, gefolgt von der dünnen Luft, die sich über Nacht in ihrer Kammer aufgetürmt hatte ohne entweichen zu können. Natürlich wusste sie auch diesmal nicht, wo sie graben sollte, ein Traum aber hatte ihr gesagt, die Tiefe warte bereits auf das Eisen des Spatens.

Das Meer rauschte unbekümmert ihres angestrengten Gebarens vor und zurück. Nichts deutete auf eine kommende Wüste hin, doch sie hatte sie bereits im Salz geschmeckt. Einen Tag mehr, einen anderen weniger. Vor und zurück. Einen Brunnen vor dem Meer zu bauen schien die einzige Lösung zu sein, also hieb sie so fest sie konnte in den Sand, aber schon waren die Tatzen über der ersten kleinen Kuhle und ebneten alles wieder ein. Wenn sie doch nur wüsste, wo sie graben sollte.

Noch bevor sich die Sonne sehen ließ, eilte sie zurück ins Haus, denn wer immer sie im Tageslicht gesehen hätte, würde sie eingefangen haben wollen. Drinnen saß sie still, aber nicht regungslos. Niemand kam vorbei und neimand klopfte an die Tür.

Sie war durch einen einsamen Wald gehetzt und verfing sich mit ihren wehenden Haaren so oft an den plötzlich auftauchenden Ästen, dass sie fürchten musste, bald keine mehr zu besitzen, aber zumindest blieb ihr Gefieder intakt. Sie lief im Kreis, aber das wusste sie bereits, bevor sie eine Begegnung mit einem ihrer ausgerissenen Haarbüschel hatte. Es war noch ein weiter Weg bis zum Meer.

Das Haus stand leer als sie es fand, zumindest war es seit Langem unbewohnt. Aber auch das stimmte nicht, denn es hatte auf sie gewartet, was für sie leicht zu erkennen war, als sie die Schwelle übertrat. Sicher hätte es sich gewehrt, wenn es mit ihr nicht einverstanden gewesen wäre. Es hätte sie vermutlich gar nicht eingelassen, denn die Waffen eines Hauses waren vielfältiger Natur, reichten von simplen Alpträumen bis zur gefährlichen Präsenz aufgebotener Geister, die aus der Erde nach oben gerufen wurden oder aus den Wänden traten, um die Art von Verwirrung zu stiften, die dann zu einem Unfall führen konnte.

Was sie aber sah, war Staub, von dem sie glaubte, das er ebenso alt war wie sie selbst. Er bedeckte zentimeterdick den Boden, tanzte vor den Fenstern im einfallenden Sonnenlicht und legte sich auf die zurückgebliebene Einrichtung, die aussah, als wäre sie älter als das Haus. An den Wänden klebten Salzablagerungen, aber das Meer hatte hier keinen Anspruch geltend machen können. Die Trockenheit war keines natürlichen Ursprungs.

Vielleicht wollte das Haus nicht, dass sie einen Brunnen grub, aber genau das würde sie tun, dafür war sie hergekommen. Es begagte ihr nicht, den Staub zu beseitigen und deshalb ließ sie sich Zeit, hörte auf das Ächzen und Stöhnen der Konstruktion, auf ein Zeichen des Missallensm, aber es gab nichts dergleichen. Allerdings war sie nicht verwundert darüber, keine Wasserleitung im ganzen Haus zu finden. Selbst der Abtritt oben unter dem Dach war eine trockene Röhre.

Das Haus verabscheute das Meer und das Meer zog sich zurück. Nur manchmal kamen die Tatzen zum Vorschein, wollten einen Körper aus den Wellen ziehen, der auf das Haus zugekrochen käme, aber noch gelang ihm das nicht.