Lovecraft und der Cthulhu-Mythos

“Ich hege keine trügerischen Hoffnungen gegenüber dem heiklen Zustand meiner Erzählungen, und ich erwarte nicht, ein ernsthafter Konkurrent der von mir bevorzugten Autoren unheimlicher Literatur zu sein”, schrieb Lovecraft 1933 in seinem autobiographischen Essay “Some Notes on a Nonentity”. Er fügte hinzu: “Das einzige, das ich zugunsten meiner Arbeit ins Feld führen kann, ist ihre Aufrichtigkeit.”

H.P. Lovecraft

Mit dem Begriff Weird Fiction verhält es sich ähnlich wie mit dem der amerikanischen Short Story. Beide lassen sich nicht verlustfrei ins Deutsche übertragen, denn weder ist die Weird Tale identisch mit unserem Verständnis einer unheimlichen Erzählung, noch ist die Short Story einfach eine Kurzgeschichte. Das führt zu Komplikationen im Übersetzungswirrwarr. Noch verwirrender wird es, wenn man die Weird Tale einfach mit einer Horrorgeschichte gleichsetzt. Lovecraft zum Beispiel benutzte das unheimliche Element, um sein eigenes Werk zu beschreiben, wurde aber präziser, wenn er es als „Literatur des kosmischen Grauens“ oder „Literatur der Angst“ bezeichnete. Diese Aussagen deuten darauf hin, dass Lovecraft sich selbst im Horrorgenre verortete.

Dennoch sind viele seiner Konzepte und Metaphern der Science Fiction zuzuordnen. In dieser Kombination ist es nicht verwunderlich, dass Lovecraft als Schöpfer des kosmischen Horrors bezeichnet wird, was nicht ganz den Tatsachen entspricht. Elemente des kosmischen Horrors tauchen bereits in der Schauerliteratur des frühen 19. Jahrhunderts auf. Namentlich in Bulwer-Lyttons „Zanoni“ – und in den 1890er Jahren dann bei Arthur Machen und Robert Chambers, wenn auch mit ganz anderen existenztheoretischen Ansätzen als bei Lovecraft. In seinem Aufsatz „Supernatural Horror in Literature“ bemerkt er, dass er gerade diese Autoren bewundere und in ihrer Tradition schreibe. Lovecraft hat den kosmischen Horror nicht erfunden, er hat ihn neu interpretiert, indem er die Theorien der modernen Wissenschaft in den Mittelpunkt stellte und gleichzeitig das Element der viktorianischen Moral entfernte. Was Lovecraft schuf, war die Idee des 20. Jahrhunderts – und darin war er Kafka ähnlicher als seinen Vorgängern. Das Universum ist ein leerer, gleichgültiger Ort, in dem es keine spirituelle Bedeutung gibt, keine sinnvolle Handlung, in dem die menschliche Existenz völlig bedeutungslos ist.

Lovecrafts Cthulhu-Mythos und all die exorbitante Beschäftigung damit verstellen heute den Blick darauf, dass Lovecraft am Ende seines Lebens etwas Neues schaffen wollte, das nichts mit diesem Mythos zu tun haben sollte, dessen er zu diesem Zeitpunkt überdrüssig war, das sich aber dennoch um den kosmischen Schrecken drehen sollte. Aber Lovecraft war nicht anders als die Figuren, die er hauptsächlich benutzte. Lovecrafts typischer Protagonist ist mit zu viel Wissen über die reale Welt belastet. Je mehr er über die Realität des Verlagswesens wusste, desto verzweifelter wurde er, bis er schließlich in den letzten sechs Jahren seines Lebens nur noch zwei Geschichten schrieb.

Doch wie konnte Lovecraft den Status erlangen, den er heute genießt? Er war keineswegs der beste Genre-Schriftsteller seiner Zeit. Clark Ashton Smith war der weitaus bessere Stilist, Algernon Blackwood schrieb den besseren Horror, Olaf Stapledon die bessere Science Fiction. Und doch ist es Lovecraft, dem Prachtausgaben gewidmet werden, der Quelle zahlreicher akademischer Studien ist und der von der westlichen kapitalistischen Kultur so absorbiert wurde und wird, dass es an Comics, Spielen und Stofftieren nicht mangelt. Sein groteskes Pantheon ist ebenso Teil der Populärkultur wie die Stadt Arkham und die Miskatonic University (und natürlich der Cthulhu-Mythos). Das hätte sich Lovecraft bei seinem Tod 1937 sicher nicht träumen lassen. Zwar hatte er in gewissen Kreisen einen kleinen Erfolg durch die damals kursierenden Pulp-Magazine, aber er blieb bis zu seinem Tod arm und kränklich, bis ihn schließlich der Magenkrebs dahinraffte. Der Literaturtheoretiker Roger Luckhurst nannte ihn einen „unbekannten und erfolglosen Schund-Autor“. Acht Jahre nach seinem Tod bezeichnete ein Rezensent der Zeit Lovecraft in einer vernichtenden Kritik als „Schmierfink“. Und doch ist es nicht Smith, Blackwood, Fritz Leiber oder einer der vielen anderen, denen heute gehuldigt wird. Woran liegt das?

