22. Dezember 2024

Julio Cortázar: Die Erzählungen

Julio Cortázar war einer der Begründer des so genannten lateinamerikanischen Booms. Er war Romancier, Lyriker, Dramatiker und Essayist, vor allem aber – und das ist der Kern seines Werkes – ein eifriger Erzähler von Kurzgeschichten. Er begann sein Werk unter dem Einfluss des Surrealismus. Seine phantastischen Erzählungen beginnen meist mit einer alltäglichen Szenerie, in die unerwartet das Fremde, das Unheimliche einbricht. Auch seine Tätigkeit als Übersetzer, u.a. der Erzählungen Edgar Allan Poes, beeinflusste sein Werk.

Cortazar

Viele phantastische Geschichten können sich einer thematischen Ähnlichkeit nicht entziehen. Oft scheint es, als stünden sie in Beziehung zueinander, als seien sie verbrüdert und durch eine Röhre miteinander verbunden. Viele dieser Geschichten haben gemeinsame Einflüsse wie Arthur Machen oder H. P. Lovecraft, während andere unheimliche Elemente verwenden, um zeitgenössische Stimmungen einzufangen. Manchmal sind diese Verbindungen offensichtlich, in anderen Fällen muss man sie mehrmals lesen, um sie zu verstehen. Dies ist bei Julio Cortázar der Fall.

Nehmen wir das Beispiel ‚Axolotl‘ und daraus den ersten Absatz, der die Transformation vorwegnimmt:

„Es gab eine Zeit, in der ich viel an die Axolotl dachte. Ich besuchte sie im Aquarium des Jardin des Plants und brachte Stunden mit ihrer Betrachtung, der Betrachtung ihrer Unbeweglichkeit, ihrer dunklen Bewegung zu. Jetzt bin ich ein Axolotl.“

Der Schlüssel liegt hier nicht in der ausgeprägten Verwandlung, sondern in der Beobachtung und der kontemplativen Betrachtung. Man kann die Erzählung als eine Absonderung und einen symbolischen Abstieg in einen schizophrenen Zustand lesen, vor allem durch die Schlusssätze, in denen Cortàzar das erzählerische „wir“ (der Axolotl) mit dem menschlichen „er“ (der Mensch) vertauscht.

Fasziniert von den Amphibien im Larvenstadium, beginnt der Erzähler immer mehr Informationen über die Axolotl zu sammeln. Tag für Tag besucht er sie im Jardin des Plantes.

„Ich stützte mich auf die eiserne Stange, die die Aquarien einfasst, und widmete mich ihrer Betrachtung. Daran ist nichts Besonderes, denn ich hatte vom ersten Augenblick an begriffen, dass wir miteinander in Verbindung standen, dass etwas wenn auch grenzenlos Verlorenes und Fernes uns offenbar vereinte.“

Hinter dem Gefühl der Besessenheit verbirgt sich etwas anderes. Es ist die Schärfe der Selbstidentifikation mit etwas Fremdem. Im Laufe der Erzählung nimmt sie Gestalt an, mit wiederholten Verweisen auf ihre mexikanische Heimat, auf die Azteken, die das Land beherrschten, bevor die Spanier kamen. Der Erzähler scheint verrückt zu sein, zumindest könnte man die Geschichte so interpretieren. Und doch könnte das Ganze auch eine Metapher für die Faszination einer fremden Kultur sein, die so weit geht, dass man ganz in sie eintauchen möchte, bis hin zum Austausch mit der ursprünglichen eigenen Kultur. Dieses Gefühl der fremden Akkulturation taucht in vielen Erzählungen und Romanen Cortázars auf. Emigranten in surrealistischen Erzählungen, wie in seinem brillanten und epochalen Roman „Rayuela“.

In seinen Erzählungen nutzt Cortázar das Unerklärliche, um die Wirren des Lebens zu ergründen. In „Das besetzte Haus“ leben die alternden Geschwister zurückgezogen im Haus ihrer Großeltern und spüren, dass etwas in ihren geschlossenen Lebensraum eindringt und sie zwingt, das Haus zu verlassen. Es ist ein langsames, schleichendes Grauen, das sich in die Erzählung einschleicht.

“ Südliche Autobahn “ ist weniger eindeutig. Die Erzählung beginnt mit einem endlosen, kafkaesken Stau. Die Menschen im Stau versuchen, sich irgendwie zu beschäftigen. Einige schlafen miteinander, andere versuchen, sich so weit wie möglich von allem und jedem zu entfernen. Beide Erzählungen ähneln „Axolotl“ darin, dass sie aus der eindeutigen Realität in seltsame, surreale Landschaften gleiten, wo Realität und Fantasie unentwirrbar ineinander übergehen und zu einer halluzinatorischen Einheit werden.

In den „Sprungszenen“ seines grandiosen Anti-Romans „Rayuela“ schildert Cortázar das Leben eines argentinischen Emigranten in Paris und seine Suche nach seiner früheren Geliebten Maga. Auch hier kommt es zu einem Zusammenprall der Kulturen, zu einem Verschwimmen von Halluzination und Realität. In Horacio Oliveira erkennen wir den fast wahnsinnigen Erzähler aus „Axolotl“. Sein Taumeln durch Paris und Buenos Aires auf der Suche nach Maga kann auch für die Suche nach einer schwer fassbaren Realität stehen. Die Anti-Struktur des Romans dient dazu, das Gefühl des Halluzinatorischen der Suche zu verstärken. Es gibt Momente der stillen Bedrohung, ähnlich dem „besetzten Haus“, und es gibt Momente, in denen Oliveiras Suche quixotische Züge annimmt.

In den 35 Jahren seines schriftstellerischen Schaffens hat Cortázar eines der einflussreichsten und unvergesslichsten Werke der Literatur des 20. Jahrhunderts hinterlassen, das sich mit dem Surrealismus, dem kulturellen Bruch, der Selbstidentität und der Frage, wo die Realität endet und die Halluzination beginnt, auseinandersetzt. Seine labilen, aber schmerzhaft aufmerksamen Erzählerfiguren erlauben es ihm, durch das Unerklärliche hindurch Aussagen über das heutige Leben zu machen, wie sie der ‚Realismus‘ niemals zu treffen vermag. Cortázar taucht tief in die Psyche seiner Protagonisten ein und enthüllt dabei beunruhigende Wahrheiten darüber, wie wir die verrückte Welt um uns herum wahrnehmen. Manchmal äußert sich dies im Verlust der Identität und der Trennung von unserer Vergangenheit, wie in „Axolotl“ oder „Das besetzte Haus“.

Das Unheimliche dient Cortázar als Kanal, und seine Geschichten funktionieren auf mehreren Ebenen. Es ist fast unmöglich, diese unglaubliche Nuanciertheit beim ersten Lesen zu erfassen, und er gehört zu den wenigen Autoren, die man immer wieder gerne liest.

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