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Wie Poe durch Dupin die literarische Welt für immer veränderte

Olivia Rutigliano ist die stellvertretende CrimeReads-Redakteurin bei Lit Hub. Ihre Arbeiten erscheinen darüber hinaus auf vielen anderen Plattformen. Sie ist Doktorandin und Marion E. Ponsford-Stipendiatin an der Columbia University, wo sie sich auf Literatur und Unterhaltung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts spezialisiert hat. Wir danken für ihre Bereitschaft, bei uns mitzuwirken. —M.E.P.

Obwohl es in der Literatur seit Jahrhunderten nur so von cleveren Problemlösern wimmelt, von Trickbetrügern über geläuterte Diebe bis hin zu weisen Männern und Polizeipräfekten, versetzte Edgar Allan Poes Detektivgeschichte “Die Morde in der Rue Morgue”, als sie 1841 erschien, die literarische Welt in Erstaunen. In einem Haus in der Rue Morgue (einer fiktiven Straße in Paris) ist ein grausamer Doppelmord geschehen. Mehrere Zeugen bestätigen, dass sie mehrere Stimmen gehört haben, aber niemand kann sich darauf einigen, welche Sprache einer der Sprecher verwendet haben könnte. Es gibt mehrere Hinweise, von denen einer rätselhafter ist als der andere. Die Polizei ist ratlos. Doch C. Auguste Dupin, ein Liebhaber seltener Bücher, löst das Rätsel zu Hause, nachdem er die Details in der Zeitung gelesen hat, und wird so zur ersten echten Detektivfigur der Literatur und löst damit eine Revolution aus, in dem er ein Genres definiert. Er taucht in zwei weiteren Geschichten auf: “Das Geheimnis der Marie Rogêt”,  und “Der entwendete Brief” von 1844.

Wie der Literaturkritiker A. E. Murch schreibt, handelt es sich bei der Detektivgeschichte um eine Erzählung, bei der “das Hauptinteresse in der methodischen Entdeckung der genauen Umstände eines mysteriösen Ereignisses oder einer Reihe von Ereignissen mithilfe rationaler Mittel liegt“. Der Kritiker Peter Thoms führt dies weiter aus und definiert den Kriminalroman als “Chronik einer Suche nach Erklärung und Lösung” und fügt hinzu:

“Eine solche Fiktion gestaltet sich typischerweise als eine Art Rätsel oder Spiel, als ein Ort des Spiels und des Vergnügens sowohl für den Detektiv als auch für den Leser.”

Der wohlhabende Dupin ist ein Sesseldetektiv, der Rätsel löst, weil er es kann, indem er eine Methode  der “Folgerung” anwendet, bei der er im Grunde “über den Tellerrand hinausschaut” (und es ist gut, dass er das tut, sonst würde niemand diese Verbrechen lösen; der Mörder in “Die Morde in der Rue Morgue” entpuppt sich als entlaufener Orang-Utan. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass niemand sonst darauf kommen würde). Er teilt seine Schlussfolgerungen seinem guten Freund, dem anonymen und oft verblüfften Ich-Erzähler mit.

Hätte Poe nicht die Konventionen festgelegt, die wir als Kennzeichen der modernen Detektivgeschichte kennen, hätten andere wahrscheinlich nicht lange danach das Gleiche getan. Die Literatur war auf dem Weg zu dieser Entdeckung; sicherlich gab es eine lange Reihe von Figuren, die ähnlich vorgingen, gestohlene Gegenstände aufspürten und unmögliche Rätsel knackten, und wie Dupin taten sie dies als Privatleute und nicht als Angestellte des Staates. Voltaire schrieb 1747 die philosophische Novelle Zadig oder das Schicksal zum Thema Problemlösung, in der es um einen weisen jungen Mann in Babylonien geht, dessen Wissen ihn zwar in Schwierigkeiten bringt, ihn aber letztlich oft rettet. In William Godwins 1794 erschienenem Roman Die Abenteuer des Caleb Williams oder: Die Dinge wie sie sind, einer vernichtenden Anklage gegen die Fähigkeit des so genannten Justizsystems, Leben zu ruinieren, werden staatlich sanktionierte Ermittler zugunsten von nicht-traditionellen Problemlösern desavouiert. 1819 schrieb der deutsche Schriftsteller E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, wo eine neugierige Frau namens Madeleine von Scuderi (die man als Vorläuferin von Miss Marple betrachten könnte) eine gestohlene Perlenkette findet.

Diese Aufzählung wäre unvollständig ohne Eugène-François Vidocq, einen Kriminellen, der sich zum Kriminologen wandelte und von 1775 bis 1857 lebte. Er gründete und leitete die erste nationale Polizei Frankreichs, die Sûreté nationale, sowie die erste private Detektei Frankreichs. Sein Leben inspirierte zahllose (verwegene) Adaptionen, darunter auch eine amerikanische, die 1828 in Burton’s Gentleman’s Magazine unter dem Titel “Unpublished passages in the Life of Vidocq, the French Minister of Police” veröffentlicht wurde und die Poe sehr wohl gelesen haben könnte. Interessanterweise gibt es in dieser Geschichte eine Figur namens “Dupin”.

Der berühmte Drehbuchautor Brander Matthews schrieb:

“Die wahre Detektivgeschichte, wie Poe sie sich vorstellte, hat nicht das Rätsel selbst zum Ziel, sondern die aufeinanderfolgenden Schritte, die den analytischen Beobachter in die Lage versetzen, das Problem zu lösen, das als jenseits menschlicher Möglichkeit abgetan werden könnte.”

In der Tat könnte Dupins größter Einfluss außerhalb des Kriminalromans und innerhalb des breiteren, späteren Feldes der Literaturkritik liegen. Dupins Fähigkeit, Hinweisen eine außergewöhnliche Bedeutung zu entlocken, macht ihn zum ersten Semiotiker, der mehr als ein Jahrhundert vor Ferdinand de Saussure, der 1966 sein Werk zu diesem Thema veröffentlichte, die Beziehung zwischen Zeichen, Signifikanten und Signifikaten aufklärte – vor allem, weil Dupin seine Hinweise eher über die Linguistik als über physische Objekte findet. In “Die Morde in der Rue Morgue” zum Beispiel leitet er die gesamte Lösung aus zwei Worten ab, die angeblich während des Verbrechens gesprochen wurden. (“Auf diese beiden Worte [‘mon Dieu!’]… habe ich hauptsächlich meine Hoffnungen auf eine vollständige Lösung des Rätsels gebaut.”)

Dupins Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er schuf unter anderem den Archetyp des Gentleman-Detektivs, der im Goldenen Zeitalter des Kriminalromans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so allgegenwärtig werden sollte. Jahre später schrieb Arthur Conan Doyle:

“Jede [von Poes Detektivgeschichten] ist eine Quelle, aus der sich eine ganze Literatur entwickelt hat… Wo war die Detektivgeschichte, bevor Poe ihr Leben einhauchte?”

In der Tat konstruierte Doyle seinen Detektiv Sherlock Holmes als einen intellektuellen Nachfahren von Dupin, indem er Watson (der ebenfalls direkt von den Dupin-Geschichten als Freund/Erzähler/Chronist abgeleitet werden kann, Dupin zitieren ließ, als er zum ersten Mal Zeuge von Holmes’ deduktivem Genie wurde.

»Klingt kinderleicht, wie Sie es erklären«, sagt Watson1887 zu Sherlock Holmes in der ersten gemeinsamen Novelle “Eine Studie in Scharlachrot”. »Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Und ich habe immer geglaubt, dass solche Menschen nur in Geschichten vorkommen.«

Holmes äußert sich abfällig über dieses Lob: »Ihr Vergleich mit Dupin ist bestimmt als Kompliment gemeint«, erwiderte er. »Aber in meinen Augen war der Mann eine Flasche. Angeblich hat er nach fünfzehnminütigem Schweigen durch eine spontane Bemerkung herausgefunden, was in den Köpfen seiner Freunde vorging – ein angeberischer und billiger Trick. Er besaß zweifellos ein gewisses analytisches Genie, war aber keineswegs so phänomenal, wie Poe glaubte.«

Nun… bis auf die Tatsache, dass er es doch war. Holmes weiß es nicht, aber ohne Dupin hätte es ihn nicht gegeben.

Horror

Aus Liebe zur Schauerliteratur

Ich bin ein Stubenhocker. Was für ein schönes, altmodisches Wort für jemanden, der wenig Ambitionen hat, die eigene Haustür zu verlassen. Mein Sternzeichen ist der Krebs. Wir sind dafür bekannt, dass wir launisch sind und ständige Bestätigung und Intimität brauchen. Wir sind sehr sicherheitsbedürftig, was dazu führt, dass unsere Welt manchmal sehr klein ist.

Meine Lieblingsliteratur ist dunkel und intim. Aber ich lebe lange genug, dass mir  noch die Abenteuergeschichten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in Form von großen Anthologien als Geschenk aufgedrängt wurden. Daraus las ich Robert Louis Stevensons Entführt, Jack Londons Ruf der Wildnis, Robinson Crusoe, Die drei Musketiere usw. (Manchmal glaube ich, meine Verwandten waren enttäuscht, dass ich kein Junge war. Niemand hat mir je Anne auf Green Gables geschenkt.) Es waren Geschichten über Fernweh, Ehre und Testosteron. Schließlich schenkte mir ein sehr kluger Mensch eine Ausgabe von Edgar Allan Poe, einen riesigen Sammelband mit Sherlock-Holmes-Geschichten und einen Stapel Nancy-Drew-Bücher. Das war eine große Erleichterung, nachdem ich die ganze Zeit auf der Suche nach Schätzen durch die Welt gezogen war.

Die klassischen Krimis hatten einen Umfang, den ich zu schätzen wusste. Es waren Geschichten, die immer zum Greifen nah waren und von mir mehr Nachdenklichkeit als gefährliche Action verlangten. Es ist logisch, dass ich sie angesichts meiner Persönlichkeit bevorzuge. Stevensons Die Schatzinsel war gut, aber ich mochte viel lieber Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde und Geschichten wie Die Geschichte von dem jungen Mann mit dem Cremetörtchen, die sich hauptsächlich in einem Herrenclub abspielt.

Dann entdeckte ich die Schauerromane und wusste, dass ich dort hingehörte. Ich gestehe, dass ich mich – anders als viele Mädchen – nicht in erster Linie wegen der Romantik zu Romanen wie Jane EyreSturmhöhe und Du Mauriers Rebeccca hingezogen fühlte. Sicherlich waren ihre kühnen Heldinnen für ein Mädchen im Teenageralter attraktiv, aber es war die Architektur, die mich verlockte. Die meisten dieser Romane spielten in prächtigen, hoch aufragenden Häusern, die seit Jahrhunderten unveränderliche Zeugen menschlicher (und manchmal übermenschlicher) Dramen waren. Sie waren voller verborgener Räume und Gänge und Geheimnissen, die es zu entdecken galt. Ich jagte mit den oft schüchternen Heldinnen durch sie hindurch, wunderte mich über seltsame Lichter in entfernten Fenstern und über die Geräusche aus scheinbar verlassenen Räumen. Ich sah geisterhafte Gesichter in Spiegeln und hörte das bedrohliche Meer gegen die Felsen schlagen, während mir treue Diener von schrecklichen Schiffbrüchen erzählten. (Okay, Sturmhöhe lag nicht in der Nähe des Meeres, aber Sie verstehen schon.) Jedes gotische Haus hatte mindestens ein tiefes, mysteriöses Geheimnis, und es war meine geschworene Aufgabe, dem Helden oder der Heldin zu helfen, herauszufinden, was es war.

Rebecca ist ein Roman aus dem zwanzigsten Jahrhundert, aber ich würde ihn fast in eine Reihe mit den früheren viktorianischen und vorviktorianischen Gothics stellen. Die Naivität der Ich-Erzählerin verleiht dem Buch einen eher antiken Charakter, trotz der reißerischen Art einiger ihrer Entdeckungen. Für mich ist es eine Art Brücke zu moderneren Schauerromanen.

Auftritt Freud.

Ich beschrieb einmal einer Freundin, die sich für Traumanalyse interessiert, einen Traum, in dem mein Haus brannte. “Oh, das ist einfach”, sagte sie. “Du bist das Haus, und das Feuer ist deine Sexualität.” Leser, ich war beschämt! Das war zwar das letzte Mal, dass ich einen meiner Träume freiwillig zur Analyse anbot, aber ich fand Freuds Bild vom Haus als der inneren Psyche eines Menschen überzeugend. Und es funktioniert als ein sehr starkes Symbol für das Menschliche in der Fiktion.

Es ist leicht, sich ein Haus (oder sogar eine winzige Gemeinschaft) als Kanal für menschliche Sehnsüchte vorzustellen. Es gibt eine literaturkritische Theorie, die sich mit der so genannten weiblichen Gotik befasst, die sehr tief (und chaotisch) in die Art und Weise eindringt, wie die gotischen Romane des neunzehnten Jahrhunderts dazu beitrugen, die allgemeinen Ängste, Frustrationen und die erwachende Sinnlichkeit von Frauen durch architektonische Symbolik auszudrücken. Ich verstehe das. Aber ich bin nur eine Schriftstellerin, die ihre Arbeit als Handwerk begreift, und auch nur eine Leserin und keine Studentin der englischen Literatur, also werde ich nicht weiter auf die Symbolik eingehen, weil ich mich nur in Schwierigkeiten bringen würde.

Shirley Jackson ist einer der Favoritinnen der Symbolismus-Fans. Zufälligerweise ist sie auch einer meiner Favoriten. Wir haben schon immer im Schloss gelebt ist die erschütternde Erzählung einer selbstsüchtigen jungen Verrückten, die die wenigen verbliebenen Mitglieder ihrer Familie in ihrem angestammten Haus gefangen hält. “Merricat” Blackwood (deren Familienname eine Hommage an den Fantasy-/Horror-Autor Algernon Blackwood sein könnte) zieht alle um sich herum ins Verderben, und das Haus selbst brennt ab, so dass seine Überreste einem Schloss ähneln. Spuk in Hill House scheint eine einfache Geistergeschichte zu sein, bis man sich die Figur der Eleanor Vance genauer ansieht. Sie verliebt sich nicht nur in das Haus, sondern möchte sogar ein lebendiger – nun ja, eigentlich toter – Teil davon werden.

(Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber ich kann mir vorstellen, Teil eines Hauses zu werden. Eines Nachts, als ich versuchte, ganz allein in meinem Haus zu schlafen, hatte ich eine Art außerkörperliche Erfahrung, bei der ich jeden Raum des Hauses gleichzeitig sehen, von jedem Fenster aus nach draußen blicken und die kleinsten Bewegungen der in den Wänden lebenden Kreaturen hören konnte. Ich hatte ein so erstaunliches Gefühl der Kontrolle. Ein Gefühl der Macht.)

Joyce Carol Oates ist eine zeitgenössische Schriftstellerin, die – neben unzähligen anderen Genres – erstaunliche schauerliche Geschichten schreibt. Ihre Sammlung Die Geheimnisse von Winterthurn ist eine, die ich immer wieder zur Hand nehme, insbesondere die Erzählung Die Jungfrau in der Rosenlaube. Darin wird das großartige historische Haus Glen Mawr – komplett mit Dachboden, Verlies und einem ironisch benannten Flitterwochenzimmer – zum Schauplatz brutaler Morde und Betrügereien, die von seinen Bewohnern begangen werden. (Es gibt einen Hinweis auf das Übernatürliche, aber jedes der Verbrechen könnte auch von einem Menschen begangen worden sein.) “Die Jungfrau in der Rosenlaube” ist auch der Titel des Trompe-l’oeil-Wandgemäldes in The Honeymoon Room. Mit seinen teuflischen Putten, den seltsamen, mit Krallen versehenen Kreaturen und dem lüsternen, androgynen Engel ist es möglicherweise das handlungsbeeinflussendste Stück fiktionaler Kunst seit dem Porträt des Dorian Gray.

Ich liebe das. Es ist ein einziges Wandbild, an einer einzigen Wand. Die Bewohner des Hauses können es jeden Tag sehen und anfassen. Es kann nirgendwo hingehen. Es bedroht nicht Hunderttausende von Menschen. Es ist unwahrscheinlich, dass deswegen jemals ein Krieg begonnen wird. Und doch ist es von zentraler Bedeutung für das große Drama im Leben einiger weniger Menschen. Mit diesem Gemälde als Anhaltspunkt gelingt es dem jungen Detektiv Xavier Kilgarvan, das erschreckende, ganz und gar menschliche Geheimnis im Herzen von Glen Mawr zu entschlüsseln, und die Entdeckung prägt den Rest seines Lebens und seiner Karriere.

Es ist nicht verwunderlich, dass Schauergeschichten, die in großen Häusern spielen, wie ein Artefakt der Literaturgeschichte erscheinen. Glücklicherweise tauchen sie von Zeit zu Zeit sowohl in Romanen als auch in Filmen auf (ich denke dabei an The Others und, in jüngerer Zeit, Die Frau in Schwarz, nach dem Roman von Susan Hill), aber sie spielen oft in der Vergangenheit, und das aus gutem Grund. Unsere westliche Kultur ist in den letzten fünfzig Jahren viel weniger auf die eigenen vier Wände konzentriert. Die Weltbühne ist ständig auf unseren Fernseh- und Computermonitoren zu sehen. Sie ist riesig und verändert sich ständig, richtet sich neu aus. Unsere Aufmerksamkeit ist immer woanders. Das Leben meines Sohnes ist voll von Aktivitäten, die ihn mindestens fünf Tage pro Woche für die meisten Stunden des Tages von zu Hause wegführen. Mein Mann verbringt die meiste Zeit seiner Woche auf dem Campus und unterrichtet. Während ich von einer Mutter großgezogen wurde, die nicht außer Haus arbeitete, war das bei den meisten meiner Freunde nicht der Fall, und fast keiner der Eltern der Freunde meiner Kinder ist tagsüber zu Hause. Ich bin eine Anomalie, da ich einen Beruf ausübe, der es mir erlaubt, in meinem Haus zu sein und jedes Hundebellen, jedes Niesen der Katze und jedes Knarren des Dachbodens wahrzunehmen. Mein Leben ist ausgesprochen undramatisch, unromantisch und gewiss nicht geheimnisvoll, weshalb ich viel Zeit damit verbringe, über Situationen zu lesen und zu schreiben, die viel anregender sind. Aber ich bin wahnsinnig zufrieden.

Für einen Stubenhocker wie mich (nein, das Wort Agoraphobie kommt mir nicht in den Sinn) ist mein Job perfekt. Mein derzeitiges Projekt ist eine große Gothic-Story über ein einzelnes historisches Haus in Virginia, das mehr als nur einen Anteil an verheerenden Verbrechen erlebt hat. Ich bin begeistert von der Aussicht, mich mit jedem Band der Geschichte in die Vergangenheit zu begeben, ihre Intensität zu vertiefen und die Dramatik durch neue und wiederkehrende Figuren zu verstärken. Es ist, als könnte man endlose Universen von einem einzigen, gemütlichen Aussichtspunkt aus erkunden.

Meinem Stuhl.

