Die Bildsprache des Alfred Kubin

Geschrieben von Iris Nebel

Auf der nördlichen Seite des Hauses liegt eine schattige Terrasse. Hierhin verirrt sich ab und an ein Vogel, der beim Überflug gegen eine Scheibe knallt und dann tot auf den Steinen liegt. Gerade gibt es Streit, wer ihn dort wegräumt.

Auf der Südseite scheint trotz Kälte und Schnee der Frühling ausgebrochen, denn eine Schaar von Spatzen zwitschert recht munter und macht fröhlich Beute auf dem Balkon mit dem Vogelfutter.

Beute machen…

Ich bin der Überzeugung, dass es in allen Dingen, Wesen und Erscheinungen noch eine andere Seite, als die der sichtbaren gibt. Hier und da kann man urplötzlich winzige Partikel von ihr erahnen, und, wie Michael Perkampus schreibt, sie bspw. „in den Augenwinkeln“, „hinter einer Pfütze oder einem Spiegel“ für den Bruchteil von Sekunden erhaschen (und daraus künstlerische Beute machen). Vielleicht braucht es aber auch nur etwas Übung, um mehr davon zu sehen… oder aber ein traumatisches Erlebnis, das unsere Scheinwirklichkeit entlarvt…

Anfang der 80er, als ich meine „erste Begegnung“ mit Alfred Kubin hatte, lebte ich auf der Seite Deutschlands, in der 1981 eine Linzensausgabe von Reclam in Leipzig erschien: Die andere Seite.
Im Kino zeigte man zudem eine Verfilmung dieses Romans – oder besser gesagt: einen vom Roman angeregten Film.

Es muss Traumstadt aus dem Jahr 1973 von Johannes Schaaf mit Rosemarie Fendel und Per Oscarsson gewesen sein… denn einen anderen Film darüber gibt es anscheinend (noch) nicht.

Staub, nichts als Staub und eine alptraumhaft-apokalyptische Stimmung mit dem ungeheuren Reiz des Fantastischen, hinter all den grauen Mauern mit den rußenden Schloten, die an jene der benachbarten Chemiefabrik in Bitterfeld-Wolfen und an den Braunkohleabbau in der Region erinnerten.. ein Gruselgefühl ist bis heute in tiefster Erinnerung…

Ich war vollkommen hin und weg…  gefesselt…

Der Film, so in meiner Erinnerung, schaffte es, im Gegensatz zu den meisten Romanverfilmungen, in vollkommener Weise, jene Atmosphäre von der im weiteren die Rede sein wird, wiederzugeben, die in vielen Werken Kubins zum Ausdruck kommt.

Den Künstler Alfred Kubin lernte ich zwar mit den zur Reclamausgabe gehörenden Illustrationen kennen, aber sein bildkünstlerisches Werk war damals im anderen Teil Deutschlands noch nicht zugänglich.

Eine ähnliche Stimmung, zwar nicht dieser komplexen Natur wie im Roman, der 1908 aus einer Schaffenskrise heraus entstand und 1909 mit 52 Illustrationen Kubins im Verlag G. Müller, München und Leipzig veröffentlicht wurde, entsteht bei der Betrachtung dieses Tuschebildes von 1902/03: „Der Verfolgte“.

„Perle“, die seltsame, im ewigen Dämmerlicht liegende Stadt, kann mit dieser düster staubigen Atmosphäre auf der Grafik verglichen werden.

Kubin zeigt hier mit seiner typisch reduzierten Bildsprache, aber mit betont psychologischer und archaischer Symbolik – einen Menschen auf der Flucht. Wohl kahlköpfig, mit Wanderstock – und Tasche, bekleidet in weitem, mit Gürtel zusammengehaltenem dunklen Gewand, ergreift er die Flucht aus dem linken Bildrand hinaus. Der ziemlich runde Kopf scheint sich noch kurz umzublicken, die linke Hand mit dem Stock emporgehoben und eine Ferse zeigend, flieht er eilenden Schritts, mit dem Rücken zum Betrachter. Es sind, wie für den Expressionismus typisch, kaum individuelle Merkmale des Menschen auszumachen. Das war ihm auch selten wichtig. Auch stärker symbolistisch gefärbte Bilder bleiben bei Kubin universell. Der Betrachter kann sich so besser mit ihnen identifizieren. In der schon von Caspar David bevorzugten Rückenansicht konnte sich der Betrachter besser auf die mit Symbolik aufgeladene Landschaft konzentrieren. War es bei Friedrich die von Gott geschaffene Natur mit dem Erlösungsgedanken, symbolisch dargestellt im göttlichen Licht, welches das Paradies verheißt, kommt auch ein romantischer Zug in Kubins Bild. Nur geht es hier nicht um Sehnsucht und Erlösung, denn die hier merkwürdig hölzern und übergroß erscheinenden Insekten mit starren Flügeln verkörpern wohl eher zutiefst endzeitlich apokalyptische Ängste. Jeder Mensch, der sich schon einmal in die Enge getrieben und verfolgt gefühlt hat, wird verstehen, was der Künstler bei der Erschaffung des Bildes im Sinn hatte. Zwischen Leben (zarte junge Birke am linken Bildrand) und Tod (dunkler astlos dargestellter großer Baum rechts) liegen übergroß werdende Ängste (mächtige Insekten). Jedes kleine Zeichen wächst sich aus zu einer nicht auszuhaltender Bedrohung, die Nerven liegen blank. So mag ein Schwarm Insekten in der Abenddämmerung monströs werden. Der psychisch geschwächte Körper empfindet riesige, laut rauschende Flügel, ein bedrohliches Summen, fühlt sich im nächsten Moment von den langen Fühlern betastet und obwohl er es besser wissen müsste, glaubt er sich sogleich gepiesackt und bald darauf erstochen oder verschlungen… so ähnlich stelle ich mir die Wirkung vor dem Original vor.

