Auch wenn er selten aufgezählt wird, ist eine der bekanntesten Kreaturen der westlichen Volksmärchen der kopflose Reiter. Innerhalb der keltischen Folklore lässt sich die Erscheinung bis ins Mittelalter zurückverfolgen, aber die bekannteste Interpretation des legendären Gespensts stammt aus der Nähe von Terrytown, New York und ist in einem ruhigen Dorf namens Sleepy Hollow entstanden. Niedergeschrieben wurde die Legende von Washington Irving, und gehört hat jeder in der ein oder anderen Form schon einmal davon.
Die Legende besagt, dass das Gespenst einst ein hessischer Soldat gewesen ist, der in einer namenlosen Schlacht während des Revolutionskrieges durch eine Kanonenkugel getötet wurde. Der kopflose Reiter erhebt sich an jedem Halloween, um zu versuchen, seinen Schädel zu finden, indem er andere Köpfe abhackt, bis er den seinen endlich gefunden hat. Doch der kopflose Reiter ist natürlich nicht nur an Irvings Geschichte gebunden.
Eine weitere amerikanische Legende des “kopflosen Reiters” stammt aus der Feder des englischen Schriftstellers Thomas Mayne Reid. Seine Geschichte „Headless Horseman: A Strange Tale of Texas“ scheint einem ähnlichen roten Faden zu folgen wie Irvings Erzählung. Dort gibt es zwei Männer, die der schönen Louise Poindexter in Texas den Hof machen, während ein kopfloser Reiter durch die weiten Ebenen streift.
Allerdings lässt sich der Ursprung dieser Geschichte als eine Nacherzählung von „El Muerto – The Headlesss Horseman“ erkennen, die in den amerikanischen Pionierzeiten von einem Mann namens Creed Taylor erzählt wurde.
Die Begebenheit handelt von zwei Männern, die in Mexiko Pferdediebe jagten. Als sie den Anführer einer Gruppe dieser Gauner fanden, töteten sie ihn und enthaupteten ihn anschließend. Dann banden sie den kopflosen Leichnam auf einen wilden Hengst und ließen ihn als Warnung für andere Diebe in der Nähe frei herum laufen.
In der irischen Volkserzählung ist der Feenreiter ohne Kopf der Dulachán oder Dullahan. Er fährt eine von mehreren Pferden gezogene Kutsche oder reitet einfach auf einem Pferd. Der Reiter hatte seinen Ursprung in der keltischen Mythologie des Crom, der enthauptete Opfer forderte. Der Kopflose erschien stets jemanden, der mit einem wohlhabenden Herrn oder Landbesitzer verbandelt war, und sagte unter anderem den Tod voraus. Andere Beschreibungen betonen, dass der Reiter ungesehen bleiben will. Sollte ihn einmal jemand entdecken, so reißt er dem Betrachter die Augen aus.
Der Dullahan taucht in mehreren Volksmärchen auf, insbesondere in Thomas Crofton Crokers „Fairy Legends and Traditions of the South of Ireland“ – Märchen und Traditionen des südlichen Irland.
Von den drei Bänden wurde nur der erste als “Irische Elfenmärchen” ins Deutsche übertragen. Jene, die den kopflosen Reiter thematisieren, sind nicht dabei. Es handelt sich um “Hanlon’s Mill”, “The Death Coach” und “The Headless Horseman”. In “Hanlon’s Mill” wird von Michael Noonan erzählt, der seine Schuhe von einem Schuhmacher abholen geht und auf dem Heimweg von der Erscheinung des Reiters erschreckt wird:
Aber wie erstaunt war Mick, als er dicht neben sich eine große, hohe schwarze Kutsche entdeckte, die von sechs schwarzen Pferden gezogen wurde, mit langen schwarzen Mähnen, die fast bis auf den Boden reichten, und einem ganz schwarz gekleideten Kutscher, der auf dem Bock saß.
Aber was Mick am meisten überraschte, war, dass er weder am Kutscher noch eines der Pferde einen Kopf besaß. Der Wagen huschte schnell an ihm vorbei, und er konnte sehen, wie die Pferde ihre Beine in einem feinen Rhythmus bewegten, wie der Kutscher sie mit seiner langen Peitsche antrieb und die Räder sich in schnellen Spiralen drehten; aber weder die Kutsche noch die Pferde machten ein Geräusch. Er hörte nur den regelmäßigen Schritt seines eigenen Pferdes und das Quietschen der Zügel des Wagens, die nicht besonders gut gefettet waren.
