Wer schreibt, liest. Das eine bedingt das andere: eine Binsenweisheit. Nur ist es nicht immer so, dass man das schreibt, was man liest. Der Leseprozess selbst ist ein Schreibprozess, zumindest dann, wenn man lesen kann. Was sich wie Provokation anhört, ist gar nicht so unerhört, denn beim Lesen entsteht ein Gedankenraum im Leser, der vom Autor gar nicht intendiert war, von dem er nie Kenntnis haben wird, denn der Autor wird nie Leser seines Buches sein, sondern immer nur der anderen. Der Autor ist also vom Lesen ausgenommen, auch wenn es sich bei dieser Blockade nur um seine Bücher handelt. Der Schreiber öffnet einen Gedankenraum, den er vom Lesen kennt, und dann taucht er seine Feder ein und zeichnet aufs Papier, was er beim reinen Lesen ohne seine Hand erkennt. Jeder spürt die Gefahr, die beim Schreiben vom ersten Augenblick da ist. Die meisten ignorieren sie, andere lassen sich von dieser Gefahr treiben. Diese Lebensgefahr wird sie zur Meisterschaft bringen.
Zwischen Spiegel, Masken und Symbol: Eine literarische Deutung von „Morena“
Morena von Michael Perkampus, ist ein poetisch dichter, in suggestiver Sprache verfasster Prosatext, und lädt den Leser von der ersten Zeile an in eine Welt des Ambigen, Unaussprechlichen und Symbolisch-Aufgeladenen ein. In ihrer schwer fassbaren Erscheinung wird die titelgebende Figur zur Projektionsfläche eines Ich-Erzählers, dessen Begegnung mit ihr zwischen intellektueller Erhebung, erotischer Faszination und psychischer Zerrüttung oszilliert. Der Text verweigert sich einer linearen Narration und entfaltet seine Wirkung vielmehr im Sinne symbolistischer und dekadenter Ästhetik, die den Übergang zwischen Bewusstsein, Traum und Halluzination zum eigentlichen Erzählraum erklärt.
Schon die Einleitung legt den mythischen Ton fest: Morena wird eingeführt als eine „überirdische Schönheit“, die gleichsam einem uralten Geschlecht entstammt und deren Aura potenzielle Bewerber gleichermaßen anzieht wie abschreckt. Der Ich-Erzähler nähert sich ihr nicht durch Leidenschaft oder Mut, sondern durch eine Art intellektueller Zurückhaltung – ein Zugang, der weniger auf Handlung als auf Erkenntnis abzielt. In der Nähe Morenas erhebt sich das Ich zu philosophischen Höhen, spricht über Jakob Böhme, über alchimistische Poetik, über Widerspruch als schöpferisches Prinzip. Schon hier deutet sich an, dass die Begegnung nicht empirischer, sondern symbolischer Natur ist. Morena wird nicht als realistische Figur gezeichnet, sondern als katalytisches Prinzip, das das Subjekt zu transzendieren scheint.
Diese Art der figuralen Überhöhung erinnert an die literarischen Frauengestalten des Symbolismus und der Dekadenz: an die mystische Ligeia bei Edgar Allan Poe, an Moreaus Salome-Bilder oder an Joris-Karl Huysmans‘ desillusionierte Schönheitsphantasmen. Die Frau wird zum Spiegel des männlichen Selbst, zum Ort metaphysischer Projektion. In Bruno Schulz’ Zimtläden etwa erscheinen weibliche Gestalten nicht als Individuen, sondern als transformierende Mächte des Raums – so wie Morena nicht einfach „ist“, sondern fortwährend „wird“. Sie ist Maske, Bandage, Atemgerät, Kleid mit Brandflecken – sie wechselt ihre Erscheinung wie ein mythologisches Wesen, das zwischen Krankheit, Verklärung und Subversion changiert.
Der Text gewinnt seine eigentliche Stärke in jenen Szenen, in denen Realität, Erinnerung und Assoziation ineinanderfließen. So etwa, wenn der Erzähler Morena später in einem Schnellrestaurant trifft – ein profaner, kapitalistisch aufgeladener Ort, der im Kontrast zur mystischen Aura der früheren Begegnungen steht. Doch auch hier bleibt Morena von Rätseln umgeben: Ihre Maske ist verschwunden, ihre Wunden geheilt, doch das Kleid ist verräterisch gezeichnet. In der Folge kommt es zu einer irritierenden Handlung: Der Erzähler greift unvermittelt nach ihrer Brust. Diese Szene wirkt wie ein brutaler Einbruch des Körperlichen, ja des Übergriffs, in eine zuvor von symbolischer Codierung getragene Atmosphäre. Zugleich aber bricht hier auch das Subjekt zusammen: Die Fische auf dem Teller stieben über die Fliesen, als wollten sie „zurück ins Meer“ – eine starke metonymische Geste für Flucht, Rückkehr zum Ursprung oder Scheitern der Synthese von Begehren und Symbol.