Die Figur Sherlock Holmes

Sherlock Holmes ist neben Dracula jene fiktive Figur, die in der Popkultur am meisten adaptiert und inszeniert wurde. Dass der Detektiv auf der ganzen Welt bekannt ist, liegt aber nicht an den kongenialen Originalgeschichten, sondern an den unzähligen Filmen, Theaterstücken, Musicals und Comics. Fast alle Symbole und Sätze, die aus den vielen Fernseh-, Film-, Theater- und anderen grafischen Reproduktionen stammen und die heute scheinbar zum Kanon gehören – wie etwa der Deerstalker-Hut – kommen in den Texten überhaupt nicht vor. Aber während diese dazu neigen, mit der Mode zu wechseln, scheinen die Originalgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle, die immer wieder bearbeitet werden, sich in unserem kollektiven Bewusstsein festzuhalten wie nichts vor oder nach ihnen.

Der Reichenbach-Schock

1893 stieß der Autor Sir Arthur Conan Doyle den Detektiv Sherlock Holmes von einer Klippe. Die Klippe befand sich in der Schweiz. Es sind die berühmten Reichenbachfälle, die unter ihr dahinbrausen. Aber Conan Doyle war gar nicht vor Ort, er erledigte die Drecksarbeit von seinem Haus in London aus, in dem er schrieb.

“Ich nehme schweren Herzens meine Feder in die Hand, um diese letzten Worte zu schreiben, mit denen ich die einzigartigen Gaben festhalten werde, mit denen mein Freund Sherlock Holmes ausgezeichnet wurde”,

sagt der Erzähler Dr. John Watson in Conan Doyles Geschichte Das letzte Problem, die im Dezember 1893 im Magazin “The Strand” erschien.

Conan Doyle selbst wirkte etwas weniger emotional. “Tötete Holmes”, schrieb er in sein Tagebuch. Man kann sich Conan Doyle vorstellen, sein glattes Haar, das im Kerzenschein schimmert, wie er seinen üppigen Schnurrbart vor Freude dreht. Später sagte er von seiner berühmten Figur: “Ich hatte eine solche Überdosis von ihm, dass ich mich ihm gegenüber fühlte wie gegenüber der Leberpastete, von der ich einmal zu viel gegessen hatte, so dass allein der Name mir bis heute ein kränkliches Gefühl gibt.”

Conan Doyle mag zu diesem Zeitpunkt noch gedacht haben, dass er sich seiner Figur damit entledigt hätte, aber damit unterschätzte er die Fans. Die öffentliche Reaktion auf Holmes’ Tod war anders als alles, was die Welt der Fiktion jemals vorher erlebt hatte. Mehr als 20.000 Strand-Leser kündigten ihre Abonnements, empört über Holmes’ vorzeitigen Tod. Das Magazin überlebte kaum. Selbst die Mitarbeiter bezeichneten Holmes’ Tod als ein “absolut schreckliches Ereignis”.

Der Legende nach trugen junge Männer in ganz London schwarzes Trauerflor. Leser schrieben wütende Briefe an die Redaktion, es wurden Clubs gegründet, in denen es ausschließlich um die Rettung von Holmes’ Leben ging.

Das erste Fandom

Und Conan Doyle war schockiert über das Verhalten der Fans. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. (Sie wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal als “Fans” bezeichnet. Der Begriff – eine Kurzform für “Fanatiker” – wurde erst vor kurzem für amerikanische Baseballbegeisterte verwendet). In der Regel akzeptierten die Leser, was in ihren Büchern geschah. Jetzt begannen sie, ihre Lektüre persönlich zu nehmen und zu erwarten, dass ihre Lieblingswerke bestimmten Erwartungen entspräche.

Die begeisterten Leser von Sherlock Holmes waren es, die das moderne Fandom erschufen. Interessanterweise setzt sich Holmes’ intensive Fangemeinde bis heute fort und läutet endlose Neuerungen ein, wie etwa die US-Serie Elementary und BBCs Sherlock. (Es darf angemerkt werden, dass das bekannte Zitat: “Elementar, mein lieber Watson!”, nachdem die Elementary-Serie benannt ist, gar nicht in den Originaltexten auftaucht).

1887 erschien die erste Novelle mit dem Detektiv: Eine Studie in Scharlachrot. Von Beginn an war er so beliebt, dass Conan Doyle bald darauf bereits zu bereuen begann, ihn überhaupt erschaffen zu haben. Denn diese Geschichten überschatteten alles, was Doyle für sein “ernsthaftes Werk” hielt, etwa seine historischen Romane.

An Veröffentlichungstagen standen die Leser an den Kiosken Schlange, sobald eine neue Holmes-Geschichte in The Strand erschien. Wegen Holmes war Conan Doyle, wie ein Historiker schrieb, “so bekannt wie Queen Victoria”.

Die Nachfrage nach Holmes-Geschichten schien endlos. Aber obwohl The Strand Conan Doyle gut für seine Geschichten bezahlte, hatte dieser nicht vor, den Rest seines Lebens mit Sherlock Holmes zu verbringen. Als er 34 Jahre alt war, hatte er genug. Also ließ er Professor Moriarty Holmes die Wasserfälle hinunterstoßen. Acht lange Jahre widerstand Conan Doyle dem Druck, der allerdings mit der Zeit so groß wurde, dass er 1901 eine neue Geschichte schrieb: Der Hund von Baskerville. Aber an diesem Fall arbeitete Holmes noch vor dem verhängnisvollen Sturz. Erst 1903, in Das leere Haus ließ er Sherlock Holmes mit der Begründung auferstehen, nur Moriarty sei in diesem besagten Herbst gestorben, während Holmes seinen Tod nur vorgetäuscht habe. Die Fans waren zufrieden.

Sherlock – Ein Leben nach dem Tode

Seitdem sind die Fans allerdings noch wesentlich obsessiver geworden. Der Unterschied zu damals besteht ledigich darin, dass wir uns an ein starkes Fandom gewöhnt haben. Maßgeblich beteiligt an der Glut der Leidenschaft ist die BBC-Serie Sherlock, die von 2010 – 2017 in 180 Ländern ausgestrahlt wurde. Hier spielt Benedict Cumberbatch in einer atemberaubenden Performance den zwar modernen, aber besten Holmes, den es je zu sehen gab, begleitet von Martin Freeman als Watson. Seitdem pilgern unfassbare Scharen in den von Holmes und Watson bevorzugten Londoner Sandwich-Shop, oder in Speedy’s Café. Während der Produktion der Serie kam es sogar zu Problemen, weil sich Tausende Fans am Set tummelten, die dann in die Baker Street weiter zogen, die in Wirklichkeit die Gower Street ist.

Bemerkenswert ist, dass sich die Fans von Sherlock Holmes seit mehr als 120 Jahren intensiv mit dem fiktiven Detektiv beschäftigen, unabhängig davon, in welches Medium er übertragen wurde (es dürfte kein einziges fehlen).

Mark Gatiss, der Mitgestalter der Sherlock-Reihe, hat darauf hingewiesen, dass Holmes einer der ursprünglichen fiktiven Detektive ist – die meisten anderen danach geschaffenen Ermittler waren Kopien oder eine direkte Reaktion auf ihn:

“Alles in allem ziehen die Leute eine Linie unter Sherlock und Watson. Agatha Christie kann ihren Poirot nur klein und rundlich machen – im Gegensatz zu groß und schlank. Auch er braucht einen Watson, also erschafft sie Captain Hastings. Wenn man sich umsieht, ist das immer das gleiche Modell. Es ist unverwüstlich.”

Nun, selbst Sherlock Holmes hatte einen Vorgänger, und der stammt aus der Feder von Edgar Allan Poe. Dessen Auguste Dupin trat erstmals 1841 in der Erzählung Der Doppelmord in der Rue Morgue und dann in zwei weiteren Erzählungen auf. Conan Doyle hat ihm Refernz erwiesen, indem er ihn in Eine Studie in Scharlachrot auftreten lässt. Dass er sich bei Poe bediente, bedeutet aber nicht, dass sich Sherlock Holmes nicht in eine völlig eigene Richtung entwickelte. Hier wurde der Detektiv in eine definitive Form gegossen.

Sherlock-Mitgestalter Steven Moffat sollte nun das Schlusswort haben:

“Sherlock Holmes ist ein Genie, deshalb ist er ein bisschen seltsam. Ich weiß nicht, wie oft das im wirklichen Leben vorkommt, aber in der Fiktion kommt es doch oft vor. Und das haben wir Sherlock zu verdanken”

Weiterführende Sendungen:

Arthur Conan Doyle – Spiritist und Gentleman

Musik von Kevin MacLeod.

Samanta Schweblin: Sieben leere Häuser

Im Grunde ist die ganze phantastische Literatur geprägt von der kurzen Form. Hier sind die eigentlichen Meisterwerke zu finden. Viele Literaturkritiker weltweit sind davon überzeugt, dass Samanta Schweblin zu diesen Meistern gehört. Man hat die Autorin bereits in eine Reihe mit Borges und Cortázar gestellt, hat David Lynch bemüht und – fast schon konsequent – Kafka. Sicher, diese ganzen Aussagen werden vom Feuilleton getroffen und entsprechen selten der Realität (was jedem klar sein muss); man möchte den Verlagen in erster Linie Futter für ihren Umschlagtext liefern, aber auf ein paar dieser kanonischen Meister hat Schweblin als Einfluss selbst hingewiesen.

Meiner Ansicht nach wäre es dennoch besser gewesen, Schweblins eigenen Ton herauszustellen, ihre Eigenheit, ihr Können, tatsächlich ihre Meisterschaft. Ihren Charakteren passieren Dinge, gegen die sie nichts tun können. Sie verstehen nicht, was um sie herum vor sich geht oder wie sie aus dieser Situation herauskommen, in der sie sich befinden, denn es gelingt ihnen fast nie. Schweblin zeigt in der Tat einen gewissen Pessimismus auf, was unsere Fähigkeit betrifft, unser eigenes Leben zu kontrollieren. Vielleicht ist das gemeint. Das und die präzise und klare Struktur ihrer Texte, die völlig ohne Verzierungen daherkommen. Was Schweblin wirklich tut, ist, das Seltsame und Unheimliche an menschlichen Beziehungen herauszuarbeiten. Hören wir uns an, was die Autorin selbst darüber zu sagen hat:

Ich denke, eine Geschichte beginnt immer mit etwas wirklich Ungewöhnlichem. Normalität ist eine große Lüge, eine der schmerzhaftesten Lügen, mit denen wir konfrontiert werden. Wir versuchen Tag für Tag, normal zu sein, aber Normalität ist eine Illusion. Es gibt eine Kluft zwischen zwei Menschen, aber niemanden, der diesen Raum einnimmt. Er ist leer. Wenn man eine Beziehung zu den Menschen um sich herum aufnimmt, dann entsteht diese Verbindung nicht aufgrund der guten Momente. Man baut diese Verbindung über Trauer und Vergebung auf, über die Akzeptanz, dass der andere wirklich anders ist als man selbst. Die Idee der Normalität trennt uns. (Schweblin im Pen Transmissions Magazine)

Sieben leere Häuser

In den Geschichten ihres dritten Buches gibt es hinter der angespannten und leicht melancholischen Atmosphäre, den Charakteren, die durch Räume wandern (in Vororten, Städten, Hintergärten von Häusern, Wohnungen, U-Bahnen, Krankenhäusern, Aufzügen), ein größeres Narrativ, das langsam konfiguriert, was einst als Kosmovision bezeichnet wurde und was wir heute etwas zurückhaltender als Ahnung oder Impuls identifizieren können: In Schweblins Geschichten kann alles passieren.

Samanta Schweblin hat eine klassische Vorstellung des Geschichtenerzählens. Sie hat in mehreren Interviews gesagt, dass sie bei ihrem Ausgangspunkt an Intensität oder gar Angst und Unerbittlichkeit denkt. Es gäbe eine Art Zaubertrick in der Gattung der Kurzgeschichte. Diese Vorstellung korrespondiert nicht nur mit den kanonischen Traditionen der Meister des phantastischen Genres, sondern auch mit der Theorie über die literarische Form, die Edgar Allan Poe mit seinem Urteil über den Effekt der Kurzgeschichte mit fast mathematischer Präzision aufgezeigt hat. Schweblin hat auf ihre Einflüsse hingewiesen: Franz Kafka, Ray Bradbury, Cortázar. Sie nimmt den narrativen Ton Kafkas, der mit völliger Natürlichkeit etwas erzählt, das schmutzig, schrecklich, oder einfach nur traurig sein mag; sie bewundert den unbändigen Optimismus Bradburys; und wie Cortázar betont sie die unaufhörliche Suche nach neuen Wegen des Erzählens.

Das krönende Beispiel für diese Einstellung zur Kurzgeschichte in dieser Sammlung ist “Ein Mann ohne Glück”. Die Erzählung wurde 2012 mit dem Juan-Rulfo-Preis ausgezeichnet und ist ein kristallklares Modell seiner Art. In ihr findet man Spannung und Geheimnis, spielerischen Geist und strukturelle Strenge, Wahrhaftigkeit, Seltsamkeit und ein vollendetes Ende, mit einem kleinen Mädchen, das ein Stück Papier schluckt, auf das ihr mysteriöser Begleiter seinen geheimen Namen geschrieben hat, den sie schweigend wiederholt, damit “sie ihn nie vergessen würde”.

In der Geschichte dieses kleinen Mädchens und eines Mannes, die sich zufällig in einem Wartezimmer eines Krankenhauses treffen, und er ihr am Ende ein neues Paar Unterhosen kauft, weil sie Geburtstag hat – und aus vielerlei anderen Gründen – steckt all das, was Schweblin als Schriftstellerin interessiert: Missverständnisse, unterschiedlich einsame Menschen, die sich in ihrer Entfremdung begegnen, Familiengeschichten und Hysterien, kleine Übertretungen, etwas exzentrische Charaktere, die Liebe zum Detail in Bezug auf die schwarzen Unterhosen, die sie stehlen. Die Geschichte ist in ihrer Zirkularität fast zu perfekt und wurde in die Originalfassung des Buches nicht aufgenommen, weil es keine Geschichte mit einem Haus ist. Allerdings wurde Schweblin gebeten, sie aufzunehmen, weil sie damit zwei Preise gewonnen hatte.

Die zweite Geschichte des Bandes, “Meine Eltern und meine Kinder” behandelt ein ziemlich merkwürdiges Ereignis. Erzähler und Protagonist ist hier Javier, der die Ereignisse so wiedergibt, als ob er sie selbst nicht ganz verstanden hätte. Diese Perspektive bringt die Dichotomie zwischen Kindern und Erwachsenen zur Geltung. Javiers Eltern, etwas senil, haben sich ausgezogen und springen wie spielerische Kinder nackt im Garten umher. Seine Ex-Frau Marga stellt ihm Charly, ihren neuen Freund, vor; die Spannung wächst. Und etwas passiert: Die Kinder verschwinden. Das Trio sucht nach Kindern und Großeltern. Marga verliert die Kontrolle und greift Javier an; Charly trennt sie voneinander, und wir Leser wissen, dass wir eigentlich vom Haupträtsel abgelenkt werden: Ist das ein Spiel oder ein schrecklicher Unfall? Die Polizei kommt und während sie mit dem Auto nach den vermissten Personen entlang der Straße suchen, entdeckt Javier die Wahrheit.  Auch die dritte Geschichte, “Es passiert immer wieder in diesem Haus”, ist von seltsamen Ritualen geprägt. Die Erzählerin spürt das Klopfen an der Tür wie Hammerschläge gegen ihren Kopf. Die Zutaten sind: das Paar nebenan, ein totes Kind, er traurig und resigniert, sie scheinbar gewalttätig wirft die Kleider ihres toten Sohnes immer wieder in den Garten der Erzählerin, die sich fragt, ob nun der Mann oder die Frau hinter dieser Tat steckt. Das andere Paar besteht aus der Erzählerin und ihrem Sohn, dem Vernünftigen, der sagt: “Die sind komplett durchgeknallt”, der damit droht, die Kleider zu verbrennen, wenn sie das nächste Mal in den Garten geworfen werden. In diesem Buch ist Gewalt immer als vager Schimmer präsent, eine Finte, die manchmal zu einer tieferen Verbindung führt.

In “Die Höhlenatmung” ist die Protagonistin wieder Teil eines älteren Paares. Hier finden wir alle Zutaten von Schweblins literarischem System: Geister (ein toter Junge, der der kranken Lola erscheint, ersetzt metaphorisch ihren eigenen Sohn, tot wie in “Es passiert immer wieder in diesem Haus”), Räume, die andere Dimensionen zu enthalten scheinen (das Haus nebenan, in das die ärmlichen neuen Nachbarn ziehen, Lolas Garten, in dem sich der Nachbarsjunge immer mit ihrem Mann traf, der Graben, in dem sie den toten Körper des Jungen finden), rätselhafte und bedeutsame Details (das Kakaopulver, das zur Besessenheit Lolas wird, ihre kontinuierliche Zusammenstellung von Kisten, Lolas Listen:  “Sich auf den Tod konzentrieren. Er ist tot. Die Frau von nebenan ist gefährlich. Wenn du dich nicht erinnerst, warte, warte ab”).

Wir sehen alles durch die Augen der alten Frau, die ihr Unwohlsein hinauszieht, damit sich ihr Mann schuldig fühlt, bis er vor ihr stirbt: “Er hatte sie mit dem Haus und den Kisten allein gelassen. Er war für immer gegangen, nach allem, was sie für ihn getan hatte.” Hier liegt das Herz der Geschichte, getragen von ihrer höhlenartigen Atmung.

Die Geschichten aus diesem und anderen Büchern Schweblins scheinen oft Alpträume im Text zu materialisieren, das ist auch der Fall in den abschließenden Geschichte “Weggehen”. Fast wie ein Kurzfilm erzählt, sehen wir in der ersten Einstellung ein Paar mit der weiblichen Erzählerin, die ihre Wohnung mit nassen Haaren und Pantoffeln verlässt. “Ich habe keine Schlüssel, sage ich zu mir, und ich bin mir nicht sicher, ob mich das beunruhigt. Ich bin nackt unter dem Bademantel.” Jeder, der in einem Mehrfamilienhaus wohnt, weiß, dass der Aufzug ein unvermeidlicher Treffpunkt ist. Die Frau trifft dort einen Mann, der ein Teil des Gebäudes zu sein scheint, jemanden, der dort etwas tut. Was folgt, ist eine Komplizenschaft, die durch den rätselhaften Satz des Mannes – “meine Frau wird mich umbringen” – und eine Reise im Auto in Buenos Aires auf der Calle Corrientes mit langsamer Geschwindigkeit gekennzeichnet ist. Wie in den Fällen von “Es geschieht immer wieder in diesem Haus” und “Ein Mann ohne Glück” wird die Verbindung zwischen zwei seltsamen, aber nicht voneinander entfremdeten Wesen in konspirativen Dialogen subtil umrissen, um sich dann aufzulösen. Es ist kein Zufall – nichts ist es jemals bei Schweblin -, dass der Mann behauptet, ein “Eskapist” in einer Geschichte zu sein, deren Protagonistin das Ziel, das sie selbst verfolgt, nicht erreicht.

Die erste Geschichte des Bandes, “Nichts von all dem” beginnt gleich bedeutungsvoll:

“Wir haben uns verfahren”, sagt meine Mutter.”

