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Episode 03: Leichenfest

Der dritte Text an diesem ersten Tag des Podcasts CHIMÄREN ist direkt aus der „Sandsteinburg“ entnommen. Leichenfest ist eine der zahlreichen Passagen, die sich im Fichtelgebirge (und dort in Kaiser- Schwarzen- und Wendenhammer abspielen).

Der Briefkasten ohne Namensschild, als wäre er blind, nie jemand eingezogen seitdem. Das schlechte Gefühl des Reisenden, verlassenes Territorium verraten zu haben, die schicksalhafte Nacht (die Kreuzung hell bemondet), je in alle Richtungen trabend, paar Meter, dann wieder zurück zum Knoten, zukuckende Baumfamilien, die kein Auge zutun, ferne Landschaft, vages Schemen.

Wie den Abstieg in die Unterwelt erlebte ich das Verlassen des Gartens, terrassenförmig angelegt von Semiramis, dem Täubchen. Ich pflegte ihr damals jede Knabenerektion zu bringen; Daktari lief im Fernsehen, der Sommer schimmerte augusten mit einer ganzen Batterie an Ersatzsonnen. Ich vernahm das Prasseln ihres Duschmanövers. Ihre Mutter reichte mir Stachel- und Preiselbeeren, nass vom Küchenwasser, knackender Körper unter Jungzähnen; der schielende Leu äugte in die Wohnstube, ich aber kaute artig und dachte nur jede zweite Sekunde an das Schlüsselloch.

1975: es kommt dann ein Tag – und meistens ist es Sommer – da geht man weiter als jemals zuvor. Die Verlockung sitzt unweigerlich in den Hüften, da erfährt man erstmalig die Unendlichkeit der Scheibe (die eigene Welt ist niemals rund). Kein Zusammenziehen, Zusammenkugeln, Einigeln; alle Möglichkeiten aus erster Hand, Feinkostladen der Natur, es ist ja Sommer. Die Ferne lockt mit einer weiteren Baracke. Plötzlich steht man im Unkraut hinter einem Gebäude, das, längst aufgegeben, viel mehr Reiz verspricht. Die Vergänglichkeit ist alles, was wir sind, alles, nach dem wir greifen.

Wie aus den vielen Splittern aber Raunen wuchs, da packte es Jeden am Kragen, da man doch das Viele als ein Chaos verstand, aus dem zwar etwas wurde.

Mit so viel verschiedenen Arten war keine Lunge gemütlich zu halten, die Erstickung drohte dem, der nicht seine Mistgabel wendete, um zumindest die unsichtbare Not abzustechen.

Was wird aus Wasser, das lange genug steht?

Jagd nach dem Einen Moment; kläffende Bilder; imaginierend wie der Asket, wenn er schon Pflanze ist, sich als Grüntau spürt, Aldolkondensation und Dissimilation statt Verdauung & Donnerbalken.

: die Kannen im Farn führen grobkörniges Licht, die Tassen erwartet ein Geschmack, der aus den Schubladen steigt; leer sind sie nur Zier immerdar. Die Kannen beugen ihre Schwanenhälse, der Fluss der ratenden Mäuler trennt sich, spaltet Geist von Geist.

: in den Wänden nirgendwo : der Junge, der in den Keller geht, um Spinnen zu essen, mit den Leuten in den Wänden spricht, seinen Bruder im Schlaf mit heißem Wasser übergießt, um eines Tages rein zu werden.

: nirgendwo : und so stand er mit Schwären übersät in seiner Stadt, zwischen seinen Häusern. Er rätselte und rätselte, überquerte die verhungerte Straße, auf der Tierkadaver lagen, ging in das Haus, in dem er das erste Mal mit den Leuten in den Wänden gesprochen hatte, sagte ihnen, dass er jetzt allein sei.
So träumte ich es. Die ganze Welt war ein Leichenfest, ein Friedhof geworden.

Ein Mann, der in einer Scheune schläft.
Eine Scheune, die schläft.


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Published inChimären | PodcastProsa