Die Flügelwesen erinnern in ihrer Form an Libellen oder Heuschrecken ohne Beine, aber auch an leichtmotorige Flugzeuge.

Heuschrecken (Orthoptera) stellen eine Ordnung der Insekten dar, welche mehr als 26.000 Arten umfasst. Ihr weltweites, in allen terrestrischen Lebensräumen Vorkommen, beinhaltet auch einige pflanzenfressende Arten, die zur Massenvermehrungen neigen. Vielleicht gab es auch einen darauf zurückzuführenden, lapidar erscheinenden äußeren Anlass für die Ideenfindung zu diesem Bild- die Flucht vor einem Insektenschwarm im Freien. Etwas mitunter sehr Lästiges, das die Menschen von jeher beschäftigte:

„Libellen haben es auf kleine Insekten abgesehen, die sie gerne in der Nähe von Tümpeln erbeuten“, Quelle
Nürnberger Chroniken – Heuschrecken (CCXXXv)

Man weiß von der Lebensweise der Libellen, dass ihre Beute im Wesentlichen aus anderen Insekten besteht, wobei beinahe wahllos alle Tiere attackiert werden, die sie überwältigen können. Zur Paarungszeit piesacken besonders die Männchen ihre Artgenossen, zeigen also Kannibalismus. Ihre Jagdflüge beobachtet man dabei nicht nur an Gewässern. Sie finden auch auf Wiesen, Waldlichtungen oder anderen freien Flächen statt- auch eine Beobachtung, die Kubin gemacht haben könnte.
Die Landschaft zwischen den beiden Baumpolen links und rechts in Kubins Grafik wird ebenfalls von einer kniehohen Wiese dominiert.

Kubin lebte zur Zeit der Bildentstehung wohl in München.

Nach dem Besuch eines Gymnasiums in Salzburg ab 1887 (abgebrochen aufgrund schulischen Versagens und vielleicht auch aus dem nicht bewältigtem Verlust seiner Mutter in seinem 10. Lebensjahr), hatte er ab 1892 seine fotografische Lehrzeit in Klagenfurt bei einem Verwandten absolviert (auch da nicht ohne Tiefs, denn ein Selbstmordversuch am Grab seiner Mutter hätte ihm fast das Leben gekostet- der Schuss aus der verrosteten Waffe ging nicht los) und lebte ab 1898 in München, wo er anfangs die private Malschule von Ludwig Schmid-Reutte besuchte.

Bereits in Klagenfurt in Berührung mit Schopenhauers „Parerga“ gekommen, zeigte sich spätestens von ab Kubins pessimistische Weltanschauung. Das angeblich lange Zeit schlechte Verhältnis zu seinem Vater dürfte ein Übriges dazu beigetragen haben.

Am 2. Mai 1899 schrieb er sich zwar noch an der Königlichen Akademie für ein Studium im Fach Malerei bei Nikolaus Gysis ein, jedoch brach er auch hier schon bald wieder ab und begab sich auf mehrere Studienreisen, bis er schließlich 1906 bei Wernstein am Inn auf dem alten Herrensitz Schloss Zwickledt mit seiner Frau Hedwig ansässig wurde. Diese begüterte Witwe, eine Schwester des Schriftstellers Oscar A. H. Schmitz, hatte Kubin im Februar 1904 kennen gelernt. In Zwickledt entstand 1909 auch Kubins oben erwähnter Roman „Die andere Seite“. Doch dies ist schon nicht mehr die Zeit, in der unser Bild entstand.