Dieser Verlust ist wörtlich und metaphorisch zu verstehen, denn die richtungslose Mutter gehört keinem Ort an und zieht deshalb ihre Tochter in die Invasion (das Leitmotiv des Bandes) fremder Räume hinein, zuerst im Auto, indem sie “einen doppelten Halbkreis aus Schlamm” zeichnet, und dann außerhalb davon zu Fuß in jene teuren Häuser eindringt, die nicht wie ihre sind, die von Bäumen umgeben sind, die weißen Marmor und luxuriöse Räume haben.

Wie in “Die Höhlenatmung” ist der Unterschied in der sozialen Schicht spürbar: “Wo bekommt man all diese Dinge her? . . Es macht mich so traurig, dass ich sterben möchte.”

Aber in diesem Fall ist der Kontrast mit dem Humor der Verwechslung und des Absurden überzogen, gekrönt durch das Bild der Mutter, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich des fremden Hauptschlafzimmers liegt. Die Tochter-Erzählerin, ihre verärgerte Komplizin, tritt an die Stelle des verantwortlichen und vernünftigen Erwachsenen: “Was zum Teufel machen wir in den Häusern anderer Leute?” fragt sie, und dann ein wenig später, “Was zum Teufel hast du in diesen Häusern verloren?” Das Ende erinnert in seiner Konfrontation an das von “Die Höhlenatmung”, aber was in Erinnerung bleibt, ist das Bild der Mutter, die die Zuckerdose, die sie gestohlen hat, im Garten ihres eigenen Hauses begräbt.

“Vierzig Quadratzentimeter” wiederum inszeniert ein komplexes Schema von kleinen Geschichten, die sich kaum miteinander verbinden: die Geschichte der Schwiegermutter der Protagonistin, Marianos Frau, und den Verkauf ihres Eherings; die Geschichte der Abreise nach Spanien und der Rückkehr der Jüngsten nach Buenos Aires, die Geschichte der Beziehung zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter, die Geschichte der Begegnung mit dem mysteriösen Bettler in der U-Bahnstation und die Geschichte der Aspirinpackung. Die Geschichte ist eine Reise und ein Abenteuer von jemandem, der, wie alle Charaktere des Buches, verloren ist und sich an etwas klammert: in diesem Fall, wie Lola, an einer Reihe von Kisten, die eine bereits veraltete Identität enthalten. Die Offenbarung kommt nicht durch die Anekdote, sondern durch Nachdenken: Die Schwiegermutter erklärt, dass sie, nachdem sie ihren Ring verkauft hat, an einer Bushaltestelle auf einer Bank saß und nichts tat. Sie verstand, dass sie auf vierzig Quadratzentimetern saß “und dass das der einzige Raum war, den ihr Körper auf dieser Welt einnahm”. Und so kann die Protagonistin auf der Karte, die sie dem Bettler zeigt, ihre eigene Adresse nicht finden.

Auf den ersten Blick sind die Häuser dieses Buches nicht leer. Vielmehr sind sie voller Objekte. Die Leere von “Sieben leere Häuser” ist eine andere: Das langsam und unvermeidlich zusammenbrechende Haus ist die innere Wohnstätte. Es ist die Welt der Erwachsenen, die uns konditioniert und antreibt, und angesichts dieser Welt leisten wir eine Art Widerstand, um nicht in resignierte Häuslichkeit zu fallen. Zwar ist das Samanta Schweblins am wenigsten phantastisches Buch, aber wir müssen Wege finden, um aus den einfachen und platten Kategorien zu entkommen. Anders können wir ihr Werk nicht beschreiben. Wichtiger ist es, von einer eigenen Syntax zu sprechen, die von der Wirkung des Exils und vielleicht einem gewissen Wunder vor der Existenz besessen ist.

Das Buch ist bei Suhrkamp erschienen.

Edgar Allan Poe: Das Manuskript in der Flasche

Willkommen zu einer neuen Ausgabe unserer Analyse der Werke von Edgar Allan Poe. Heute mit “Das Manuskript in der Flaschen”, im Original: “MS. Found in a Bottle”, neben “Ein Sturz in den Malstrom”, “Die längliche Kiste” und “Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket” eine von Poes Seefahrergeschichten.

Unterm Strich begründete “Das Manuskript in der Flasche” Poes Karriere mit einem kleinen Paukenschlag.

Ein namenloser Erzähler bemüht sich zu Beginn, seine Leser von seiner rationalistischen Geisthaltung zu überzeugen. Er gibt zu, eine starre, fantasielose Denkweise zu haben, die der Wahrheit gewidmet und dem Aberglauben gegenüber unempfänglich ist, um dann aber sofort in eine frühe Phase der psychologischen Verfahrensweise zu treten, die erst für die Figuren der späteren Prosa Poes typisch ist.:

“Viele Menschen haben mich verrückt geheißen, aber noch ist die Frage nicht gelöst, ob Wahnsinn nicht der höchste Grad von Intelligenz ist…”

Dann erzählt er von einer Reise mit einem Schiff voller Baumwolle, Kakaonüssen und ein paar Kisten Opium. Bald nach der Abreise bemerkt er eine große, bedrohliche Wolke in der Ferne und fürchtet die Zeichen eines herannahenden Unheils. Der Kapitän des Schiffes weist jedoch die Befürchtungen des Erzählers zurück. Als er sich unter Deck zurückzieht, hört er ein lautes Geräusch und merkt, wie das Schiff von einer mächtigen Sturmwelle erfasst wird, der die gesamte Besatzung zum Opfer fällt, bis auf ihn und einen alten schwedischen Seemann. Fünf Tage lang dümpeln die beiden Männer auf dem zerbrochenen Schiff steuerlos dahin. Sie bemerken, dass ihre Umgebung kalt geworden ist, und bald überwältigt sie die völlige Dunkelheit.

Ein weiterer Hurrikan bricht in diese Dunkelheit hinein, und die Männer beobachten ein riesiges schwarzes Schiff, das unter vollen Segeln auf dem Kamm einer haushohen Welle reitet und dann in die Tiefe stürzt. Die folgende Kollision schleudert den Erzähler mit unwiderstehlicher Gewalt in das Tauwerk des fremden Schiffes. Bis dahin waren seine Erlebnisse noch rational erklärbar, aber nun ist er in einen Bereich eingedrungen, der außerhalb von Raum und Zeit liegt. Er versteckt sich im Laderaum, wo er die greisen Seefahrer des Schiffes beobachtet, die eine unbekannte Sprache sprechen. Er ist sich über den Zweck des Schiffes unsicher, dessen Holz seltsam porös ist. Außerdem scheinen die Besatzungsmitglieder nicht in der Lage zu sein, den Erzähler zu sehen. Selbst der alte Kapitän schenkt ihm keine Beachtung. Mutiger werdend erkundet er die private Kabine des Kapitäns, in der er Papier findet, auf das er vorliegende Geschichte schreibt. Er packt das Manuskript in eine Flasche und wirft sie ins Meer.

Das Geheimnis offenbart sich zuletzt – im Sturz in den Strudel, und nur das Manuskript in der Flasche gelangt zurück in den Bereich des Irdischen, um eine Ahnung zu vermitteln, was nicht in Worte zu fassen ist.

Das Manuskript in der Flasche (MS. Found in a Bottle) erschien zunächst in der Ausgabe vom 19. Oktober 1833 einer Zeitung aus Baltimore, dem Saturday Visiter und war der Siegertext eines Literaturwettbewerbs für die beste Kurzgeschichte. Poe hatte dem Visitor sechs Geschichten vorgelegt, und die Zeitung erhielt insgesamt über hundert Einreichungen. Obwohl der Visitor alle Beiträge von Poe lobte, hob er “MS. Found in a Bottle” für seine große Fantasie und seine einzigartige Demonstration stupenden Wissens hervor. Der Visitor ermutigte Poe, einen Band mit Erzählungen zu veröffentlichen. Diesem Rat folgend, stellte Poe in den nächsten Jahren seine “Tales of the Grotesque and Arabesque” zusammen und veröffentlichte die Sammlung dann 1840.

Das Manuskrip in der Flasche war ein frühes Highlight in Poes literarischer Karriere und trug zu seinem Ruf, besonders in Baltimore, bei. Poe fügte es ursprünglich einem größeren Band hinzu, den er “Eleven Tales of the Arabesque” nannte, und dem er später erst die Kategorie der “Grotesque” beimengte. Diese Klassifizierung deutet auf eine Unterscheidung in Poes Schriften zwischen einer arabesken Geschichte und eine groteske Geschichte hin, deren Bedeutungen Poe selbst nie auflöste, auch wenn klar ist, dass er mit Arabesken die düster-phantastischen Schilderungen von Geschehnissen meint, die ein Prosa-Äquivalent zu seinen Dichtungen darstellen, während unter grotesken Geschichten diejenigen satirischen, burlesken und komischen Inhalts zu verstehen sind.

Das Manuskript in der Flasche ist auch eine von Poes berühmtesten Science-Fiction-Geschichten. Poe war fasziniert vom Südpol, und er las wie besessen in den Tagebücher Alexander von Humboldts, der ein Zeitgenosse Poes war, und der im Rahmen seiner weltumspannenden Forschung überall hin reiste. Poe interessierte sich für die fantastische Vorstellung eines Lochs im Südpol, das sich bis auf die andere Seite des Globus ausdehnte. Das Bild des Strudels kennzeichnet den Südpol als eine bedrohliche Region jenseits von menschlicher Rationalität und Wissen. Poe genoss diese erzählerische Richtung so sehr, dass er sie in den folgenden Geschichten wieder aufgriff. Er erweiterte sein Thema über den Südpol in seinem 1838 erschienenen Roman Der Bericht des Arthur Gordon Pym, einer Abenteuergeschichte über Spionage, Meuterei und Forschung, die auf irrationale Weiße in einen Strudel in der Nähe des Südpols führt.

Der Horror von Das Manuskript in der Flasche entstammt seinen wissenschaftlichen Imaginationen und der Beschreibung einer physischen Welt jenseits der Grenzen der menschlichen Erfahrung. Er betont diese Ideen und ruft uns an den Anfang der Geschichte zurück, in der der Erzähler seine Treue zum Realismus verkündet. Dieser Realismus geht mit dem Abstieg in den Strudel verloren, wie vermutlich auch das Leben des Erzählers.

Der britische Romantiker Samuel Taylor Coleridge beschrieb in seinem Gedicht “The Rime of the Ancient Mariner” eine ähnliche Reise ins Unbekannte. Durch das Betreten des Schiffes älterer Seeleute nimmt Poes Erzähler an einer ähnlichen Reise teil. Coleridges Seemann reiste nach Süden ins Unbekannte und kehrte vernarbt und verändert durch die Erfahrung zurück, mit größerer Kenntnis des inneren Selbst. Poes Erzähler blickt während der Erzählung tiefer in sein eigenes Selbst und schämt sich für sein früheres Ich. Wir erfahren jedoch nichts von einer Rückkehr, sondern erhalten nur das Manuskript in der Flasche.

Musik von David Fesliyan.

Edgar Allan Poes “Der Goldkäfer”

Edgar Allan Poe wurde von Verlagen und Medien zu einen Synonym für Gruselgeschichten und dunkler Poesie stilisiert, vor allem in Deutschland. Zu seinen Lebzeiten war das allerdings nicht der Fall. Eine seiner bei weitem berühmtesten Geschichten ist eine, die heute weniger bekannt ist: Der Goldkäfer.

Ich dürfte etwa 11 Jahre alt gewesen sein, als ich diese Geschichte zum ersten Mal las. Vom ersten Augenblick an hat mich die Liebe zu Edgar Allan Poes Leben und Werk erfasst und nie wieder losgelassen.

Dies ist also der erste Teil einer Reihe von Artikeln und Sendungen, die sich um das Vermächtnis eines der größten literarischen Genies aller Zeiten gruppieren.

Obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht, ist “Der Goldkäfer” eine Art Detektivgeschichte, mit William Legrand als dem in einer Hütte lebenden amerikanischen Gegenstück zum französischen C. Auguste Dupin in “Der Doppelmord in der Rue Morgue”, “Der entwendete Brief” und “Das Geheimnis der Marie Roget” und dem Erzähler als verwirrtem, aber intelligentem Handlanger, der Zeuge des Genies der Hauptfigur wird. Wie Dupin ist auch Legrand der Nachkomme einer alten Familie, der sich an intellektuellen Tätigkeiten erfreut und als Abenteurer nach der Gelegenheit Ausschau hält, einen Teil seines Reichtums wiederzuerlangen. Legrands Erklärung, wie er mit Hilfe von Beobachtung und Logik hinter das Geheimnis von Kapitän Kidds Schatz gekommen ist, weist einige Ähnlichkeiten mit Dupins Methode der Ratiokination auf, und beide zeigen eine Vorliebe dafür, sich auf subtile Weise über andere lustig zu machen, wie etwa den Polizeipräfekten in “Der entwendete Brief”. Auch Legrands Erklärung am Ende hat alle Facetten der Enthüllung eines Detektivs.

In “Der Goldkäfer” trifft unser namenloser Erzähler also William Legrand, der auf einer Insel in der Nähe von Charleston, South Carolina, lebt, nachdem er sein Familienvermögen verloren hat, um sich einen ungewöhnlichen skarabäusartigen Käfer anzusehen, den er entdeckt hat.

Legrand hat den Käfer jedoch einem Offizier geliehen, der in einem nahegelegenen Fort stationiert ist, aber er zeichnet für den Erzähler eine Skizze, mit Markierungen auf dem Panzer, die einem Schädel ähneln.

Man kann sich also vorstellen, wie aufgeregt er ist, als er feststellt, dass sein schwarzer Diener Jupiter beim Einfangen des Käfers versehentlich ein Stück Pergament mit einem Code mitgenommen hat, der den Standort von Kapitän Kidds verlorenem Schatz verrät, als er den Goldkäfer damit anfasste, der zuvor Legrand gebissen hatte.

Wie in “Das vorzeitige Begräbnis” wird in der ersten Hälfte der Geschichte eine Atmosphäre geschaffen, die im Nachhinein betrachtet äußerst irreführend ist. Der Erzähler nimmt Jupiters ständige Andeutungen, dass der Käfer tatsächlich aus Gold sei und dass sein Biss Legrand krank und möglicherweise verrückt gemacht habe, nicht für bare Münze, aber dennoch gibt Legrand keinen Hinweis darauf, dass er Jupiters Ideen verwirft, bis sie die Schatztruhe gefunden haben.

Die falsche Spur

Die offensichtlichste Vorahnung auf die Verwendung des Goldkäfers als falsche Spur findet sich zu Beginn der Geschichte in der Epigraphik, wo es heißt:

“Holla, holla! Der Bursche tanzt wie toll!
Es hat ihn die Tarantel gebissen.”

Das Zitat stammt – laut Poe – angeblich aus Arthur Murphys Komödie “All in the Wrong”, lässt sich dort aber nicht finden. Es wäre nicht das erste Mal, dass Poe eine falsche Zuschreibung ausspricht. Dennoch bezieht es sich auf Berichte von Menschen, die nach einem Spinnebiss wie verrückt zu tanzen begannen, um sich von dem Gift zu befreien. Daraus entstand dann der sogenannte Tarantella-Tanz. Wahrscheinlicher ist es, dass Poe sich an die Komödie “The Dramatist” von Frederick Reynolds erinnerte, in der es einen solchen Satz tatsächlich gibt, weil Poe schon einmal aus der gleichen Szene ein Zitat verfälschte.

Wie dem auch sei, korrespondiert das Zitat auf Legrands Krankheit und sein seltsames Verhalten, das angeblich auf den Biss des Käfers zurückzuführen ist. Tatsächlich aber ist der einzige Biss, der sich wirklich auf Legrand auswirkt, die Andeutung eines riesigen Schatzes, mit dem er sein Vermögen wiederherstellen kann.

Bevor Legrand die Bedeutung des Schädels erklärt und sagt, er habe seinen Freunden nur einen Streich gespielt, scheint die Beziehung zwischen dem Goldkäfer und dem Bild des Schädels unheimlich und möglicherweise übernatürlich zu sein. Doch Legrand widersetzt sich den Erwartungen und gibt eine relativ gewöhnliche Erklärung, und trotz des Titels der Geschichte ist der Goldkäfer selbst für die Schatzsuche im Grunde irrelevant und stellt sich als reiner Zufall heraus.

Der Kryptograph

Der Goldkäfer war das erste belletristische Werk, das die Wissenschaft der Kryptographie in die Handlung einbezog. Tatsächlich wurde das Wort “Kryptograph” von Poe erfunden und in dieser Geschichte zum ersten Mal verwendet. Die Geschichte inspirierte spätere Kryptologen (darunter William F. Friedman, ein Amerikaner, der in Kryptografiekreisen für die Entschlüsselung des japanischen PURPLE-Codes im Zweiten Weltkrieg berühmt wurde) und Dutzende von Schriftstellern in aller Welt. Es ist durchaus plausibel, dass die Wissenschaft der Kryptoanalyse, wie wir sie heute kennen, ohne den Goldkäfer nicht existieren würde.

Vor Poe war die Kryptographie für die meisten Menschen ein völliges Rätsel. Einfache Substitutions-Chiffren wie die im Goldkäfer galten als unlösbar, es sei denn, man besaß den Schlüssel, um sie zu entschlüsseln. Doch Poes Sprachkenntnisse und seine Besessenheit von der Logik, der “Ratiokination”, ließen ihn erkennen, dass jeder Code geknackt werden konnte. Und er zeigte den Leuten genau, wie man das macht.

Im Jahr 1839, vier Jahre vor der Veröffentlichung des Goldkäfers, veröffentlichte Poe einen Artikel im Alexander’s Weekly Messenger, in dem er die Leser aufforderte, ihm verschlüsselte Nachrichten zu schicken. Dort ließ er verlauten, dass er jede Substitutions-Chiffre lösen könnte. Eine einfache Substitutions-Chiffre ist ein Buchstabe oder ein Zeichen, das für einen anderen Buchstaben des Alphabets in der verborgenen Nachricht steht. Poes Herausforderung bestand auch darin, dass die Kryptogramme die Wortgrenzen einhalten mussten.

In seinen eigenen Worten:

“Es wäre keineswegs eine verlorene Mühe, zu zeigen, wie sehr das Rätselraten von einer strengen Methode geprägt ist. Das mag seltsam klingen; aber es ist nicht seltsamer als die bekannte Tatsache, dass es tatsächlich Regeln gibt, mit deren Hilfe es leicht ist, jede Art von Hieroglyphenschrift zu entziffern – das heißt eine Schrift, bei der anstelle der Buchstaben des Alphabets jede Art von Zeichen willkürlich verwendet wird. Zum Beispiel kann man anstelle von A ein % oder ein anderes beliebiges Zeichen setzen, anstelle von B ein * usw. usw. Auf diese Weise kann man ein ganzes Alphabet erstellen und dieses Alphabet dann in einer beliebigen Schrift verwenden. Diese Schrift kann mit Hilfe einer geeigneten Methode gelesen werden. Machen wir die Probe aufs Exempel. Lassen Sie jemanden einen Brief auf diese Weise an uns richten, und wir versprechen, ihn sofort zu lesen – wie ungewöhnlich oder willkürlich die verwendeten Zeichen auch sein mögen.”