Einerseits war Lovecraft einer der fleißigsten Briefeschreiber der Literaturgeschichte, was nicht zu unterschätzen ist, da er damit bei seinen Lesern und bei anderen Schriftstellern den Grundstein für ein Bewusstsein legte, das in seinem Nachleben Früchte trug. Darüber hinaus war Lovecraft der erste Schriftsteller, der eine fiktive Welt mit anderen teilte und diese sogar ermutigte, sie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Auf diese Weise erreichten die von Lovecraft geschaffenen Konzepte, Wesen und Welten eine Langlebigkeit, die den Fiktionen anderer Schriftsteller nicht vergönnt war. (Howards Conan ist ein kleiner, aber weniger definierter Ableger dieses Ansatzes). Ein dritter Punkt ist, dass Lovecraft schlichtweg DIE Figur dessen ist, was wir als Weird Fiction akzeptieren, als seltsame oder beunruhigende Geschichten – mit oder ohne übernatürliche Ereignisse -, die sich in einem Zwischenstadium befinden, immer an der Grenze zu etwas anderem, aber nirgendwo eindeutig durchbrechen. Das Spektrum der Weird Fiction, die als Subgenre um 1880 entstand, reicht von Coleridge bis China Miéville. Der Vorteil, Lovecraft hier zu verorten, liegt auf der Hand. So wird er zum einen durch seine Erzählungen, zum anderen durch seinen kanonbildenden Aufsatz “Supernatural Horror in Literature” zum Mitbegründer und Repräsentanten des Subgenres.

Aber das allein würde wohl nicht ausreichen, um Lovecrafts außerordentliche Bedeutung zu begründen. Tatsächlich sind es die Intelligenz, die Phantasie und die Qualität der besten Geschichten Lovecrafts. Es gab einfach niemanden, der so schrieb wie er. Lovecraft war etwas völlig Neues. Und das ist auch heute noch so, trotz des mittlerweile etablierten Subgenres “Lovecraftian Horror”, in dem sich viele versuchen. Das ist das Offensichtliche. Weniger offensichtlich, aber ebenso prägnant ist der perverse Reiz des Lovecraftschen Nihilismus, der zur Marke geworden ist. Seine Fähigkeit, Ekel, Angst und andere kathartische negative Emotionen zu vermitteln und zu wecken. Lovecrafts offenes Spiel mit einem Universum, seinem Sinn und seiner Existenz – mit uns darin -, das nicht nur andere Schriftsteller, sondern auch das akademische Ghetto zum Nachdenken herausfordert, macht ihn zu einem der interessantesten Fiktionalisten überhaupt.

Der Aufstieg zu einer Art Pop-Ikone vollzog sich jedoch rätselhaft plötzlich und nicht kontinuierlich. Aus bis heute ungeklärten Gründen setzte um 1969 ein Run auf die Taschenbuchausgabe von Beagle/Ballantine ein, der dazu führte, dass das Time Magazine auf den überraschenden Erfolg aufmerksam wurde und am 11. Juni 1973 eine scherzhafte, aber respektvolle Besprechung veröffentlichte. Sicherlich hatte August Derleth, der selbsternannte Sprecher in Sachen Lovecraft, einen großen Anteil daran, allein schon dadurch, dass er immer wieder zeigte, dass Lovecraft ein kühner Denker war und keineswegs nur der exzentrische Weggefährte, für den man ihn lange hielt. Und nicht zuletzt war es Derleth, der den “Cthulhu-Mythos” als Marke erfand. Derleths Verdienst, diese Pseudomythologie (beginnend mit “The Call of Cthulhu”, 1926) fachkundig geordnet, ergänzt und chronologisch geordnet zu haben, ist selbst zu komplex und noch gar nicht erschlossen. Sein Beitrag zu diesem Phänomen ist jedoch außergewöhnlich. Seine eigenen Arbeiten zum Cthulhu-Mythos sind jedoch völlig uninspiriert, vor allem weil er die grundlegende philosophische Bedeutung von Lovecrafts Texten missversteht.

Den endgültigen Beweis, dass Lovecraft auch die akademische Welt infiltriert hatte, lieferte die große H.P. Lovecraft-Konferenz der Brown University (August 1990), auf der Wissenschaftler aus aller Welt drei Tage lang Lovecrafts reiches Werk, Leben und Denken in Podiumsdiskussionen erörterten. In dieser Zeit erschienen unzählige wichtige Bücher über Lovecraft, und die renommierte Literaturzeitschrift American Literature stellte fest: “Jeder, der Lovecraft jetzt noch ignorieren will, sieht sich eindeutig in die Defensive gedrängt”.

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Supernatural Horror in Literature