Besonders aufschlussreich ist der wiederkehrende Spiegel mit der Inschrift „Ich habe nie…“ – ein Satz, der sich jeder Vollendung verweigert. Dieses motivische Fragment verweist auf das poststrukturalistische Moment des Textes: Die Bedeutung bleibt offen, verschoben, aufgeschoben – was Derrida als différance bezeichnet. Es ist das Versprechen einer Wahrheit, die sich der Sprache entzieht, ein Nicht-Gesagtes, das zwischen Leser und Text schwebt. In psychoanalytischer Lesart könnte diese Leerstelle als Verdrängung gelesen werden, als Hinweis auf das Unbewusste, das nicht artikuliert werden kann, sondern als Lücke zurückbleibt.
Der Text operiert mit klaren Elementen einer hermetischen Poetik: Spiegelsymbolik, mystische Philosophie, wiederkehrende Motive der Transfiguration. In dieser Hinsicht nähert er sich dem Werk von Gustav Meyrink an, insbesondere dem Golem, in dem das Ich durch eine symbolisch verdichtete Welt wandert, die weniger äußere Wirklichkeit als innerer Zustand ist. Ebenso ist eine Nähe zu Jorge Luis Borges’ Texten spürbar – etwa in der doppelbödigen Spiegelstruktur, im Verschmelzen von Text, Erinnerung und Metapher. Morena könnte als Borges’sches Symbol gelesen werden: eine Figur, die nicht existiert, sondern Bedeutung produziert. Der Spiegel, in dem sie erscheint, ist nie neutral: Er zeigt das Ich, das es nicht erkennt.
Letztlich ist Morena kein Text, der sich entwirren lässt – und darin liegt seine literarische Qualität. Es ist ein dichter, vielfach gebrochener Raum der Deutung, der zwischen Eros, Erkenntnis, Scheitern und Schweigen schwebt. Der Schluss – „Was wollte ich sie fragen?“ – öffnet nicht nur den Blick auf eine verpasste Gelegenheit, sondern formuliert das Wesen des Textes selbst: eine Frage, die unbeantwortet bleibt, weil sie vielleicht nie gestellt werden konnte. In dieser schwebenden Unschärfe liegt die größte Nähe zur symbolistischen und surrealistischen Literatur: Sie will nicht erklären – sie will erfahren werden.
— Ende —
Morena
Morena erschien mir von unserer ersten Begegnung an als eine überirdische Schönheit, und es darf nicht verwundern, dass sie, die auf einen uralten Stammbaum zurückblicken konnte, im besten Alter für eine Frau, noch nicht geehelicht wurde. Merkwürdig waren die Geschichten, die man sich über ihre Schönheit erzählte, und erste ernstgemeinte Avancen kamen wohl aus Furcht nicht zustande, denn man wusste in den sie umgebenden Kreisen sehr wohl, dass man sich immer auch den Ahnen zu stellen hatte, die das Geschlecht einst groß gemacht. Wehe dem, der sich nicht als würdig erweisen sollte, der zögert, wenn es gilt, nach vorne zu stoßen, oder der, andersherum, voller Übermut eine ganze Bresche allein zu füllen versucht. Ich war weder von der einen noch von der anderen Sorte und wurde wohl von ihr angehört, weil ich weder stürmte und drängte, noch die übliche Furcht vor ihrer Aura zeigte. In ihrer Nähe wurde ich stets von einer Kraft erfasst, die mir ermöglichte, philosophische Höhen zu erklimmen und etwa über Jakob Böhme, der bei diesen Gesellschaften zu dieser Zeit gern diskutiert wurde, zu parlieren, als wäre ich je ein Studiosus gewesen und hätte die Aurora nicht nur gelesen, sondern verstanden. Morena bedachte mich dann mit Blicken, die mich aufforderten, nur weiter so kühn von der alchimistisch-poetischen Machart zu sprechen und gerade den Gedanken vom Widerspruch als ein notwendiges Moment weiter zu verfolgen. So sprach ich oft vor ihr und ahnte nicht, dass ich gerade das, wovor sich die meisten fürchteten, heraufbeschwor.
Auf dem aus der Wand gewölbten Spiegel stand die Rechtfertigung gegenüber meines Verdachts, den ich vielleicht erst etwas später hätte äußern sollen.
»Ich habe nie …« Dabei war dieser Gedanke nie ausgesprochen worden, meine hängende Mundpartie hätte sich gar nicht um die vorgesehenen Worte wölben können. Also schwieg ich.
Ich hatte sie im Raubvogelgehege stehen lassen, konnte mich nicht dazu entschließen, auf sie zuzugehen, beobachtete sie dabei, wie sie einen verbrannten Engel küsste. Aber das war es nicht, was mich veranlasste, ihr zuzusehen und mich dabei hinter einem gefiederten Baum zu verstecken. Meine Augen wären ihr dabei vielleicht nicht willkommen, und wenn nicht meine Augen, dann vielleicht ihr Blick.
Es waren ihre bandagierten Arme, die mich neugierig machten (den Engel erkannte ich, um die Wahrheit zu sagen, auch erst viel später), und nicht zuletzt ihr Atemgerät, das ihr aus dem Gesicht ragte wie eine Radarfalle. Da kannte ich sie noch nicht.