Die wichtigsten künstlerischen Anregungen scheint Kubin nachweislich durch das Studium von Werken in der Münchner Pinakothek bekommen zu haben. Ihn begeisterten Künstler wie Klinger, Munch, Redon und Goya:

„Ich verfertigte ganze Reihen von Tuschzeichnungen, lernte das gesamte zeichnerische Werk von Klinger, Goya, de Groux, Rops, Munch, Ensor, Redon und ähnlicher Künstler kennen, die abwechselnd meine Lieblinge waren und mich hin und wieder, wenn auch unbewusst beeinflussten.“

Das ist auch ziemlich verständlich, liegen diese doch auf einer Wellenlänge mit Kubin, was das Aufgreifen existenzieller Probleme und das tiefe psychologische Verständnis der menschlichen Seele betrifft. Natürlich musste sich Kubin mit Minderwertigkeitsgefühlen abplagen, wenn er dieser künstlerischen Vorbilder als unerreichbar empfand. Aber seine Bilder jener Zeit zeigen, was er als nachahmenswert sah, z.B. kompositorische Lösungen.

Diesbezüglich kam mir sofort Goyas Bild in den Sinn: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ aus der Serie Capriccios, welches ein Inbegriff dieser düsteren Kehrseite „der lichten Welt“ der Vernunft und der Aufklärung ist.

„Eine Eule, im Spanien des 18. Jahrhunderts Sinnbild der Finsternis, Rückständigkeit und Ignoranz, reicht dem Schlafenden einen Pinsel hin, als wolle sie von ihm die Niederschrift seiner Träume erzwingen.“

Zeigt Kubin uns mit „Der Verfolgte“ einen ihn(?) verfolgenden Alptraum?

Der Traum allgemein hatte für Kubin symbolische Kraft, „die nicht erst einer psychologischen Analyse bedarf, da er die unmittelbare schöpferische Vision für stärker hielt als deren Analyse.“(Quelle)

So, wie Goyas Ungeheuer von rechts nach links in das Bild rauschen, so schwärmen auch die Insekten in Kubins Bild. Beide Künstler platzieren ihr Opfer an den linken Bildrand und reduzieren den Hintergrund auf das Notwendigste.

Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer, Francisco Goya, 1797/98, Aquatinta und Ätzradierung; Quelle

Kubin neigte dazu, einmal herauskristallisierte Motive und Kompositionen wieder aufzunehmen und in veränderter Form wiederzugeben. So zeigt er uns bspw. auch in „Dolmen“, ebenfalls um 1902 entstanden, diese fliegende Invasion, als Symbol für (s)eine ziemlich gequälte Seele. Damit offenbart sich auch Kubins Nähe zum Symbolismus.

Dolmen*1, Alfred Kubin, 1902

*1 Dolmen, bretonisch für „Steintisch“, ist in der Regel ein Bauwerk aus großen, unbehauenen oder behauenen Steinblöcken, das in der Megalithkultur zumeist als Grabstätte diente

Nach Schopenhauer hatte Kubin Nietzsche gelesen und fühlte sich wohl grundsätzlich pessimistisch. Seine empfindsame Seele wurde später durch den Tod einer geliebten Freundin erneut verwundet.

Doch wir befinden uns mit diesem Bild ja noch in seinen jugendlichen Anfangsjahren (seinem Frühwerk von 1899 bis 1904). Kubins Hang zum Phantastischen, Dämonischen und Gespenstischen brachte eine Flut von unheimlichen Gestalten hervor. Sie drängten sich ihm auf und erzeugten wohl rauschhafte Gefühle. Viele Zeichnungen der frühen Schaffensperiode von 1899-1908 quellen über von phantastischen und grotesken Tierdarstellungen (Schlangen, Spinnen, Wölfe, Tiger). Unsere Flugwesen scheinen hingegen nicht aus solch gänzlich fremden Gefilden, sondern eher dem Alltag entnommen.

Hans Hofstätter zitiert eine Begebenheit, die davon zeugt, wie sich in Kubins Welt sichtbar Erlebtes auflädt und er in eine scheinbar ins Fantastische mündende Bewusstseinsebene eintritt, in dem sich die oben so als rar beschriebenen Wirklichkeiten plötzlich ganz klar zeigen, in dem seine Sinne geschärft sind (in: Die Bildwelt der symbolischen Malerei. In: Symbolismus in Europa. Ausstellungskatalog Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 20. März – 9. Mai 1976. Baden-Baden 1976, S. 13):