Poe wusste, dass die Häufigkeit der Buchstaben in den Nachrichten der Schlüssel zum Knacken der Codes sein würde. Nach heutigen Maßstäben ist dies eine ziemlich einfache Technik zum Brechen von Codes, aber zu jener Zeit war sie bahnbrechend. Poes Herausforderung des Publikums wurde ein Riesenerfolg: Er erhielt Hunderte von verschlüsselten Nachrichten aus dem ganzen Land und löste sie tatsächlich alle, bis auf eine, die aus zufälligen Zeichen bestand, die dann auch keinerlei Bedeutung hatten. Im Grunde löste er also auch diese.

Poe erkannte die Faszination der Öffentlichkeit für das Knacken von Codes und beschloss, eine Geschichte speziell für sein chiffrierfanatisches Publikum zu schreiben. Ein vergrabener Schatz, eine exotische, “sehr einzigartige” Insel, Geheimnisse, Wahnsinn und – ein Muss in jeder guten Schatzsuchergeschichte – das Gespenst des Todes: Das Ergebnis ist eine abenteuerliche Geschichte, die die Fantasie der Menschen beflügelte und Poe zu einem bekannten Namen machte.

Die Geschichte wurde mit einem Preisgeld von 100 Dollar ausgezeichnet – dem höchsten Preis, den Poe zu Lebzeiten für ein einziges Werk erhielt – und in der “Dollar Newspaper” veröffentlicht, was zu einem sofortigen Erfolg führte. Es war der Goldkäfer – und nicht der Rabe oder das verräterische Herz -, der Poes Lesungen ein volles Haus bescherte und seine internationale Fangemeinde in so weit entfernten Ländern wie Frankreich, Russland und Japan begründete.

Nicht der Erzähler, sondern Legrand ist Poes Repräsentant in der Geschichte, der hier Poes Vorliebe für Ironie und Satire zeigt, indem er mit den Verdächtigungen seiner Freunde spielt und den Fall schließlich mit Einfallsreichtum und kluger Argumentation löst. Obwohl Legrands Abhandlung über Chiffren den Fluss der Geschichte unterbricht, zeigt sie erfolgreich ihre Intelligenz und hilft dem Erzähler, die Gedankenkette von Legrand zu verstehen und das zu glauben, was schließlich zur Entdeckung des Schatzes führt.

Arthur Conan Doyle: Eine Studie in Scharlachrot

Lange Zeit musste man in Sachen Sherlock Holmes mit der Übersetzung von Heinrich Darnoc, H. O. Herzog und Margarete Jacobi auskommen, die nicht nur hölzern, sondern auch ungenau ist. Ich empfehle also für das Lesevergnügen die Neuübersetzung von Henning Ahrens im Fischer-Verlag, nur für den Fall, dass jemand nicht das Original lesen möchte.Und damit begrüße ich euch zu einer weiteren Folge unserer Buchbesprechungen.

Auch wenn dieser erste Sherlock-Holmes-Roman nicht der beste der vier auf uns gekommenen ist, steht er am Beginn einer denkwürdigen Genreentwicklung. Dass Arthur Conan Doyle sich bei Edgar Allan Poe bedient hat, weiß man, nur darf man das in diesem Fall nicht zu hoch hängen, denn Doyle hat aus der Idee des Detektivs etwas völlig anderes gemacht. Eine Studie in Scharlachrot wurde erstmals 1887 von Ward Lock und Co. im “Beeton’s Christmas Annual” unter dem Titel “A Tangled Skein” (etwa: Ein verheddertes Knäuel) veröffentlicht. Eine Ausgabe dieser Zeitschrift, die “A Study in Scarlet” beinhaltet, ging 2007 bei Southeby’s für 15.600 US-Dollar über den Ladentisch. Mit solchen Summen können ansonsten nur seltene Comics konkurrieren. Bedenkt man, dass ohne Sherlock Holmes’ Einschlag in die die Literaturgeschichte, dieses Magazin heute ganz und gar vergessen wäre (anders wie “The Strand”, das es noch heute gibt und wo Doyle ab 1891 regelmäßig veröffentlichte), ist das eine nette Verewigung.

Zu Beginn des Romans kehrt Dr. John Watson frisch nach London zurück, nachdem er als Arzt beim Militär in Afghanistan tätig war. Er ist auf der Suche nach einer Wohnung und einem Mitbewohner. Ein Freund stellt ihm Sherlock Holmes vor, der ebenfalls einen Mitbewohner sucht. Schon bald nehmen beide Quartier in der wohl berühmtesten Adresse der Literaturgeschichte: 221B Baker Street. Watson wird schnell klar, dass Sherlock Holmes in der Tat eine Figur von epischer Größe ist, die über profunde Kenntnisse in Chemie, Geologie, Botanik und einer Reihe anderer wichtiger Fächer verfügt, aber nur wenig über Literatur, Astronomie, Philosophie und Politik weiß; und sein Interesse an Holmes wird noch weiter geweckt, als Holmes einen Brief von Tobias Gregson von der Polizei erhält, in dem er ihn bittet, seine Meinung zum mysteriösen Tod von Enoch Drebber zu äußern.

Sherlock Holmes; Richard Gutschmidt 1902

Der erste dokumentierte Fall des Detektivs ist ungewöhnlich gewalttätig: Zwei Amerikaner werden ermordet – der eine in einem leeren Haus, der andere in seinem Hotelzimmer; die Tatorte sind übersät mit Beweisen – ein Ehering, eine Pillendose, Zigarrenasche, Fußabdrücke und das deutsche Wort RACHE, das mit Blut an die Wände gekritzelt ist. Scotland Yard ist ratlos; Holmes’ Dienste werden in Anspruch genommen.

Zuerst wird Arthur Charpentier, dessen Mutter die Pension unterhält, des Mordes verdächtigt; Drebber hatte Arthurs Schwester recht unsittliche Annäherungsversuche gemacht und sich als ein sehr unangenehmer Untermieter gezeigt. Doch dann wird auch Drebbers Sekretär Stangerson ermordet, und es wird bald klar, dass die beiden Todesfälle miteinander in Verbindung stehen. Da sich Arthur Charpentier zum Zeitpunkt des Mordes in Polizeigewahrsam befand, ist es unmöglich, dass er das Verbrechen begangen haben könnte. Eine andere Theorie zu Drebbers Mord verdächtigt Stangerson, aber auch diese Theorie wird durch dessen Tod zunichte gemacht.

Holmes setzt seine deduktiven Fähigkeiten ein und findet heraus, wer Enoch Drebber und Joseph Stangerson getötet hat. Es stellt sich heraus, dass die Morde mit Ereignissen in ihrer Vergangenheit zusammen hängen. Man könnte sogar sagen, dass ihre Vergangenheit sie eingeholt hat.

Mehrere wichtige Elemente ziehen sich durch diesen Roman. Allen voran natürlich Holmes’ Ansatz zur Aufklärung von Verbrechen. Arthur Conan Doyle hatte einst bemerkt, dass die Detektive seiner Zeit fast wie durch ein Wunder zu ihren Schlussfolgerungen kamen. Doyle aber wollte einen Detektiv, der Verbrechen tatsächlich aufklärt und mit wissenschaftlichen Mitteln zu seinen Schlussfolgerungen kommt. Durch den ganzen Roman hindurch sehen wir diese Art von Schlussfolgerungen, die allein auf Holmes’ Beobachtungen beruhen. Das war seinerzeit innovativ, und die kriminalpolizeiliche Untersuchung hat sich seither dieser Art von Logik angenähert und bedient sich ihrer noch immer, auch wenn die technischen Möglichkeiten unvorstellbar komplex geworden sind.

Ein weiteres Element ist die Reihe von Figuren, die später integraler Bestandteil der Holmes-Geschichten werden. Da sind natürlich Holmes und Watson selbst. Es gibt aber auch die Londoner Detektive Lestrade und Gregson, die Holmes als “…die Wahl eines schlechten Loses” beschreibt und die Baker Street Irregulars, eine Gruppe zerlumpter Kinder unter der Leitung des Ältesten, Wiggins, der Holmes direkt unterstellt ist. Diese Kinder kennen die Stadt sehr gut, da sie hauptsächlich auf der Straße leben. Sie sehen alles, was passiert, und was sie nicht sehen, können sie oft herausfinden, ohne auf sich aufmerksam zu machen. All diese Figuren verleihen den Holmes-Geschichten eine gewisse Tiefe, und sie alle spielen in dieser Geschichte eine Rolle. Und dann ist da noch London selbst, das, so klischeehaft es auch erscheinen mag, wirklich zu einer wichtigen Figur in diesem Roman wird (obwohl interessanterweise etwa die Hälfte der Handlung nicht dort stattfindet). Conan Doyle beschreibt die Gassen, Stadtviertel, Hauptstraßen und Sehenswürdigkeiten der Stadt anschaulich, so dass der Leser eine starke Verbundenheit mit der Stadt verspürt, auch wenn man sagen muss, dass Doyle längst nicht der beste Autor ist, wenn es um die Londoner Atmosphäre geht.

Um die Morde zu erklären, blickt Doyle etwa zwanzig Jahre zurück auf die frühe mormonische Besiedlung des Utah-Territoriums. Der Übergang vom spätviktorianischen London zu den großen Alkaliwüsten des nordamerikanischen Westens kommt ruckartig und man wähnt sich plötzlich in einem ganz anderen Buch. Ausgehend von voreingenommenen, den Mormonen feindlich gesinnten Quellen skizziert Doyle eine “historische” Romanze, in der die Heiligen als blutrünstige weiße Sklavenhändler dargestellt werden, die von der kriegerischen Figur des Brigham Young dominiert werden. Doyles Geschichte windet sich einige Kapitel lang auf dieser Tangente ab, bis wir plötzlich wieder im Salon der Baker Street 221B sind, wo das Rätsel gelöst, aufgearbeitet, neu erzählt und unbeholfen zu Grabe getragen wird.

Trotz mancher Mängel ist “Eine Studie in Scharlachrot” natürlich Pflichtlektüre für jeden Sherlock-Holmes-Fan. Die Begegnung mit Holmes in all seiner Schrulligkeit ist die manchmal etwas unangenehme Mühe wert, mit der man sich durch den zweiten Teil der Erzählung quält.

Musik von Kevin MacLeod.

Kleine Geschichte des Kriminalromans

Genrebeschreibungen sind selten eine klare Sache, aber nur deshalb kann man überhaupt darüber diskutieren. Wäre immer alles klar und für jeden ersichtlich, würde ein Lexikoneintrag genügen und der Fall wäre abgehakt. Heute widmen wir uns dem wohl beliebtesten literarischen Genre überhaupt. Dem Kriminalroman.

Dabei sollte berücksichtigt werden, dass es niemals eine erschöpfende Aussage über ein Genre geben kann, und so ist auch dies hier nur eine kleine Übersicht.

Es gibt so viele verschiedene Arten von Kriminalromanen, dass sich bereits in den 1920er Jahren eine der ersten “Queens of Crime”, Dorothy L. Sayers, beschwerte:

“Es ist unmöglich, den Überblick über alle Krimis zu behalten, die heute produziert werden. Buch um Buch, Magazin um Magazin strömen aus der Presse, vollgestopft mit Morden, Diebstählen, Brandstiftungen, Betrügereien, Verschwörungen, Problemen, Rätseln, Mysterien, Nervenkitzel, Verrückten, Gaunern, Giftmördern, Fälschern, Würgern, Polizisten, Spionen, Geheimdienstlern, Detektiven, bis es so aussieht, als müsse die halbe Welt damit beschäftigt sein, Rätsel zu erfinden, damit die andere Hälfte sie lösen kann.”

Wir aber beginnen unseren kleinen Rundgang mit einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Rätselgeschichte und Kriminalroman, bevor wir uns einige historische Daten näher ansehen.

Beschäftigt man sich nicht ausschließlich mit deutschen Begrifflichkeiten, bietet es sich von vorneherein an, die hierzulande gebräuchlichen Genreumschreibungen nahezu allesamt zu verwerfen. Das Englische ist die literaturwissenschaftliche Leitsprache für populäre Literatur, daran ändern auch die länderspezifischen Eigenheiten nichts. Eines von vielen Beispielen ist die Mystery Fiction, also die “Rätselgeschichte”, die bei uns kaum als Begriff verwendet wird. Stattdessen wird der englische Begriff “Mystery” behalten und für eine Form der phantastischen Erzählung verwendet, die eigentlich der Weird Fiction nahe steht, während “Mystery Fiction” zur Kriminalliteratur wird. Das wäre in Wahrheit die Crime Fiction, die sich aber von der Mystery Fiction wiederum unterscheidet.

Rätselgeschichte vs Kriminalgeschichte

In der “Rätselgeschichte” wird ein Verbrechen begangen. Das ist zwar häufig ein Mord, aber nicht immer. Die Handlung schreitet voran und zeigt, wie das Verbrechen aufgelöst wird: Wer hat es getan und warum? (Der Fairness halber muss gesagt werden, dass sich daraus wiederum zwei Subgenres ableiten lassen: Whodunit und Whydunit). Die besten Rätselgeschichten erforschen oft die einzigartige Fähigkeit des Menschen zur Täuschung – insbesondere der Selbsttäuschung – und zeigen die Grenzen des menschlichen Verstandes auf. Tatsächlich wird dieses Genre als das intelligenteste der Spannungsliteratur angesehen. Gewalt ist hier nicht die treibende Kraft, sondern das Spiel des Intellekts. Wie können wir überhaupt so etwas wie Wahrheit erkennen? Ein Mysterium ist per definitionem etwas, das sich dem üblichen Verständnis entzieht, und vielleicht ist das der Grund, warum “Mystery” im deutschen Sprachgebrauch eine abgeschwächte Form der Horrorliteratur bezeichnet.

In der eigentlichen Kriminalgeschichte liegt der Schwerpunkt auf dem Willenskonflikt zwischen dem Helden des Gesetzes und dem Gesetzlosen, sowie auf ihren unterschiedlichen Ansichten über die Moral und die Aspekte der Gesellschaft, die sie repräsentieren.

Die besten Kriminalgeschichten handeln von einer moralischen Abrechnung des Helden mit seinem ganzen Leben oder bieten eine neue Perspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum. Was ist eine gerechte Gesellschaft? Die Erzählwelt des Romans ist aus dem Gleichgewicht geraten, irgendwo zwischen einem Naturzustand (wo Chaos herrscht und diejenigen mit Geld und/oder Waffen die Macht ausüben) und einem Polizeistaat (wo Paranoia herrscht und der Staat die Macht monopolisiert). Der Held hofft, dieses Ungleichgewicht in irgendeiner Weise zu korrigieren.

Andere moralische Themen können die Herausforderung von Anstand, Ehre und Integrität in einer korrupten Welt sein, die individuelle Freiheit gegenüber Recht und Ordnung, und das Spannungsfeld zwischen Ehrgeiz und Verpflichtungen gegenüber anderen.

Schauen wir uns jetzt etwas in der geschichtlichen Entwicklung des Genres um.

Die Geschichte des Kriminalromans

Obwohl es leicht die ein oder andere Seite zu finden gibt, die behauptet zu wissen, was wirklich der erste Krimi der Weltgeschichte war, ist es fast unmöglich, so ein Kunstwerk tatsächlich zu benennen. Manchmal wird sogar die Geschichte von Kain und Abel genannt, und in diesem Fall wäre wohl Gott der Detektiv. Da er allerdings allwissend ist, ist das keine große Sache. Den “drei goldenen Äpfeln” aus Tausendundeiner Nacht wird ebenfalls manchmal die Ehre zuteil, aber ob es sich dabei auch nur im entferntesten Sinne um einen Krimi handelt, ist fraglich, da der Protagonist keine Anstrengungen unternimmt, das Verbrechen aufzuklären und den Mörder der Frau zu finden. Deshalb behaupten wieder andere, der Pokal sollte an ein anderes Märchen mit dem Titel “Die drei Prinzen von Serendip” übergehen, einem mittelalterlichen persischen Märchen, das auf Sri Lanka spielt (Serendip ist der persische Name für diese Insel). Die Prinzen sind hier die Detektive und finden das vermisste Kamel eher durch Zufall (oder durch ihre “Serendipität”; dieses Wort wurde von Horace Walpole, dem Autor der ersten Gothic Novel, geprägt und ist seither in Gebrauch. Es bezeichnet wertvolle Dinge, nach denen man nicht gesucht hat und auf die man aus heiterem Himmel stößt).

Sayers und die Antike

Wo finden wir die frühesten Anfänge des Krimis in der Literatur, und wer hat den ersten Whodunit geschrieben? Die Antwort liegt weiter zurück als Arthur Conan Doyle oder Wilkie Collins oder sogar Edgar Allan Poe, der oft als Vater des Genres angesehen wird. Viel weiter zurück.

Eine der ersten Autoritäten, die sich mit dieser Frage nach Vorläufern beschäftigte, war Dorothy Sayers. In der Einleitung zu ihrer bahnbrechenden Anthologie “The Omnibus of Crime” (1929) stellte Sayers eine kurze Liste der, wie sie es nannte, “Urahnen” des Genres auf.

Aus der antiken römischen Literatur zitierte Sayers die Geschichte von Herkules und Kakus. Als Herkules sein Vieh den Tiber entlang trieb, hielt er an, um ein Nickerchen zu machen. Während er schlief, tauchte das Ungeheuer Kakus aus seiner Höhle auf dem Palatinhügel auf und raubte einen Teil der Herde. Als Herkules erwachte, zählte er die Rinder und stellte fest, dass einige fehlten. Er folgte den Spuren der vermissten Tiere, erreichte eine Stelle, an der die Hufspuren abrupt aufhörten, und war verblüfft. Tatsächlich hatte der schlaue Kakus die Rinder in diese Richtung geführt und sie dann an den Schwänzen zurück in seine Höhle gezerrt. Herkules – offensichtlich kein großer Detektiv – war ratlos, bis er das Muhen des fehlenden Viehs hörte, die Höhle fand und den Dieb tötete.

Sayers zitierte diese Geschichte, weil der Plan des Bösewichts auf dem beruhte, was sie die “Erschaffung falscher Hinweise” nannte – die Hufspuren, die ins Leere führten. Wir haben es hier nicht mit einem vollwertigen Krimi zu tun, sondern nur mit einem rudimentären Element der Kriminalliteratur, das hier vielleicht zum ersten Mal als literarisches Mittel eingesetzt wird. Wie alt ist die Geschichte? Obwohl sie in einer prähistorischen, mythischen Vergangenheit angesiedelt ist, stammen unsere frühesten Beispiele für diese Geschichte (wie die in Vergils Aeneis) aus dem ersten Jahrhundert vor Christus; der große römische Religionshistoriker Georges Dumézil stellt fest, dass “die Legende von der eher unfreundlichen Begegnung zwischen Herkules und Kakus sicherlich noch nicht sehr alt war, als Vergil sie durch seine Dichtkunst aufwertete”.