Später traf ich sie noch einmal, sie fiel mir durch ihr verräterisches Kleid auf. Ihre Maske hatte sie nicht mehr bei sich und auch ihre Arme waren ohne Wunden, die eine Verhüllung erforderlich gemacht hätten. Nur ihr Kleid und die Brandflecken darauf. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Teller mit in Öl zerlassenen, kleinen Fischen – Sprotten, um es genau zu sagen. Der Ausgang war nicht weit, aber man wurde stets durch ein Schnellrestaurant geschleust, bevor man nach draußen kam. Die Tür öffnete sich erst, wenn man etwas verzehrt hatte (oder wenn man etwas zu Verzehrendes gekauft hatte; ob man es dann liegen ließ oder in den Papierkorb warf – es war pures Kalkül, dass es nur einen Papierkorb gab, so wurde an das moralische Empfinden appelliert – blieb der eigenen Strategie überlassen).
Ich sprach sie natürlich nicht an, aber ich schlenderte hinüber zu ihrem Tisch und grapschte nach jener Brust, die auf meiner Seite lag. Hätte sie die Maske noch getragen, hätte ich es nicht gewagt.
Ihr Teller zerbarst auf dem kargen Boden und die Fische schlitterten über die Fließen, als hätten sie es eilig, wieder zurück ins Meer zu finden. Aber sie fanden es nicht, verteilten nur das Öl und blieben liegen, wo sie waren.
Ich kann nicht genau sagen, was dann geschah. Erst jetzt erinnere ich mich an die krümeligen Reste ihrer Wimpern, die sie im Waschbecken hinterließ, an eine gesalzene Seezunge im Kühlschrank. Ich schaue mir ihre Handschrift auf dem Spiegel noch einmal an: »Ich habe nie …«
Was wollte ich sie fragen?
Vor einem Regal der Toten
Ich könnte singen von den unheilvollen und drohenden Dingen, den toten und vergessenen. Doch werde ich je wieder reisen durch den vom Wahnsinn gelb gefärbten Nebel des Vergessens, zu den Gestaden fremder Wirklichkeit? Fände ich überhaupt den Weg zurück, der mir damals so zufällig erschien wie einst Rip van Winkle sich über das Auftauchen einer flämischen Gesellschaft verwunderte? Mir selbst wurden keine Jahrzehnte durch einen sonderbaren Schnaps gestohlen, noch nicht einmal Jahre, aber von den merkwürdigen Festen wie in den Tiefen des verhängnisvollen Venusbergs könnte auch ich berichten. Doch wüsste ich nie zu sagen, was sich daran mit mit meinen halluzinatorischen Träumen mischte, denn eines ist mir klar geworden: Es gibt unterschiedliche Arten des nächtlichen Gespinstes und mindestens eines davon eröffnet uns das Jenseits mit seiner unendlichen Weite. Es ist für mich gar nicht ausgeschlossen, dass, sobald wir unserer so stabiles Sternensystem verlassen würden, wir auch außerhalb unserer fleißigen Schlaftätigkeiten dorthin gelangen könnten, allein deshalb, weil wir unsere Körper nicht behalten dürften und stürben; d.h., es stürbe das, was wir in unserer Welt so sehr benötigen, und wenn wir es verlieren, geistern wir umher, unfähig, weiter zu träumen, weil wir in einem derartigen Zustand schlicht all unsere Erinnerungen für einen Traum halten. So nötig haben wir den Schutzschild der Materie, dass wir um seinen Verlust so sehr bangen wie um nichts anderes. Es mag sein, dass wir die Geister deshalb fürchten. Sie zeigen uns, dass wir auch im Tode nicht entkommen können und endlos weiterspielen müssen. Sie zeigen uns durch ihre finsteren Auftritte, wie wichtig die Wiederholung ist und wie sich eben alles so lange wiederholt, bis das Wort Ewigkeit seine Berechtigung erlangt.
Es gibt Geschichten, die man sich ausdenken möchte, um dann zu erkennen, dass sie wahr sind. Das gleiche gilt andersherum. Eine Erinnerung, auf die man Stein und Bein schwören möchte, erweist sich als falsch. Und dann gibt es die Mischverhältnisse in verschiedenen Abstufungen. Was die Realität ist, werden wir nie herausfinden, und das Geheimnis der Fiktion ist längst legendär. Ich erinnere mich an mein Leben wie an eine Geschichte, die ich gelesen habe. Es gab eine Zeit, da ich mit den Surrealisten in Paris träumte und vielleicht hatten sie, Jahrzehnte vor meiner Geburt, von mir gehört. 1990 las ich ihre Aufzeichnungen, Pamphlete und Manifeste, um zu sehen, ob ich irgendwo darin verzeichnet war. Dann aber fiel mir ein, dass ich lange vor meiner Geburt mit einem anderen Namen ausgestattet war. Zumindest hörte ich nichts von mir, wie ich mich kannte. Man erwacht und steht vor einem Regal der Toten. Alles, was von ihnen übriggeblieben ist, ist das, was man aus ihren Gedanken macht.