„Mit noch übervollem Herzen schweifte ich in der Stadt umher und betrat abends ein Variété; denn ich suchte eine gleichgültige und doch geräuschvolle Umgebung, um einen inneren Druck, der immer heftiger wurde, auszugleichen. Es ereignete sich dort etwas seelisch sehr Merkwürdiges und für mich Entscheidendes, das ich heute noch nicht ganz verstehe, obwohl ich sehr viel darüber nachgedacht habe. Wie nämlich das kleine Orchester mit dem Spiel begann, erschien mir auf einmal meine ganze Umgebung klarer und schärfer, wie in einem anderen Licht. In den Gesichtern der Umhersitzenden sah ich auf einmal eigentümlich Tier-Menschliches, alle Geräusche waren sonderbar fremd, von ihrer Ursache gelöst; es klang mir wie eine hohnvolle, dröhnende Gesamtsprache, die ich nicht verstehen konnte, die aber doch deutlich einen ganz gespensterhaften inneren Sinn zu haben schien …“

Das Irrationale, das auch zum Menschen gehört, nicht immer einbezogen in den Vernunftbegriff, schied vieles aus, diffamierte es, verabsolutierte die Vernunft zum Machbaren, zu einem platten Fortschrittsbegriff, ungeachtet dessen, dass unsere Welt in ständiger Bewegung ist und auch jedweder Begriff einer ständigen Revision bedarf. Diese Erkenntnis wurde und wird nicht von allen Menschen geteilt. Bei Kubin hingegen durchzieht sie das gesamte Werk.

Tendenzen von Endzeitstimmung und psychischen Abnormitäten gründen hingegen oftmals in kollektiven Erfahrungen von Entbehrung, Verlust, Leid und Grauen. Dies auch bildhaft ausdrücken zu können, brachte Kunstwissenschaftler dazu, Kubin als Vater der modernen, psychologisierenden Zeichnung
zu beschreiben.

Während Goya seinen Protagonisten schlafend und sitzend zur Unbeweglichkeit, zur Ohnmacht verurteilt, glaubt man bei Kubin eine Chance für sein Entkommen zu sehen. Er ist schnell, er kann davonrennen. Wenn er aktiv wird, könnte er es schaffen.

Das passt denn auch zu Kubins Aussagen zum Thema Angst. Sie wäre ein Zustand, den man zu überwinden hat, um sein seelisches Gleichgewicht zu erlangen:

„Man muss hindurch, auch durch die Angst, um sich jenseits derselben nach einem infolge des Schwankens aller gewohnten Bewusstseinssicherungen qualvollen Übergangsstadium in einem neuen seelischen Gleichgewichtszustand wiederzufinden. Dem schwebenden.“

Wie so viele Künstler, wurde Kubin von seinen Zeitgenossen weniger wertgeschätzt als heute. Man hielt ihn für einen grafischen Dilettanten, feierte aber die Drastik seiner Bildthemen, von denen die erotischen hier noch nicht zur Sprache kamen.

*

Wer räumt nun diesen alptraumhaften Vogel, der noch durch kein Bild flog, von dieser Terrasse und überwindet diesen/dessen Zustand der Reglosigkeit?
Man könnte ihn über das Geländer nach unten werfen… müsste ihn dafür auch nicht allzu lange berühren, sein Lebensgewicht nicht zu lange spüren, wenn man ihn die unendlich vielen Treppen nach unten trägt. Ein letzter Flug …  wie ein Insekt zum Mond … so auch ein Mensch zum Vogel zu …

Insekt vom Mond, Alfred Kubin, 1910, Tuschpinselzeichnung

Der Wert der Zeichnung „Insekt vom Mond“ von Kubin wurde heutzutage auf 30.000 € geschätzt und für 41.650 € verkauft.

Sie zeigt den mondförmigen Kopf des flüchtenden Menschen aus „Der Verfolgte“, zusammen mit den dort fehlenden Insektenbeinen der Flugmonster, die noch ein paar Blätter der Birke als Sporen mitgebracht haben. Und so bringt Kubin 8 Jahre später zusammen, was zusammen gehört.

Friedhofsmauer, Alfred Kubin um 1902; Tusche, laviert, auf Papier; 24,8 x 18,2 cm; Privatbesitz; Quelle

Der Kamikaze-Terrassenvogel wird vom Flughund des Goya-Kubin ausgesaugt und sich in Staub auflösen, welcher dann zur anderen Seite fliegt, um dort in die Beutemasse des Fantastischen einzugehen.

Das Fußvolk der Traumfabrik wird den Begriff des Vernünftigen neu definieren und die Macht der Bilder begreifen. Illusion ist einfache Realität, nicht chaotischer als das Leben selbst. Realitäten sind unendliche Kehrseiten einer Medaille, einer Münze, die der heutige Mensch dankbar für seinen Erkenntnisgewinn bezahlt… und seien es 41.650 € für die Illusion eines winzigen Mondfliegers.

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