Aus der jüdischen Literatur zitiert Sayers zwei Geschichten über den biblischen Helden Daniel. Die eine ist die oft gemalte Geschichte von Susanna im Bade. Zwei geile Richter, die zu den Ältesten gehören, spionieren Susanna aus, während sie nackt in einem Teich badet; erregt sprechen die alten Säcke sie an und verlangen Sex von ihr. Falls nicht würden sie das Gerücht streuen, sie treffe heimlich einen Liebhaber. Susanna weigert sich, woraufhin die Ältesten sie des Ehebruchs beschuldigen. Es sieht schlecht aus für die badende Schönheit, bis Daniel ihr zu Hilfe kommt. Er besteht darauf, dass die Ältesten getrennt befragt werden, und tatsächlich, ihre unterschiedlichen Versionen passen nicht zusammen. Als Lügner und falsche Ankläger entlarvt, werden die Ältesten hingerichtet, und Susanna wird rehabilitiert. Sayers bezeichnete dies als die erste Anwendung der “Analyse von Zeugenaussagen”.

Daniel setzte seine detektivischen Fähigkeiten auch ein, um einige Götzenpriester zu entlarven. Jede Nacht wurde ein großes Festmahl für den Götzen Bel in dessen Tempel gebracht, das Heiligtum wurde versiegelt, und am Morgen waren alle Speisen verschwunden, offenbar von Bel gegessen. Eines Tages, kurz bevor der Raum für die Nacht verschlossen wurde, blieb Daniel zurück und verstreute heimlich Asche auf dem Boden. Am nächsten Morgen waren die Schritte der Scharlatane, die sich als Priester ausgaben, deutlich zu sehen; sie waren nachts durch eine Geheimtür eingetreten und hatten das Festmahl selbst verzehrt. Sayers bezeichnete dies als die erste Anwendung der “Analyse von materiellen Beweisen”. Offensichtlich war dieser Daniel ein cleverer Bursche; wir könnten ihn sogar als Detektiv bezeichnen (wenn nicht gar als Mordermittler) und in der Geschichte von Bel einen Vorläufer des Geheimnisses des verschlossenen Raumes sehen.

Im Jahr 1951 veröffentlichte Ellery Queen in Queen’s Quorum “A History of the Detective-Crime Short Story” dieselben Beispiele aus der antiken Literatur und nannte sie die “Inkunabeln” der Krimiliteratur. (Inkunabeln: die frühesten Stadien oder ersten Spuren von etwas; von einem alten lateinischen Wort für die Gurte, die ein Baby in einer Wiege halten).

Was die Behauptung angeht, Daniel sei der erste Detektiv in der Literatur gewesen, so haben sowohl Ellery Queen als auch Dorothy Sayers einen anderen Kandidaten völlig übersehen: Ödipus, König von Theben.

Das berühmte Theaterstück von Sophokles, das die Tragödie des Ödipus erzählt, wurde um 429 v. Chr. in Athen uraufgeführt – Jahrhunderte bevor die “Inkunabeln” über Daniel oder Herkules geschrieben wurden. Schriftliche Fragmente der Ödipus-Geschichte reichen sogar noch weiter zurück, bis in die Anfänge der antiken Literatur.

Es ist nicht nur wahrscheinlich, dass Sophokles’ Ödipus der älteste der hier zitierten “Urahnen” oder “Inkunabeln” ist, die Tragödie ist auch ein vollwertiger Krimi mit allen Elementen, die dem modernen Leser vertraut sind – ein Mörder, ein Opfer, ein Augenzeuge und ein Detektiv, der so lange nach der Wahrheit sucht, bis er die Büchse der Pandora mit den schändlichen Geheimnissen aller Menschen geöffnet hat.

Zu Beginn des Stücks wird die Stadt Theben von einer verheerenden Seuche heimgesucht. Die einzige Möglichkeit, der Seuche Einhalt zu gebieten, besteht darin, den Mörder des vorherigen Königs zu finden. Es ist die Aufgabe des aktuellen Königs Ödipus, das Verbrechen aufzuklären.

Und wie ist Ödipus König geworden? Er kam als einsamer Wanderer nach Theben und beendete eine frühere Pestepidemie, indem er das berühmte Rätsel der Sphinx löste (womit er bereits seine Fähigkeiten zum Lösen von Rätseln unter Beweis stellte); die dankbaren Thebaner machten ihn zum König, um die Stelle zu besetzen, die der kürzlich ermordete König Laios hinterlassen hatte.

Spoiler

… der Mörder des Laios war kein anderer als Ödipus selbst – und Laios war sein Vater. Die Folgen dieser Enthüllung treiben Jocasta in den Selbstmord und Ödipus in die Selbstblendung.

Die alten Griechen wussten, dass Sophokles etwas Besonderes gelungen war. Aristoteles gab Ödipus in seiner Poetik eine begeisterte Kritik: “Von allen Erkenntnissen ist die beste diejenige, die sich aus den Ereignissen selbst ergibt, wo die verblüffende Entdeckung mit natürlichen Mitteln gemacht wird. So ist es im Ödipus des Sophokles. . . . Diese Erkenntnisse allein kommen ohne die künstliche Hilfe von Zeichen oder Amuletten aus.” Mit anderen Worten, die Enthüllungen in Ödipus kommen nicht durch das Ziehen eines Kaninchens aus dem Hut, sondern durch schrittweise detektivische Arbeit, und sie sind umso wirkungsvoller, als sie durch einen Prozess unvermeidlicher Deduktion zustande kommen.

Hätte Sophokles die Geschichte linear erzählt, hätten wir zuerst den Mord und dann die Folgen gesehen und wüssten von Anfang an, wer der Mörder ist. Stattdessen begann er am Ende der Geschichte und konstruierte eine vollständig realisierte Mordgeschichte, wobei er, soweit wir wissen, von keiner vorherigen Vorlage ausging. Sophokles hat nicht nur den Kriminalroman erfunden, er war auch der erste, der das Genre unterlief, selbst als er es schuf, indem er den Detektiv und den Mörder zur selben Person machte. (Als König ist Ödipus auch Richter und Jury, der die Strafe für das Verbrechen verhängt.)

Der erste Kriminalroman

Die erste moderne Kriminalgeschichte wird Edgar Allan Poe und den “Morden in der Rue Morgue” (1841) zugeschrieben, aber in Wirklichkeit ist E. T. A. Hoffmanns “Das Fräulein von Scuderi” mehr als zwanzig Jahre älter. Es gibt auch eine Erzählung mit dem Titel “The Secret Cell” aus dem Jahr 1837, die von Poes eigenem Verleger William Evans Burton geschrieben wurde und einige Jahre älter ist als “Die Morde in der Rue Morgue” und ein frühes Beispiel für eine Detektivgeschichte darstellt. In dieser Erzählung muss ein Polizist das Geheimnis eines entführten Mädchens lösen.

Als erster Kriminalroman wird oft “Der Monddiamant” (1868) von Wilkie Collins genannt, “Das Mysterium von Notting Hill” (1862) von Charles Warren Adams ist ihm jedoch fünf Jahre voraus und somit der tatsächlich erste Kriminalroman, zumindest wenn man den Literaturwissenschaftlern glauben mag. In aller Regel sollte man das nämlich nicht so sehr, schließlich hatte Voltaires mehr als ein Jahrhundert vorher erschienener “Zadig” (1748) keinen unerheblichen Einfluss auf Poe und seinen C. Auguste Dupin. Andere erwähnen Dickens’ Roman “Bleak House” (1853) als einen wichtigen Meilenstein in der Entstehung des modernen Kriminalromans, da er mit Inspektor Bucket einen Detektiv einführt, der den Mord an dem Anwalt Tulkinghorn aufklären muss, wobei das detektivische Geschehen nur den letzten Teil des Buches ausmacht.

Der berühmteste Detektiv ist Sherlock Holmes

Sherlock Holmes ist ohne Zweifel der berühmteste fiktionale Detektiv, der je geschaffen wurde, und neben Hamlet, Peter Pan, Ödipus (dessen Geschichte tatsächlich als die erste Detektivgeschichte der gesamten Literatur bezeichnet werden kann), Heathcliff, Dracula, Frankenstein und anderen zu den berühmtesten fiktionalen Figuren der Welt gehört.

Holmes wurde natürlich von Sir Arthur Conan Doyle geschaffen und ist weitgehend eine Mischung aus Poes Dupin (einige von Dupins Ticks tauchen kaum verschleiert in den Sherlock-Holmes-Geschichten auf) und Dr. Joseph Bell, einem Arzt, der Doyle an der Universität von Edinburgh unterrichtete, als dieser dort Medizin studierte.

Sherlock Holmes macht hingegen landläufiger Meinung keine wirklichen Deduktionen: Streng genommen nimmt seine Analyse die Form einer Induktion an, die etwas völlig anderes ist. In der Logik bedeutet Deduktion, Schlussfolgerungen aus allgemeinen Aussagen zu ziehen, während die Induktion konkrete Beispiele beinhaltet (die Zigarettenasche auf der Kleidung des Klienten, der Lehm an seinen Stiefeln usw.). Alternativ dazu haben einige Logiker auch behauptet, dass Holmes’ Argumentationsketten etwas sind, das als Abduktion und nicht als Deduktion oder Induktion bezeichnet wird. Beim abduktiven Denken geht es darum, auf der Grundlage der vorliegenden Beweise eine Hypothese aufzustellen, was eine recht ordentliche Zusammenfassung dessen darstellt, was Holmes tut.

Die okkulten Detektive

Nach dem Erfolg der Sherlock-Holmes-Geschichten und der steigenden Popularität der Geistergeschichte und des Schauerromans im späten 19. Jahrhundert entstand ein neues Untergenre: Der okkulte Detektiv, der Verbrechen (möglicherweise) übernatürlichen Ursprungs aufklärte, oft im Sherlock-Stil. Dr. Hesselius von Sheridan Le Fanu wird oft als die erste Figur dieser Art zitiert, obwohl er selbst nicht viel auflöst. Meistens sitzt er nur auf einem Stuhl und hört zu. Die beliebteste Figur, die aus diesem Subgenre hervorging, war der “Psycho-Arzt” John Silence, der von Algernon Blackwood geschaffen wurde. Blackwoods John Silence: Physician Extraordinary (1908) war das erste belletristische Werk, das auf Reklametafeln am Straßenrand beworben wurde, und wurde in der Folge auch zu einem Bestseller.

Das 20te Jahrhundert

Im 20ten Jahrhundert war Endeavour Morse nur einer in einer langen Liste von Detektiven im Oxford-Milieu (Oxbridge genannt). Einige seiner bemerkenswerten Vorläufer sind Lord Peter Wimsey (geschaffen von Dorothy L. Sayers), und der Oxford-Professor Gervase Fen, aus der Feder von Edmund Crispin (mit richtigem Namen Bruce Montgomery). Crispin wurde als einer der letzten großen Exponenten des klassischen Kriminalromans bezeichnet.

Die populärste Krimiautorin aller Zeiten aber ist Agatha Christie – und es gibt so viele faszinierende Fakten über Agatha Christie, dass wir sie in einem separaten Beitrag behandeln müssen.

Der Detektivroman vor der viktorianischen Ära

Es ist kein großes Geheimnis, dass der Kriminalroman und die Detektivgeschichte ihre Wurzeln in der Viktorianischen Ära haben, auch wenn man berücksichtigt, dass es Geschichten über Verbrechen schon weitaus früher gab. Zwischen 1800 und 1900 können etwa 6000 Titel verzeichnet werden, die in englischer Sprache erschienen sind. Denn auch das darf nicht verwundern: Die englischsprachigen Länder strotzten damals nur so vor kulturellen Innovationen, was bis heute bis auf kleine Ausnahmen auch so geblieben ist.

Offensichtlich hatte das englische Lesepublikum im Viktorianischen Zeitalter einen großen und seit langem bestehenden Appetit auf Kriminalromane. Woher kam dieser Appetit?

Der berühmte Newgate-Kalender bot ab 1773 der englischen Öffentlichkeit die erste regelmäßige Information über kriminelle Aktivitäten, indem er Geschichten veröffentlichte, die auf den wahren Taten der Gefangenen des Newgate-Gefängnisses basierten. Dort fand man zu den aufgeführten Namen die zur Last gelegten Verbrechen mit detailreichen Beschreibungen, so dass zusammen mit dem biografischen Hintergrund jedes Angeklagten Erzählungen entstanden, die den persönlichen moralischen Verfall betonten und, obwohl als lehrreiche Warnung gedacht, auch Appetit auf mehr solcher Geschichten machten. Die Geschichten breiteten sich also immer mehr aus und beeinflussten bald auch die Belletristik. Populäre Autoren sahen sich auf einmal veranlasst, über Verbrechen zu schreiben, um die Bereitschaft der Bevölkerung auszunutzen, für solche Geschichten zu zahlen. Die Romane, die so entstanden, nannte man Newgate-Romane. Oft wurde darin Sympathie für die Kriminellen ausgedrückt und die Umstände veranschaulicht, die sie zum Verbrechen trieben.

Charles Dickens (Oliver Twist und Barnaby Rudge), Edward Bulwer-Lytton (Paul Clifford und Eugene Aram) und Harrison Ainsworth (Jack Sheppard) erfreuten sich großer Beliebtheit, indem sie spannende Erzählungen über das Leben realer oder erfundener Krimineller anboten.

Die Tageszeitungen berichteten damals über Prozesse, darunter die Illustradet Times, die 1856 eine Sonderausgabe über den Prozess gegen Dr. William Palmer, der unter anderem seine Frau und mehrere seine Kinder vergiftet hatte, herausgab. Danach hatte sich die Auflage des Blattes verdoppelt.

Einige Verbrechen schafften es sogar zum Theater. Es schien, dass die englische Öffentlichkeit nicht nur von Verbrechen fasziniert war, sondern auch alle möglichen Darstellungsformen genoss, von Prozessprotokollen über Nachrichten bis hin zu Romanen und Theaterstücken.

Die Gründung von Scotland Yard

Die Gründung des Londoner Metropolitan Police Service (Scotland Yard) 1829 und der City of London Police 1839 bot einen zweiten Aspekt der Betrachtung von Verbrechen: Wie wurden Kriminelle identifiziert, gefasst und vor Gericht gebracht? Hier gab es dramatische Möglichkeiten, den Kampf zwischen Polizei und Verbrecher, zwischen Gut und Böse zu erforschen. Die Einführung von Männern, die sich der Lösung von Verbrechen widmen, bot ein Modell des persönlichen Kampfes zwischen Detektiv und Schurken, das als eines der grundlegenden Merkmale des Kriminalromans angesehen werden muss.

Innerhalb dieser morbiden Faszination für das Verbrechen gab es ein besonderes Interesse gegenüber Frauen, die zu Mörderinnen wurden. Das mochte vor allem daran liegen, dass Frauen seltener vor Gericht gestellt wurden als Männer und deshalb ein Kuriosum in der damaligen Überzeugung von der Frau als weniger gewalttätigen und eher nährenden und liebenden Beschützerin von Heim und Kindern darstellte. Diese Ansicht war auch der Grund, warum Frauen weit weniger streng behandelt wurden, oder eher auf eine medizinische Weise behandelt wurden.

Gerichtsfälle wie Constance Kent, die 1865 ihren dreijährigen Halbbruder ermordete, indem sie ihm die Kehle durchschnitt, oder Madeleine Smith, die 1857 ihren Geliebten durch Arsen ermordete, präsentierten und bestärkten die Idee, dass Frauen die schlimmsten Verbrechen sowohl gegen die Zivilisation als auch gegen ihre eigene weibliche Natur begehen können. Ein Bericht in der Times (28.07.1865) stellt einen Mangel an Emotionen seitens Kent fest, wodurch ihr Todesurteil in Strafarbeit umgewandelt wurde.

Madeleine Smith, die beschuldigt wurde, einen lästigen Liebhaber vergiftet zu haben, stand da genau auf der anderen Seite, nämlich der des zügellosen sexuellen Appetits,

Trotz einer Staatsanwaltschaft, die entschlossen war, Smiths abfällige Moral wegen ihrer sexuellen Aktivität vor Gericht zu stellen, gelang es ihr, einem Schuldspruch zu entgehen. Rechtshistoriker vermuten, dass es zwar wenig Beweise gab, die sie mit dem Tod in Verbindung brachten, dass sie aber ebenso wahrscheinlich einem Schuldspruch entging, weil sie es ablehnte auszusagen und sich so einer direkten Befragung entzog, und weil sie während des neuntägigen Prozesses die Fassung bewahrte.

Madeline Smith war als Giftmörderin kaum einzigartig. Ein Drittel aller identifizierten Kriminalfälle im 19. Jahrhundert, in denen Vergiftungen festgestellt wurden, betrafen Arsen. Es war leicht in der Apotheke erhältlich, um Hausschädlinge zu töten, und kostengünstig war es obendrein. Die Symptome einer Arsenvergiftung waren für einen Gerichtsmediziner nicht von anderen Magenerkrankungen zu unterscheiden, so dass für einen Giftmörder eine große Chance bestand, der Strafverfolgung zu entkommen. Zumindest bis 1836, denn von da an war Arsen im Körper nachweisbar und die Arsenvergiftungen wurden tatsächlich seltener. Außerdem gaben die neuen Scheidungsgesetze den Frauen eine Möglichkeit, einer unglücklichen Ehe zu entfliehen. Das Klischee, Gift sei eine Waffe der Frauen, hat seinen Ursprung in dieser Zeit und durch Mörderinnen wie Madeleine Smith bekommen.

Die Beliebtheit der Kriminalgeschichten durch alle möglichen Medien gab es bereits 60 Jahre lang, als Königin Victoria 1837 den Thron bestieg und das Viktorianische Zeitalter einläutete. Der Grundstein für die erste Blütezeit des Kriminalromans war gelegt worden, darunter die Geschichten von Arthur Conan Doyle und seinem Detektiv Sherlock Holmes.

Schauerliteratur

Die Anfänge der Schauerliteratur

Gleich zu Beginn müssen wir zunächst über eine übersetzungstechnische Definition sprechen. Schauerliteratur meint hier Gothic Fiction. Das ist – wie so oft – kein adäquater Ersatz, soll uns aber hier vorerst genügen.

Was genau ist Schauerliteratur?  Und auch hier stellen wir fest, dass es keine konkrete Definition gibt, ob wir das Genre nun Gothic nennen oder nicht. Aber es gibt einige Elemente, die Schauergeschichten tendenziell gemeinsam haben. Aber nicht alle Schauermären, ob nun als Literatur oder als Film, enthalten all diese Elemente.

Es verhält sich etwa so wie bei dem Wort “postmodern”. Es ist ein unglaublich schwer fassbarer Begriff, der sich einer strengen Definition und Kategorisierung entzieht und oft mehrere Dinge auf einmal bedeuten kann.

In der Schauerliteratur geht es weniger darum, welche Art von Handlung, Setting oder Figuren enthalten sind, sondern mehr um das Gefühl, das davon hervorgerufen wird. Wir verbinden die Schauerliteratur mit alten Burgen und Geistern, weil dies beliebte Elemente innerhalb des Genres sind – aber Autoren wie Mary Shelley, H.P. Lovecraft und Robert Louis Stevenson schrieben Schauergeschichten, die ohne diese Elemente auskamen.

Untersuchen wir doch einfach die Tropen, die das verbinden, was wir unter Gothic Fiction verstehen.

Hintergrund

Es war im 18. Jahrhundert, als sich der Roman als eine “neue” literarische Form entwickelte, der aus einer Langform fiktionaler Prosa bestand. Dazu sei gleich vermerkt, dass es sehr wohl heftige Diskussionen darüber gibt, was als der erste Roman zu gelten hat und wie man ihn definiert. Während einige Literaturwissenschaftler ihn am 18. Jahrhundert festmachen, sind einige andere davon überzeugt, dass er wesentlich älter ist, auch wenn er da noch nicht als Roman bezeichnet wurde. Das soll hier nicht unser Punkt sein. Wichtig ist, dass er Buchdruck es ermöglicht hat, Bücher zugänglicher zu machen, was für die damaligen Verhältnisse bedeutete, dass Literatur nicht mehr nur einem Club der Oberschicht zur Unterhaltung zur Verfügung stand.

Eine zweite Sache, auf die hingewiesen werden muss, ist das, was als Rückschritt von der neoklassischen Bewegung zu erkennen ist, die Logik und Vernunft über Emotionen stellte. Dies führt uns zum sentimentalen Roman, bei dem es ich um Werke handelte, die eine emotionale Reaktion des Lesers hervorrufen sollten, im Gegensatz zu Geschichten, die nur die Wirkung einer Geschichte betonten. Der Roman sollte eine Erfahrung sein, nicht nur eine Geschichte. Ich möchte anmerken, dass der sentimentale Roman zwar die Emotion betonte, dies aber auf realistische Weise tat, indem er den Alltag erkundete und oft als Lehrstück über die Gesellschaft oder das Verhalten in ihr (besonders an Frauen adressiert) galt.

Die Gotik selbst entstand als ein Stil der mittelalterlichen Architektur, der in Frankreich zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert seine Blüte erreichte. Erst in der Renaissance (14. bis 17. Jahrhundert) wurde der Begriff allerdings auch allgemein verwendet. Die gotische Architektur, die in großen Kathedralen und Kirchen ihren eigentlichen Stil entwickelte, weckte natürlich die Emotionen; ein Gefühl der Größe, des Erhabenen. Etwas, das Ehrfurcht und gleichzeitig Furcht erregt. Dieser Stil hat dann allmählich nachgelassen, wurde aber kurz darauf während der gotischen Renaissance des 18. Jahrhunderts wiederbelebt. Seine Popularität wuchs im Laufe des 19. Jahrhunderts rapide an, und fand seinen Schauplatz in vielen großen Romanen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts.

Die Goten waren ein germanischer Stamm, der das Römische Reich jahrhundertelang bekämpfte und eine große Rolle bei der Gestaltung des mittelalterlichen Europas und der englischen Sprache, wie wir sie kennen, spielte. Man könnte annehmen, dass die “gotische Architektur” von diesen Leuten stammt, aber das ist ein Irrtum. In der Renaissance begannen die Menschen, die griechisch-römische Architektur wieder zu entdecken, und sie nannten sie “gotisch”, nicht weil das die Gebäude der Goten waren, sondern weil sie die Bauweise, wie den besagten Stamm, für “barbarisch” hielten. Der Name blieb hängen.

Schlösser und Verliese

Während dieser Zeit trat Horace Walpole auf den Plan. Walpole fand den modernen Roman zu eng gestrickt für die Fantasie, aber die alte Romanze des Mittelalters wiederum als zu unglaubwürdig:

“Er (Walpoles Roman) war ein Versuch, die beiden Arten der Romantik, die alte und die moderne, zu verbinden. In der ersten war alles Fantasie und Unwahrscheinlichkeit: In der zweiten ist die Natur immer dazu bestimmt, mit Erfolg kopiert zu werden und manchmal auch kopiert worden. Der Erfindungsreichtum hat nicht nachgelassen; aber die großen Ressourcen der Fantasie wurden durch eine strenge Einhaltung des Alltagslebens verdorben.” – Walpole aus dem Vorwort zur zweiten Ausgabe von “Das Schloss von Otranto”

So sah Walpole die mittelalterliche Literatur insofern als großartig an, als sie der Fantasie die Freiheit gab, sich Monster und mythologische Kreaturen vorzustellen, aber der Leser war so weit von den Geschehnissen entfernt, dass er das erhöhte Gefühl nicht auf die gleiche Weise bekam wie von einem modernen Roman.

Während der moderne Roman jedoch ein angenehmes Gefühl hervorrief, war er auf den Alltag beschränkt und behinderte die Vorstellungskraft. Walpole beschloss, einen Roman zu schreiben, der seiner Fantasie freien Lauf ließ, aber die Geschichte auch auf eine Weise präsentierte, die diese emotionale Verbindung ermöglichte, nach der sich die Leser in der besagten Zeit zu sehnen schienen. Das Ergebnis war das “Schloss von Otranto”, das als erstes Werk der Schauerliteratur gilt und im Jahre 1764 erschien.

Die erste Ausgabe von Otranto ließ die Leser glauben, dass es sich um ein gefundenes Manuskript aus der fernen Vergangenheit handelte und dass Walpole nicht der Autor, sondern der Übersetzer des Manuskripts war. Das war auch zu dieser Zeit nichts Neues – sentimentale Romane verwendeten diese “Methode” oft, um den Leser tiefer eintauchen zu lassen, indem man sie glauben ließ, dass sie Geschichte auf Tatsachen beruhte (z.B. ein Briefroman, der als Sammlung echter Briefe präsentiert wurde). Aber die kritische Akzeptanz gegenüber Otranto änderte sich, als Walpole in der zweiten Auflage erwähnte, dass er der Autor sei.

Diese zweite Ausgabe wurde mit dem Untertitel “A Gothic Story” versehen. Interessant ist, dass Walpole ein verfallenes Haus gekauft und mit Merkmalen, die von der gotischen Architektur des Mittelalters inspiriert sind, mit Türmen und aufwändigen Entwürfen wieder aufgebaut hat. Sein Entwurf von Strawberry Hill House inspirierte andere, das Gleiche für ihr eigenes Zuhause zu tun. In dieser Zeit erleben wir also eine Art Wiederbelebung der gotischen Architektur. (Hier wird klar, warum “Schauerliteratur” eindeutig zu kurz greift).

Walpoles Faszination für gotische Architektur beeinflusste seinen Roman und die Untertitelung als “Gothic Story”. Es ist auch nicht verwunderlich, dass Walpoles Otranto eine Burg und ein mittelalterliches Ambiente bietet. Otranto diente als Ausgangspunkt all jener Elemente, die in späteren Romanen dieses Genres verstärkt vorhanden sein würden.

Das vielleicht grundlegendste Merkmal des neuen literarischen Stils ist die symbolische Bildsprache. In Walpoles Roman ist die Architektur des Schlosses selbst ein mächtiges gotisches Ikonenbild, das wir seitdem immer wieder gesehen haben. Auf Isabellas Flucht vor Manfred werden dem Leser die strukturellen Bestandteile des Schlosses veranschaulicht, während sie durch die verschiedenen Abschnitte und Gänge des Schlosses flieht. Das Schloss wird beschrieben als eine große Galerie mit einer labyrinthischen Struktur, mit Kammern, geheimen Falltüren und unterirdische Pforten. Die wichtigste Rolle der Burg besteht jedoch darin, dass sie der Schauplatz übernatürlicher Ereignisse ist, die während der gesamten Erzählung präsent sind.

In Richtung Fin de Siècle

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts folgten Ann Radcliffes “Die Geheimnisse von Udolpho” und Matthew Lewis’ “Der Mönch”. Beide sind in großen Gebäuden (eine Burg und eine Kirche) untergebracht und behandeln Themen der Religion, des Übernatürlichen und der Gefangenschaft. 1816 wurde John Polidoris “Der Vampyre” geboren, die erste Vampirgeschichte, die auf Englisch geschrieben wurde. Im selben Jahr veröffentlichte Mary Shelley “Frankenstein oder der modern Prometheus”, der, ähnlich wie die Vampirfigur, den makabren Schrecken der Auferweckung der Toten mitbrachte. Diese bahnbrechende Geschichte betonte jedoch die Rolle der Wissenschaft und die Gefahren, die sich ergeben, wenn der Mensch Gott spielt. Man kann natürlich auch sagen, dass es sich hier um eine Verschmelzung von Schauerliteratur und Science Fiction handelt.

1840 erschienen die Kurzgeschichten “Tales of the Grotesque und Arabesque” von Edgar Allan Poe. Sie zeigen nicht nur viele der oben genannten traditionellen Themen der Schauerliteratur, sondern auch psychologischen Schrecken – den “Schrecken der Seele”.

In der Mitte des Jahrhunderts entstand die weibliche Variante der Gothic Novel mit dem Roman “Sturmhöhe” von Emily Bronte. Der Roman zeigte, wie Frauen oft in einem häuslichen Umfeld gefangen sind und von Männern dominiert werden. Natürlich wurde das Buch gefeiert und gleichzeitig verabscheut. Den nächsten Höhepunkt verzeichnen wir 1871 mit Joseph Sheridan Le Fanus “Carmilla”. Obwohl sich “Carmilla” von Coleridges unvollendeten Gedicht “Christabel” beeinflusst zeigt, war die Geschichte selbst sehr einflussreich. Die “Abweichung” der weiblichen Sexualität war in diesem Roman, insbesondere nach viktorianischen Maßstäben, explizit und ebnete den Weg für den Vampir als sexuelle Metapher.

Es sind jedoch vielleicht die letzten dreißig Jahre des neunzehnten Jahrhunderts – weithin als das Fin de Siécle angesehen -, in denen eine Reihe Edelsteine der Schauerliteratur zu finden sind. In dieser kurzen Zeitspanne haben wir plötzlich Robert Louis Stevensons “Der seltsame Fall des  Dr. Jekyll und Mr. Hyde”, Vernon Lees “Hauntings”, Oscar Wildes “Das Bildnis des Dorian Gray”, Bram Stokers “Dracula” und viele Kurzgeschichten, die in viktorianischen Zeitschriften in serialisierter Form erschienen. Obwohl diese Geschichten heute weit verbreitet sind, erzeugten sie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung einen ziemlichen Aufruhr, und es ist nicht schwer zu verstehen, warum; dies sind Romane, die die Wissenschaft der Religion vorzogen, das verdrängte “Böse” des Menschen auftauchen ließen und offene homosexuelle Wünsche darstellten. Die Schauerromantik beschäftigt sich also mit dem Tabu. Es war ein Genre, das durch das Übernatürliche, das Phantastische und das Fremde eine Diskussion über alles, was bis dahin unterdrückt wurde, ermöglichte.

Moderne Zeiten

Die Schauerliteratur ist über all die Zeit nie wirklich verschwunden, ob sie nun verlacht oder scharf kritisiert wurde. Ganz im Gegenteil hat sie einige gesellschaftliche Veränderungen einfach mitgemacht und zeigt ihre ungeheure Flexibilität. In den 1920er Jahren finden wir die produktiven Schriften von H.P. Lovecraft. Seine Ästhetik ist gotisch angehaucht, aber sein Thema und sein Schreibstil orientieren sich mehr an der Science Fiction. Wie wir jedoch bei Shelleys “Frankenstein” gesehen haben, passen diese beiden Genres nicht schlecht zusammen.

In den 1940er Jahren kam es zu einer weiteren Verschmelzung von Genres durch Mervyn Peakes epischer Trilogie, die im Schloss Gormenghast angesiedelt ist – eine wunderbar übertrieben barocke Welt, die Schauer- und Fantasy-Literatur durchdringt. Das Werk ist bekannt dafür, dass es großen Einfluss auf so produktive Schriftsteller wie Michael Moorcock und Neil Gaiman hatte.

Als nächstes auf unserer Liste steht Shirley Jacksons “Spuk in Hill House”. Wie viele von Poes Kurzgeschichten und Henry James’ “Das Durchdrehen der Schraube” ist Hill House strenggenommen ein Psychothriller. Obwohl es sich um eine Spukhausgeschichte handelt, verwischt sie die Grenzen zwischen “tatsächlichem” Spuk und psychologischem Spuk. Dies ist ein weiblicher Exeget des gotischen Romans, der sich mit dem Verdrängten und der Auflösung von Grenzen zwischen dem Geist und allem Äußeren beschäftigt. Er folgt der amerikanisch-gotischen Tradition des Spukhauses, das sich zwangsläufig mit der weiblichen Angst vor Eingesperrtheit und Psychose auseinandersetzt.

Eine weitere Variante der amerikanischen “Gothic Haunted House”-Tradition ist dann durchaus eine der bekanntesten. Natürlich handelt es sich um Stephen Kings “Shining“. Selbstverständlich handelt es sich hierbei in erster Linie um klassischen Horror, aber King spielt hier mit vielen Tropen der Schauerliteratur, so dass dieser Roman zumindest an dieser Stelle erwähnt werden muss. Hauptsächlich spielt sich die Handlung im Overlook Hotel ab, einem abgelegenen Ort, an dem es viele verwinkelte Räume und Gänge gibt. Es treten Ereignisse auf, die nicht erklärt werden können. Obwohl nicht offensichtlich übernatürlich, sind wir uns bewusst, dass hier das Psychologische so auf die Spitze getrieben wird, dass die Grenze zum Paranormalen nicht mehr zu erkennen ist. Nehmen wir als Beispiel die Heckenschnitt-Tiere, die zum Leben erwachen. Wir haben es durchaus mit Geistern oder vielmehr mit Überresten der Vergangenheit zu tun, die auf einer Linie zwischen Leben und Tod schweben. Sogar Tony ist eine Manifestation von Dannys verdrängten Problemen, denen er sich nicht stellen will. Damit entsteht erneut die “Rückkehr der Unterdrückten”, jene Problemstellung, die es der Schauerliteratur erlaubt, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die von der Gesellschaft oft als tabu angesehen werden. Wahnsinn, Enttäuschung und unerklärliche Ereignisse drücken “The Shining” also zumindest in die Nähe der Gothic Novel, was auch für Kings “Brennen muss Salem” gilt.

Die “Vampir-Chroniken” von Ann Rice, die zwischen den 1970er Jahren und 2014 entstanden sind, sollten ebenfalls kurz erwähnt werden. Diese Romane sind weit entfernt vom “traditionellen” Vampir, der stets als reines Übel dargestellt wurde. Selbstbeobachtend, schuldbewusst und charismatisch ebnete das Vampirpaar Lois und Lestat den Weg für den grüblerischen, romantischen Vampir in der Populärkultur. Rices Serie war entscheidend, um das Interesse am Vampirmotiv wieder zu wecken und die Schauerliteratur einem neuen Publikum vorzustellen.

Dieser Artikel soll eine kleine Einführung in die Schauerliteratur sein. Natürlich kann er nur an der Oberfläche kratzen. Zusammengefasst lassen sich folgende Eigenschaften zusammenfassen, die dem Genre ihren Stempel aufdrücken:

  • Eine dunkle und drohende Atmosphäre
  • Unheimlichkeit bis zum tatsächlichen Horror
  • Geheimnisvolle und oft unerklärliche Ereignisse
  • Der überwiegende Teil spielt sich in einem isolierten, großen Haus, Schloss etc. ab
  • Es gibt eine Prophezeiung oder einen Familienfluch
  • Omen, Vorzeichen oder Visionen
  • Religion
  • Psychologische Traumata
  • Eine Rückkehr des Verdrängten

Um die Dinge noch etwas komplizierter zu machen, gibt es auch hier verschiedene Subgenres. So gibt es neben der traditionellen Gothic Novel die American Gothic, die Southern Gothic, die Modern Gothic, die Postmodern Gothic … und was man sich sonst noch vorstellen mag. Aber das ist ein anderes Thema.

Edgar Allan Poe

Ein Toast auf Edgar Allan Poe

Baltimore: Jahrzehntelang schlich eine mysteriöse Gestalt, gänzlich in schwarz gekleidet, das Gesicht von einem weitkrempigen Hut sowie einem Schal verdeckt, auf den Westminster-Friedhof, um dort drei Rosen und eine Flasche Cognac auf dem Grab von Edgar Allan Poe niederzulegen. 2007 war es dann, dass der 92jährige Sam Porpora bekannte, für diese Idee verantwortlich zu sein.

“Ich und meine Stadtführer, wir haben das getan”, erklärte Sam Porpora. “Es war eine Werbekampagne. Wir dachten nicht im Traum daran, dass dies für ein weltweites Aufsehen sorgen würde.”

Niemand hatte bis dahin je Anspruch auf diese Legende erhoben. Warum rückte also Porpora jetzt damit heraus?

“Kann ich nicht sagen. Ich liebe Poe. Ich liebe es, über ihn zu sprechen.”

Porpora glaubt, dass die internationale Bedeutung Poes, diesem Meister des Mysteriums und der Melancholie, durch einige Poe-Jünger ihre Form erst angenommen hat. Aber die Rettung des Friedhofs an der Westminster Presbyterian Church, wo der Autor begraben liegt, ist Porporas Verdienst.

Cognac und Rosen, die am 19. Januar 2008 an Poes heutigem Grab (es gab bis 1875 ein anderes) gefunden wurden, wahrscheinlich von einem Nachahmer hinterlassen.

“Ich weiß nicht, was ich sagen soll”, erklärte Jeff Jerome, der Verwalter des Poe-Hauses in Baltimore, das all die Jahre von der Legende des sogenannten Poe-Toasters profitierte. Mit Porporas Aussage, dass das Ganze ein Scherz war, konfrontiert, reagierte Jerome wie ein Mann, der von seinem Großvater in den Magen getreten wurde. Er war traurig und fühlte sich betrogen. Trotzdem war er nicht gewillt, zurückzutreten.

“Er ist wie ein Mentor für mich”, sagte Jerome über Porpora. “Ohne ihn gäbe es den Westminster-Friedhof nicht mehr. Aber zu behaupten, der ‘Toaster’ sei ein Werbe-Gag, nun, alles was ich sagen kann ist, dass das nicht stimmt.”

Porporas Geschichte beginnt in den späten 60er Jahren. Er hatte gerade seine Historie über die Westminster Presbyterian Church, 1852 erbaut, abgeschlossen . Es gab weniger als 70 Gemeindemitglieder und Porpora, in seinen 60ern, war eines der jüngsten. Der von Unkraut überwucherte Friedhof war ein beliebter Treffpunkt für Trunkenbolde. Man benötigte Geld und Öffentlichkeitsarbeit, erinnert sich Porpora. Das, sagte er, war der Zeitpunkt, als ihm die Idee für den ‘Poe-Toaster’ kam.

Seit 1949 wurden jedes Jahr am 19. Januar drei Rosen – eine für Poe, eine für seine Frau und eine für seine Schwiegermutter – und eine Flasche Cognac an seinem Grab niedergelegt, weil er das Zeug so gern mochte, auch wenn er es sich nicht leisten konnte, es sei denn, jemand anders kaufte es ihm.

Das romantische Bild des mysteriösen Mannes in Schwarz beflügelte die Fantasie der Poe-Fans und die Legende wuchs. 1977 begann Jerome jedes Jahr eine Handvoll Leute einzuladen, um eine Nachtwache für den seltsamen Fremden abzuhalten. Die Medien begannen damit, Ankunft und Abreise ‘Poe-ähnlicher-Gestalten’ festzuhalten.

1990 veröffentlichte das Life Magazine ein Bild des verhüllten Mannes. 1993 hinterließ der eine Notiz mit dem Wortlaut: “Die Fackel wurde übergeben.” Eine andere Notiz von 1998 gab an, dass der Begründer der Tradition gestorben sei. Spätere Ehrenwächter gaben an, dass mindestens zwei ‘Toaster’ die ‘Fackel’ in all den Jahren angenommen hatten. Für Jeffrey A. Savoye, Sekretär und Schatzmeister der Poe Society of Baltimore, hat sich die Tradition längst verselbständigt.

“Sogar wenn Sams Geschichte wahr ist, na und? Es ist eine schöne Tradition, ob sie nun zurück geht auf das Jahr 1949 oder 70”, sagte Savoye.

Mitglieder der alten Gemeinde, die jetzt alle bereits verstorben sind, sprachen über den Poe-Toaster, bevor Porpora sagte, er wäre der Initiator. Geschichten kursieren seit den 70ern, die sich auf alte Zeitungsberichte beziehen. Jerome fand in der Baltimore Evening Sun von 1950 einen Zeitungsausschnitt über einen anonymen Bürger, der jedes Jahr um den Friedhof herumschleicht, um eine leere Flasche eines ausgezeichneten Cognacs gegen den Grabstein zu lehnen.

Porporas Bericht weist indes einige Widersprüche auf und Jerome kündigte an, dass die jährliche Nachtwache weitergehe.

Und das tat sie. Aber der Poe-Toaster ließ sich zum letzten Mal im Jahre 2009 blicken, also zu Poes 200. Geburtstag. Offiziell gilt die Tradition als beendet.

Matt Cardin: Interview mit Thomas Ligotti

Interview geführt von Matt Cardin, Juli 2006, Erschienen in The Teeming Brain und in The New York Review of Science Fiction, Issue 218, Vol. 19, No. 2 (October 2006). Gedruckt erschienen in Matt Cardin: Born to Fear (Interviews mit Thomas Ligotti)

Übersetzt von Michael Perkampus, mit freundlicher Genehmigung von Matt Cardin.

Anmerkung: Dieses Interview übersetzte ich im Dezember 2014, als ich begann, unter einer ähnlichen Problematik zu leiden wie Thomas Ligotti. Im Grunde war es für mich eine Art Trostpflaster. Daraus resultierte dann das Magazin PHANTASTIKON.

MC: Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast, Tom. Fangen wir doch mit ein paar Fragen zu deinen Schreibgewohnheiten an. Das ist ein Thema, das mich schon immer interessiert hat.

Du bist nun seit drei Jahrzehnten als Schriftsteller tätig. Ich weiß, dass der Schreibprozess für dich stets nervtötend, qualvoll oder beides war. Du hast mehrfach gesagt, dass du einer jener Schriftsteller bist, die das Ergebnis mehr schätzen als das Schreiben selbst. Mehr als einmal wolltest du damit aufhören, nur um etwas zu haben, zu dem du zurückkehren kannst. Was genau geht da vor sich? Was ist es, dem du dich nicht entziehen kannst, wenn sich ein neues Projekt ankündigt? Mich interessiert natürlich auch, wie sich dein Schreibprozess im Laufe der Jahre verändert hat.

TL: Das wird eine langweilige Antwort, weil ich nichts Literarisches darüber zu sagen habe. Es ist alles eine Frage des persönlichen Krankheitszustands. Das Schreiben war in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren nicht schwer für mich. Es gab eine Zeit, von 1975 bis 1979, in der ich zu meiner Panik- und Angststörung auch noch schwer depressiv war. Jeder Tag war grau. Jeder einzelne Tag. Ich dachte, mein Leben wäre vorbei. Aber ich war jung, also begann ich in dieser Phase ernsthaft zu schreiben. Die Jahre vergingen und ich schrieb eine schlechte Geschichte nach der anderen. Dann schrieb ich “The Last Feast of Herlequin”. Der Protagonist dieser Erzählung ist depressiv. Sie war wirklich sehr schlecht, aber auch nicht so schlecht, dass ich sie vernichten wollte. Ich legte sie in eine alte Bierkiste, die ich dazu nutze, meine Schreibereien zu archivieren. Jedes mal, wenn ich sie wieder überflog, dachte ich darüber nach, wie ich die guten Parts von den schlechten befreien könnte.

In der Zwischenzeit begann ich Geschichten zu schreiben, die in Zeitschriften mit geringer Auflage erschienen. Es dauerte mehr als zehn Jahre, nachdem ich “Last Feast” geschrieben hatte, bis ich endlich dazu fähig war, diese eine Geschichte zu überarbeiten. Etwa zu dieser Zeit entwickelte ich wegen des Stresses, den ich hatte, ein Reizdarm-Syndrom. Ich rollte mich unter Darmkrämpfen auf dem Boden der Notaufnahme. Wer das witzig findet, der soll mal seinen Arzt fragen.

Das und meine fortschreitende Panik-Angststörung, kombiniert mit dem Älterwerden, machte meine Arbeit zu einem echt harten Kampf. Das wurde dann auch die Grundlage für den “Teatro Grottesco”- Zyklus. Ich hatte noch weitere Geschichten, die ich schreiben wollte, also schrieb ich sie. Aber immer wenn ich schrieb, endete das in einem Zustand äußerster Erregung und mein Gedärm war drauf und dran, mich umzubringen. 1991 beschloss ich, das Schreiben an den Nagel zu hängen. Irgendwas musste ich jedoch tun, also habe ich angefangen, Gitarre zu spielen: Sachen aus meiner Jugend, Sachen aus den 70ern. Ich dachte, das wäre wesentlich weniger anstrengend.

Ich wurde ein richtiger Streber, stellte aber fest, dass es eben doch nicht leichter war als zu schreiben.

Es war so um 1993 herum, als die Firma, für die ich arbeitete, eine Umstrukturierung durchlief; nicht die erste. Ich denke an diese Jahre als eine Zeit, in der die Leute, die in Büros arbeiteten, ihr Potential, Arschlöcher zu sein, entdeckten. Diese Umstrukturierung mit ihren eklatanten Dummheiten und ihrer “Körperfresser-Mentalität” (hier im Original: Pod-People-Mentality, zurückgehend auf “Invasion of the Body Snatchers”) störte mich so sehr, dass ich die Geschichte “The Nightmare Network” schrieb. Nun schrieb ich also wieder und spielte obendrein noch Gitarre.

Die Situation während der Arbeit blieb aber weiterhin angespannt. Ich schrieb also eine weitere Wirtschafts-Horrorstory: “I Have A Special Plan For This World”. Meine Mitarbeiter fürchteten bereits, ich würde überschnappen und Amoklaufen. Aber in diesem Stadium war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, zumindest nicht vor dem Jahr 2000. Dann aber wurde ich von Gewaltphantasien beherrscht. Das war der Anstoß zu “My Work Is Not Yet Done”. Ich habe versucht, den Geschichten etwas mehr Bedeutung zu geben als einfach nur Rache, über die es sich eigentlich nicht zu schreiben lohnt. Ich schrieb dann noch zwei weitere Wirtschafts-Horrorgeschichten. Meine Geschichten als solche zu bezeichnen, ist meine Art, die Wahrnehmung meiner Leser auf einen Punkt zu fixieren, wobei ich hoffe, dass sie mehr sind, als einfache Horror-Storys aus dem Arbeitsleben.

“I Have A Special Plan For This World” handelt zwar im Wirtschafts-Milieu, aber wie bei meinen anderen Wirtschafts-Horrorgeschichten schwebte mir eine breitere Perspektive vor, gerade in Bezug auf Dinge, die mir wichtig sind: Hauptsächlich das Fiasko und der Alptraum der menschlichen Existenz. Das Gefühl, dass die Menschen Marionetten von Kräften sind, die sie nicht verstehen können usw. Diese Themen treten naturgemäß dann in den Vordergrund, wenn ich selbst intensive und unangenehme Episoden erlebe. Schmerz ist meine Muse, so kann man das sagen.

Bis zum Jahre 2001 war mein psychischer Zustand der einer bipolaren Depression. 2002 wurde sie einen Monat lang von einer hypomanischen Phase unterbrochen. Während dieser Zeit schrieb ich zwei weitere Geschichten: “Purity” und “The Town Manager”, die durch meine Wut auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Amerika zu dieser Zeit ausgelöst wurden. Die wenigen Sachen, die ich seitdem geschrieben habe, wurden in so einer hypomanischen Phase geschrieben, gegen die ich im Moment Medikamente nehme, zusätzlich zu dem anderen Zeug, das ich ohnehin schon schlucke. Ich denke also, es gibt ein nachvollziehbares Muster, das mich zum Schreiben drängt, nämlich Hass und Schmerz. Beides wirkt als Sprungbrett für die Themen meiner Geschichten. Ich hoffe, dass es mir auf diese Weise gelingt, meine momentane Existenz zu transzendieren und meine Einstellung darüber mitzuteilen. Das mag den Leser interessieren oder nicht, aber es ist der eigentliche Grund, warum ich schreibe.

MC: Hat dir das Schreiben überhaupt jemals Freude bereitet? Du sagtest mal, als du damit angefangen hast, machte es dich High wie die Drogen, die du nahmst, allerdings ohne deren negativen Auswirkungen. Ist das noch der Fall? Oder handelt es sich dabei heute mehr um ein Ablassventil für negativen inneren Druck? Oder womöglich um beides?

TL: Das Schreiben hat mir schon immer mehr Befriedigung als Freude bereitet. Ich habe das Planen einer Geschichte immer mehr genossen als die Niederschrift selbst. Ungeschrieben stecken in einer Story noch unbegrenzte Möglichkeiten. Ich versuche, die Elemente nicht allzu schnell auszuarbeiten, weil jede feststehende Idee, jeder Charakter, jede Einstellung usw. Stück für Stück diese Möglichkeiten vernichten. Weil es diesen Effekt nun einmal gibt, skizzierte ich die Charaktere in “My Work Is Not Yet Done” zunächst anders als sie dann in der Geschichte agieren.

MC: Eine Menge moderne Pop-Autoren bemühen immer wieder die alte Leier, dass zuerst die Geschichte kommt. Ich glaube, Stephen King hat das sehr oft gesagt. Auch sind viele Literaten mit dieser Aussage einverstanden. “Für mich” sagte Bernard Malamud einmal “zählt die Story, Story, Story.”

Ich erinnere mich, dass du in der Vergangenheit, auf das fast völlige Fehlen von Handlung in deinen Geschichten angesprochen, antwortetest, du hätten nie verstanden, wovon deine Leser da reden; du dachtest stets, in deinen Geschichten stecke genau soviel Handlung drin wie in jeder anderen auch. Wenn ich an deine vielen kurzen impressionistischen – oder auch an deine offen experimentellen Stücke – denke, wie zb. “Notes on the Writing of Horror”, aber auch “Ghost Stories For The Dead”, in welchen eine beängstigende philosophische Spekulation im Vordergrund steht, und die eigentliche Geschichte – oder der Plot – auf eine fast unterschwellige Art und Weise daherkommt, dann verstehe ich persönlich schon, was sich deine vielen Leser für Fragen stellen. Und ich bin sicher nicht der Meinung, das Zweitrangige der Handlung sei ein Nachteil. Ich denke, all diese Schriftsteller, die eine Universallösung auf Grundlage des “die Geschichte zuerst” anbieten, sprechen da von ihren persönlichen Vorlieben. Sie sind wahrscheinlich selbst diese Art von Leser, die in Geschichten schwelgen, und wenn sie dann ihre eigenen schreiben, ist das ihre Herangehensweise. Was hältst du von alldem?

TL: Dem stimme ich zu. Es scheint mir natürlich, dass Leute, die Geschichten mögen, wenn sie denn Schriftsteller sind, auch Geschichten schreiben. Was mich betrifft, interessieren mich Geschichten, die nur Geschichten sind, nicht. Ihnen fehlt etwas. Was mir dabei fehlt, ist die Anwesenheit des Autors, oder, genauer: das Bewusstsein des Autors. In den meisten Romanen befindet sich der Autor in einem Raum zwischen den Charakteren und der Szenerie, aber ich möchte den Autor im Vordergrund wissen und den Rest im Hintergrund.

Abgesehen von den Stories, die du erwähnt hast, glaube ich, dass meine Erzählungen Geschichten in Hülle und Fülle enthalten. Aber das sind nur Vorwände, Garderoben, an die ich das hänge, was wirklich wichtig für mich ist, und das ist meine eigene Sensibilität. Das ist alles.

Die meisten Autoren lieben es, andere Menschen zu beobachten und sind mit dem Leben, das sie vorfinden, zufrieden. Darüber machen sie dann eine Geschichte. Sie achten wirklich auf die Welt um sich herum. Das alles kann ich aber nicht. Ich interessiere mich nicht dafür, wie die Leute ticken, oder, wie Sherlock Holmes sagte: Ich sehe es, aber ich beachte es nicht. Es scheint mir trivial und nutzlos, die Aufmerksamkeit auf solche Dinge zu lenken. Ich bin am physikalischen Universum nicht mehr interessiert. Die rhetorische Verzückung der Wissenschaftler beeindruckt mich nicht im geringsten. Ich kann nicht verstehen, warum sich jemand dafür interessieren sollte, wie das Universum begann, wie es funktioniert und wie es enden wird. Äußerst trivial und nutzlos. Im Gegensatz dazu habe ich Ehrfurcht vor Schriftstellern, die ihre Geschichten geschickt zu erzählen wissen, oder vor Leuten, die eine Fremdsprache beherrschen oder ein Instrument wirklich virtuos spielen. Aber das bedeutet nicht, dass ich ihre Geschichten lesen will, ihnen zuhören oder Musik machen möchte. Wie sagt Morrissey in dem Smiths-Song “Panic”: “Weil die Musik, die sie die ganze Zeit laufen lassen, mir nichts über mein Leben sagt.”

Die Arbeit von Schriftstellern wie Malamud, Wiliam Styron, Saul Below sagt mir nicht nur nichts über mein Leben, sie sagt mir auch nichts über das, was ich selbst erlebt habe oder zu meinen Gedanken über das Leben. Im Gegensatz dazu sagen Schriftsteller wie Jorge Luis Borges, H. P. Lovecraft und Thomas Bernhard eine Menge über mich und das Leben ganz allgemein, wie ich es ebenfalls erfahren habe. Ich kann an ihrem Werk teilhaben, weil sie genauso gedacht und gefühlt haben müssen, wie ich es tue. William Burroughs sagte einmal, der Job eines Schriftstellers sei es, den Lesern zu zeigen, was sie wissen, aber nicht wissen, dass sie es wissen. Aber dazu müssen sie schon sehr dicht am Wissen dran sein, weil sie es sonst nicht wissen wollen, wenn sie es sehen.

MC: Wie viel Augenmerk richtest du auf die poetische Qualität deiner Prosa? Ich spreche von Satzrhythmus, von Klang und all dem. Ich erinnere mich dabei an Raymond Carver, der sich an die Zeit zurückerinnerte, als er noch der Student von John Gardner war. Gardner hatte seine Prosa in mühevoller Kleinarbeit analysiert, Zeile für Zeile – und legte Wert darauf, sie so skandieren zu können, wie es bei Gedichten üblich ist. Hast du für das Schaffen solcher Effekte ebenfalls ein Auge/Ohr durch den Einsatz kunstvoller Sprachtechniken? Oder geht es dir eher um die Grundstimmung?

TL: Sofern ich nicht den Stil eines Schriftstellers wie Bruno Schulz oder Thomas Bernard nachahme, folge ich dem Ton, den ich im Kopf habe. Der gibt mir den Rhythmus und die Geschwindigkeit vor, die ich haben will, macht die Geschichte für die Aufnahme aller Bauteile bereit, die ich verwenden möchte, hauptsächlich sind das Metaphern.

Ich kann mir nicht vorstellen, einen anderen Schriftsteller derart zu untersuchen, aber Gardner war ein Gelehrter der Mittelenglischen Literatur. Für Carver, der eine Art Blankvers schrieb, war diese Betreuung wohl sinnvoll. Das Problem, zu sehr darauf zu achten, wie die Arbeit im Englischen klingt, ist, dass man keinen Einfluss darauf hat, wie es sich in der Übersetzung anhört. Es mag sich sehr exzentrisch anhören, aber in einer frühen Phase meiner schriftstellerischen Tätigkeit wurde mir bewusst, dass bestimmte Wortspiele in einer anderen Sprache nicht funktionieren würden. Das lernte ich aus meiner Begeisterung für Vladimir Nabokov. Also hörte ich auf,  zu viel von diesen Wortspielen zu verwenden. Das ist schwierig, weil Wortspiele mir ganz natürlich in den Sinn kommen.

Das Problem ist: wenn ein Wortspiel nicht beim Leser ankommt, ist es Zeitverschwendung. Ich habe die Doppeldeutigkeiten und mehrsprachigen Wortspiele in vielen Büchern Nabokovs analysiert, und es ist nicht das, was ihn als Schriftsteller auszeichnet. Was ihn interessant macht, ist seine eigenwillige Persönlichkeit, seine Besessenheit von Tod, von Schaden, von Verlust und all den üblen Dingen, die den Kern der Literatur ausmachen, die allerdings bei Nabokov besonders ausgeprägt sind.

MC: Ich erinnere mich aus früheren Interviews, dass deine Einführung in die Horror-Literatur durch Shirley Jackson, Edgar Allan Poe, Arthur Machen und H. P. Lovecraft stattfand. Glaubst du, dass dich diese ersten Leseerfahrungen bei dem, was du dann schreiben wolltest, beeinflusst haben? Ich meine nicht so sehr den Inhalt als vielmehr den auktorialen Ansatz. Ich weiß, dass dein Zusammenbruch im Alter von 17 das emotionale und philosophische Fundament für dein Erzählen bildet. Aber in Verbindung mit der Frage nach Plot und Handlung weiter oben, frage ich mich, ob du der Meinung bist, dass dein stilistischer Ansatz von deinen Leseerfahrungen mitbestimmt wurde.

TL: Shirley Jackson gehört nicht zu dieser Aufzählung. Ich las “The Haunting Of Hill House”, weil mir der Film gefiel. Das war zu einer Zeit, als man sich Filme nicht immer anschauen konnte, wann man wollte. Also las ich den Roman, als ich zufällig auf ihn stieß und nichts besseres zu tun hatte. Das brachte mich nicht dazu, über ähnliche Dinge zu schreiben wie sie, aber es löste in mir den Wunsch aus, andere Werke der Horror-Literatur kennenzulernen, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht wusste, ob es solche überhaupt gab. Das einzige, was ich damals las, waren die Sherlock-Holmes-Geschichten. Ich genoss sie, weil ich mich mit Holmes’ Neurosen identifizieren konnte, natürlich auch, weil er Drogen nahm. Der nächste Horror-Autor, den ich las, war Arthur Machen, der über ein sehr ähnliches Milieu schrieb, in dem auch die Holmes-Geschichten angesiedelt sind: neblige Londoner Straßen, gruselige Landschaften. Dann las ich Poe und Lovecraft zum ersten Mal und fand in ihren Texten etwas, von dem ich nicht einmal wusste, dass ich es überhaupt suchte: Autoren, die sich auf jeder einzelnen Seite ihres Werkes offenbarten, die einerseits wie persönliche Essayisten und andererseits wie lyrische Dichter schrieben. Jeder Schriftsteller, den ich je bewunderte, schrieb auf diese Art und Weise. Ich sage “schrieb”, weil sie heute alle tot sind. Eine andere Art von Schriftstellern gibt es für mich nicht.

MC: Bist du beim Schreiben schon einmal in einer Geschichte stecken geblieben? So dass du nicht mehr wusstest, wie es weitergehen soll?

TL: Nein, ich blieb noch niemals ‘stecken’. Ich weiß immer genug über die Geschichte, die ich gerade schreiben möchte und besitze die nötige Begeisterung, die es überhaupt erst ermöglicht, mit dem Schreiben zu beginnen. Ich denke darüber nach und mache mir eine Menge Notizen, frage mich, ob etwas fehlt oder ob etwas zu viel ist. Ich zermartere mir das Gehirn, um die Idee der Geschichte so weit zu treiben, wie es nur möglich ist. Während der Niederschrift kommen mir meist bessere Ideen als ursprünglich geplant. Wäre das nicht so, wären die Geschichten wohl gerade mal mittelmäßig, wie es einige meiner Geschichten dann ja auch sind. Es ist nicht möglich, jeden Aspekt im Voraus zu planen. Ich vertraue diesbezüglich auf meine Fähigkeiten, und es hat bislang ja immer geklappt.

MC: Das führt mich zu einer anderen, aber verwandten Frage: Hast du jemals unter einer Schreibblockade gelitten? Ich meine damit nicht einfach in der Mitte stecken zu bleiben. Was ich meine, wird am Besten von Thom Gunn beschrieben: “Es gibt Zeiten, in denen bist du steril, das heißt, Worte bedeuten gar nichts. Die Worte sind da, die Dinge der Welt sind da, du bist an den Dingen in der gleichen Weise interessiert wie immer und theoretisch könntest du sie zu Themen deiner Gedichte machen, aber du kannst einfach nicht schreiben. Du kannst dich hinsetzen, eine gute Idee für ein Gedicht haben, aber nichts kommt dabei raus. Als ob der Welt ein gewisses Licht vermissen ließe. Es ist eine wortlose Welt und irgendwie eine leere und ziemlich sterile Welt. Ich weiß nicht, was es verursacht, aber es ist sehr schmerzhaft.”

TL: Wann immer ich etwas schreiben wollte, habe ich das auch getan. Das Problem für mich ist nicht die Fähigkeit, zu schreiben, sondern dass ich mich um das Schreiben nicht schere … oder um überhaupt etwas. Im Zustand der Anhedonie (Zustand der Freudlosigkeit, die der Depression ähnelt) enthüllt alles seine “wahre” Zwecklosigkeit und Nichtigkeit. Wir könnten über das Wörtchen “wahr” streiten, aber dann könnten wir auch über spirituelle Traditionen streiten, wie etwa den Buddhismus, der ebenfalls keinerlei Verwendung für irgendetwas hat, am wenigsten dafür, Kurzgeschichten zu verfassen. Der Buddhismus ist nicht mein Ausgangspunkt, aber ich befinde mich an einem ähnlichen Ort. Ich bin von allem um mich herum losgelöst. Überhaupt etwas zu tun, erscheint einfach nur dumm, was es meiner Meinung nach letztlich auch ist. Das ist die Lehre der Anhedonie, ein Zustand äußerster Rationalität. In dem Moment, wo du dich dazu entschließt, irgendetwas zu tun, befindest du dich in einem Stadium des Irrationalen. Ohne dieser Irrationalität besteht dein Leben nur aus Zahlen: wie lang, wie viel, wie weit. Emotionen geben unserem Leben eine illusorische Bedeutung. Diese Bedeutung ist ein Motivator und lässt dich denken, dass etwas wichtig ist, obwohl das letztendlich nicht stimmt. Emotionen sind der Motor, um das sinnlose Leben überhaupt leben zu können.

Aber ich habe nicht den Eindruck, Anhedonia sei ähnlich schmerzhaft wie Thom Gunn das über eine Schreibblockade sagt. Das heißt, ich werde nicht dadurch gequält, dass ich schreiben will und nicht kann. Anhedonia ist auch als “melancholische Depression” bekannt und als solche durchaus schmerzhaft, aber dieser Schmerz hat nichts mit der Unfähigkeit zu tun, auf etwas Emotionales zu reagieren. Der Anhedoniker kann nicht einmal begreifen, dass er seine Gefühle wiederhaben möchte, denn auch das scheint dumm und leer und nutzlos zu sein. Alles, was er will, ist, den Schmerz aufzuhalten. Aber auch Selbstmord scheint sinnlos zu sein. Dazu müsste man jene emotionale Energie aufwenden, zu glauben, auf der anderen Seite sei etwas Besseres zu finden. Nur dann könnte man sich den Selbstmord als Erlösung vorstellen. Ich weiß, dass das alles für Nicht-Anhedoniker schwer zu begreifen ist. Ich kann nur sagen, dass es ist, als wäre man blind, taub, stumm und völlig gelähmt, aber diese Vergleiche führen zu nichts, wenn man sie nicht erfahren kann. So übel Anhedonia auch sein mag, ist es nichts im Vergleich zu einer Panik-Angststörung. Okay, genug gejammert über meine Krankheiten. Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen.

MC: Dann wenden wir uns einigen anderen Fragen zu. Lass mich zu diesem Thema nur noch anmerken, dass du das Thema Angststörung in deinen Arbeiten großartig umgesetzt hast, in dem es dir gelang, diesen schrecklichen Zustand, diesen erschreckenden Blick auf die Realität zu charakterisieren.

Aber weiter: Seit gut einem Jahr arbeitest du an deinem Opus Magnum “The Conspiracy against the Human Race”.

Ich erinnere mich an einige Ideen daraus, die du in dem ausgezeichneten Interview, das Neddal Ayad für “Fantastic Metroloplis” im letzten Jahr mit dir führte, erläuterst. Du wurden von einigen Leuten auf Internet-Plattformen für das Auswalzen deiner persönlichen Ansichten kritisiert, die angeblich Pauschalurteilen gleichkommen.

Um es genauer zu formulieren: Da wurde dein Vergleich zwischen Lovecraft und Shakespeare – und dass du Lovecraft für den besseren der beiden hältst – kritisiert. Du sagtest nämlich, dass “für Lovecraft, im Gegensatz zu Shakespeare, die Offenbarung des Lebens darin besteht, dass es die Erzählung eines Idioten ist. Es sind nicht nur Lippenbekenntnisse, wenn er das als offensichtliche Tatsache des Lebens darstellt. Es ist der Kern seiner Arbeit.”

Du hast mir außerdem erzählt, dass ein Bekannter von dir, der den Entwurf von “The Conspiracy” gelesen hat, mit der dunklen und verzweifelten Diagnose, die da über das Leben gestellt wird, nicht klar kam. Darüber, wie du über die Welt sprichst, wie sie sich darstellt, wie sie sich darzustellen hat, so als wäre das die objektive Wahrheit.

Würdest du etwas darüber sagen, vielleicht um das Bild gerade zu rücken?

TL: Nun, ich habe nie behauptet, Lovecraft sei ein besserer Schriftsteller als der “honigzungige” Shakespeare, wie ein Zeitgenosse ihn nannte. Aber Shakespeare war Dramatiker. Heute wäre er einer jener Autoren, von denen ich vorhin bereits sprach. Seine Figuren sagen Dinge, die mir gefallen und sie drücken sich gut aus, aber es ist nicht Shakespeares Stimme. Hamlets düsteres Geschwafel wurde von Girolamo Cardanos “De Consolatione” abgeschaut, das man auch als “Hamlets Buch” kennt. Ich weiß nicht, wer Shakespeare war und kann über seine Arbeit nichts sagen. Bei Lovecraft aber kann man anhand seiner Ideen erkennen, wer er war, deshalb fühle ich mich ihm eher verbunden. Das wird den meisten Lesern egal sein, die nur aus ihrer eigenen Welt flüchten wollen und sich gleichzeitig wünschen, diese Romanwelt möge ihre eigene sein. Sie möchten über Dinge lesen, die sie verstehen. Shakespeare schrieb nichts, was nicht auch der Fantasieloseste verstehen könnte. Das sind Seifenopern und romantische Komödien. Das gleiche Zeug genießen die Leute auch heute. Lovecraft schrieb nicht für dieses Publikum. Er schrieb für die wenigen empfänglichen Menschen, nicht für die fröhliche Masse.

Was mein im Unabomber-Stil verfasstes Essay “The Conspiracy” betrifft, ist es weder ein philosophisches Werk noch mein Opus Magnum.

(Anmerkung des Übersetzers: Der ‘Unabomber-Stil’ bezieht sich auf das Unabomber Manifsto von Ted Kaczynski, einem amerikanischen Mathematiker, der mehrere Menschen anhand von Briefbomben tötete. Das FBI nutze den Begriff UNAMBOMB als Kürzel für UNiversity & Airline BOMBer. Der Text des Manifests richtet sich hauptsächlich gegen die Industrialisierung und Technisierung der Welt und wurde in einer philosophischen Sprache verfasst. Es gibt hierzu einen hervorragenden Bericht von Lutz Dammbeck.)

Vielmehr ist das Buch ein Zusammenspiel von Ideen, denen ich ein Leben lang nachging, mit jenen, die andere Leute hatten und die zu meinen passten. Den Widerspruch, den jemand darin erkennen will, zwischen dem, was ich denke, und der Art, wie ich es ausdrücke, rührt daher, weil sie nichts darüber wissen können. Für mich gibt es diesen Widerspruch nicht. Ich könnte wahrscheinlich gar nicht über etwas schreiben, das nicht meine tiefe Abneigung gegen alles, was existiert, widerspiegelt, das lege ich meinen Figuren in den Mund. Als ob das, was für mich wahr ist, tatsächlich wahr wäre. Das ist ein in privaten Essays häufig verwendetes Mittel. Würde ich nicht daran glauben, dass meine Gedankengänge richtig sind, würde ich solange suchen, bis ich von deren Richtigkeit überzeugt bin. Sogar einigen Wissenschaftlern, denen man schlüssig nachweisen kann, dass sie sich geirrt haben, halten an ihrer fehlerhaften Sichtweise fest. Das ist eines der Hauptthemen von “The Conspiracy”. Die Wahrheit funktioniert in einem sehr kleingesteckten, immer wieder selbstfeflexiven Rahmen. Drei Dinge von etwas sind immer mehr als zwei Dinge von etwas. Manche glaubt, dass Gott existiert, weil ein Buch es ihnen sagt. Sie glauben, das Buch spricht die Wahrheit, weil eine Menge Leute der Auffassung sind, es sei Gottes Wort. Außerdem mögen sie das, was in dem Buch steht. Das ist das Wichtigste überhaupt. Würden sie es nicht mögen, würden sie nicht daran glauben. Ich denke, das ist das Problem mit “The Conspiracy”. Die Leser mochten nicht alles, was da drin stand. Außerdem mochten sie die Vorstellung nicht, dass jemand, den sie eigentlich mögen, so ein Buch schreibt. Das ist in etwa so beunruhigend, als wenn du herausfindest, dass dein bester Freund ein Serienmörder ist, dem es Spaß macht, die Gehirne von Kleinkindern zu verspeisen.

Der Essay handelt hauptsächlich davon, wie wenig Menschen mit unangenehmen Wahrheiten umgehen können – und was das für Wahrheiten sind. Wir sind geneigt, nicht darüber nachzudenken, wie diese Dinge unser Leben beeinflussen. Aber das ist genau das, was mich ausmacht. Wäre das nicht so, befände ich mich in einem noch schlechteren Zustand als sowieso schon. Zweifellos würde ich dieses Interview nicht geben. Ich würde auch nicht “The Conspiracy” geschrieben haben. Wenn mir jemand sagt, ich sei dämlich und auf dem Irrweg, kann ich darauf nichts antworten, außer vielleicht: “Bin ich nicht”. Es ist wirklich eine Qual, in einer Welt mit Leuten zu leben, mich eingeschlossen, die nicht aufhören können, zu denken.

MC: Dann vielleicht etwas leichtere Kost, wenn das in Ordnung geht. Vor Kurzem kamen Gerüchte auf über eine geplante Serie von Comics auf der Basis von “Nightmare Factory”. Das war eine angenehme Überraschung. Kannst du da Details verraten?

TL: Nein, kann ich nicht. Ich weiß nicht mehr als alle anderen auch, die die Werbeanzeigen gelesen haben. Fox Atomic, das Filmstudio, das diese Comics in Zusammenarbeit mit Harper-Collins macht, hat mich zu dem Projekt, das von “The Nightmare Factory” abgeleitet ist, nicht hinzugezogen.

MC: Während wir hier sprechen, befindet sich der Kurzfilm zu deiner Geschichte “The Frolic” in der Postproduktion. Angeblich bist du recht glücklich mit dem, was du gesehen hast. Kannst du darüber mehr sagen?

TL: Der letzte Stand, den mir die Produzentin Jane Kosek mitgeteilt hat, ist der, dass sie den Hauptverantwortlichen von Fox Atomic kontaktierte. Er will den Kurzfilm zusammen mit der Gliederung für einen Spielfilm von mir und Brandon Trenz (Anm.: Brandon Trenz arbeitet als Drehbuchautor) sehen. In einem Monat sowas dürften wir soweit sein.

(Anmerkung: “The Frolic” erschien 2007, produziert von Jane Kosek, die unter anderem bei “A Beautiful Mind” mitarbeitete. Der Film läuft 24 Minuten und wurde zusammen mit dem Buch (enthält die Kurzgeschichte) in einer auf 1000 Exemplare limitierten Special Edition herausgegeben, die teilweise signiert war.)

MC: Kannst du etwas zur Entwicklung des Drehbuchs zu “Last Feast Of Herlequin” sagen?

TL: Das Drehbuch wurde an viele Produzenten geschickt, und einige Companies zeigten auch Interesse. Brandon Trenz ging sogar extra nach Hollywood, aber bei den Treffen kam nichts heraus. Offiziell ist das Projekt gestorben.

MC: Diese Neuigkeiten sind natürlich enttäuschend. Was ist mit deinen gegenwärtigen Schreibprojekten? Arbeitest du an etwas? Und wenn ja, wann können wir mit einer Veröffentlichung rechnen?

TL: Ich weiß ja nicht mal, wann “The Conspiracy” erscheint.

MC: Welche Bücher und Autoren liest du im Augenblick? Du hast vor einiger Zeit mal gesagt, du seist mit dem Lesen an sich zum größten Teil durch, weil du das meiste von dem, was dich interessiert, schon gelesen hast. Wie sieht das im Moment aus?

TL: Wenn ich irgendetwas lese, dann sind das Sachbücher. Ich lese auch regelmäßig alles von M. E. Cioran wieder. Das braucht dann eine Weile. Einige Arbeiten über Bewusstseinsstudien und, natürlich, geistige Erkrankungen. Das ist ziemlich fachspezifisch, also suche ich nach Videos, Hörbüchern oder Interviews mit den jeweiligen Autoren im Netz. Im vergangenen Jahr las ich “On Suicide: A Discourse on Voluntary Death” von Jean Améry und “Persuationand Rhetoric” von Carlo Michelstaedter. Beide Autoren brachten sich um, aber ihre Bücher wären auch dann interessant, wenn sie das nicht getan hätten. Ich lese auch immer noch Bücher über Buddhismus.

MC: Mir erscheint dein Wechsel Richtung Sachbuch aus persönlichen Gründen faszinierend, da ich mich selbst vor Jahren darauf zubewegte, wenn auch nicht freiwillig. Ich begann einfach zu merken, dass ich die meiste Zeit nicht mehr dazu in der Lage war, der Erzählliteratur zu folgen. Es kam mir vor, als ob etwas in mir meine Empfänglichkeit dafür abgeschaltet hätte. Ich traf da auf einen mentalen Nebel, eine Art kognitiver Leere, wenn ich versuchte, den Sinn der Erzählung auszumachen. Für mich schien diese Art der Literatur bedeutungslos. Kommt dir das bekannt vor?

TL: Na, das kommt mir sicher bekannt vor. Ich kann mich gefühlsmäßig nicht mehr auf Erzählungen oder Dichtung einlassen. Das ist der Grund, warum ich Sachbücher lese, und vor allem intellektuell herausfordernde Sachbücher.

Man reagiert auf diese Literatur ganz anders, weil sie hauptsächlich für den Kopf da ist und nicht die Gefühlsebene anspricht oder die Imagination. Komischerweise ist das die gleiche Erfahrung, die ich mit Filmen oder Fernsehsendungen mache. Sie fordern keine Einfühlung oder Vorstellungskraft, um unterhaltsam zu sein. Mein Zustand kann sich ja buchstäblich in einer Sekunde ändern, und ich möchte diese Lektion nicht noch einmal machen. Das hat in den letzten fünf Jahren nachgelassen. Zu den Zeiten, die ich schon erwähnt habe, geriet ich in hypomanische Zustände, in denen ich alles Mögliche machen wollte und auch den Schwung dazu hatte. Aber das dauerte nur einige Wochen oder vielleicht einen Monat lang an. Danach kam dann die Depression heftiger zurück als zuvor. Ich nehme ein Medikament namens Lamictal (Anm.: Lamotrigin). Das ist ein Antiepileptika, das Psychiater anstelle von Lithium gegen bipolare Störungen oder bei behandlunsgresistenten Depressionen anwenden. Idealerweise wirkt das Medikament so, dass du nicht ins Bodenlose fallen kannst, aber dich eben auch nicht unendlich gut fühlst. In dieser Mitte bewege ich mich jetzt. Der einzige Grund, warum ich so ins Detail gehe ist der, damit jemand, der das liest, weiß, wovon ich spreche, und sich vielleicht dafür interessiert. Bei allen anderen muss ich mich entschuldigen.

MC: Was ist mit Filmen? Fandest du in letzter Zeit welche gut? Oder hast du welche gehasst?

TL: Einige erwähnenswerte Filme, die ich in letzter Zeit grauenhaft fand, waren Spielbergs “München” und Woody Allens “Match Point”. Ebenso “Mission Impossible 3”. Zu dieser Liste kannst du noch den französischen Film “Caché” hinzufügen, das ist der schlechteste Film, den ich jemals gesehen habe. “Das Mädchen aus dem Wasser” habe ich nicht gesehen, aber ich weiß, dass er scheiße ist, weil die Macher einfach nicht gut sind. Das beste Beispiel ist “The Sixth Sense” – ein Schwindel von Anfang bis Ende.

Üblicherweise sind die Filme, die ich mag, Schund oder werden ignoriert wie “Mann unter Feuer” mit Denzel Washington oder “Sag kein Wort” mit Michael Douglas. Kürzlich lieh ich mir Filme aus, die ich schon tausendmal gesehen habe.

Horrorfilme: “Wolf Creek”, scheiße; “Hostel”, scheiße; “The Devil’s Reject”, sehr lustig und clever; das Remake von “The Hills Have Eyes”, scheiße. Es mag sich für manche Horrorfilm-Freaks idiotisch anhören, aber ich habe wirklich eine gute Meinung von den beiden “Final Destination” – Filmen. Ich lieh mir also den dritten Teil aus, und was soll ich sagen: echt mies. Ich bevorzuge Filme, in denen es um verlorene Existenzen geht. Das ist der Grund, warum ich Romeros Zombie-Filme so reizvoll finde. Von Anfang an ist dort alles hoffnungslos.