Übers. von Michael Perkampus
Getreu dem Volksmärchen stirbt der Gutsherr am Ende dieser Geschichte. In “The Death Coach” beschreibt die grimmige Prosa das Erscheinen des Reiters und seiner gespenstischen Kutsche in einer sternlosen Nacht. Er schwingt eine Peitsche, die aus einem menschlichen Rückgrat gefertigt wurde.
Eine Kutsche! – Aber diese Kutsche hat kein Dach;
Und die Pferde! – Die Pferde haben keinen Kopf;
Und der Kutscher! – Für ihn gilt das gleiche.
Die Räder sind mit den Oberschenkeln toter Männer gespeicht
und die Stange sieht aus wie die Wirbelsäule eines Rückens!
Das schäbige Tuch, das an den Fenstern flattert,
ist ein schimmliges Leichentuch, das üble Dämpfe verströmt;
und um der seltsamen Kutsche auf ihrem Weg ein Licht zu gestatten,
hängen zwei hohle Schädel als Lampen daran!
In “The Headless Horseman” schließlich reitet der Protagonist Charley Culnane im Regen nach Hause, nachdem er mit seinem Freund etwas getrunken hat. Während er übermäßig besorgt ist, dass seine neuen Trenszügel durch den Regenguss ruiniert werden könnten, bemerkt er den Dullahan, der neben ihm her trabt, zunächst nicht. Er entdeckt den Kopf des Reiters erst, als das Feenwesen ihn unter seinen rechten Arm nimmt:
Charley sah wieder hin, und nun zur der richtigen Stelle. Jetzt sah er deutlich unter dem besagten rechten Arm jenen Kopf, von dem die Stimme ausgegangen war, und einen solchen Kopf hatte kein Sterblicher je zuvor gesehen. Er sah aus wie ein großer Frischkäse, mit schwarzem Pudding garniert: kein Fleckchen Farbe belebte die aschfahle Blässe der faltig eingekerbten Züge; die Haut lag gespannt über der unheimlichen Oberfläche, fast wie das Fell einer Trommel.
Zwei feurige Augen von ungeheurem Umfang, mit einer seltsamen und flackernden Bewegung, schossen Blitze wie Meteore auf Charley hinüber, und um alles zu vervollständigen, reichte der Mund von einem Ohr zum anderen, die beide unter einer Fülle von verfilzten Locken von glanzloser Schwärze hervorlugten. Dieser Kopf, den die Gestalt bis dahin offensichtlich vor Charleys Augen verborgen hatte, brach nun in seiner ganzen Abscheulichkeit über ihn herein.
Übers. von Michael Perkampus
Die Geschichte ist durch ihr Ende optimistischer als die vorherige. Der unheimliche Reiter und Charley liefern sich ein Rennen, und als Charley seine alte, weiße Stute anhält, teilt der Reiter Charley mit, dass er sich danach gesehnt hat, mit jemandem ein Rennen zu veranstalten, seit er und sein Pferd sich vor hundert Jahren am Kilcummer Hill das Genick brachen. Dann sagt er zu Charley, er solle immer ein wagemutiger Reiter sein, denn ihm werde nichts Böses widerfahren und er werde immer sein Glück finden. Als Charley nach Hause zurückkehrt, erzählt er allen, was passiert ist, und alle führen es auf den Schnaps zurück, den er früher am Tag getrunken hatte. Das Kuriose daran ist, dass er mit seiner alten Stute zufällig ein Rennen gewinnt, was die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte beweist.
Im Gegensatz zum irischen Dullahan steht der indische Jhinjhar, was im Sanskrit “Krieger” bedeutet. Er wird nicht als der Bösewicht der Geschichte, sondern als der Held angesehen. Dieser kopflose Reiter hat seine Ursprünge in der Folklore von Madhya Pradesh und Rajasthan. Er war einst ein Prinz, der durch die Hand von Wegelagerern oder bei der Verteidigung seines Dorfes ums Leben kam.
In der schottischen Folklore gibt es Ewan den Kopflosen, vom Clan MacLain. Ewans Vater Hector ist genervt von dem Drängen seiner Frau und seines Sohnes, den angeblich “schwachsinnigen” Ewan zum Erben seiner Ländereien einzusetzen. Ewan und Hector geraten in einen Streit, bei dem Ewan seinem Vater mit dem Schwert auf den Kopf schlägt und davonstürmt. Nachdem er Lachlan, Hectors anderen Sohn, über den Vorfall informiert hat, wird Lachlan wütend und schwört, Ewan im Kampf zu töten. Vor dem Duell wagt sich Ewan in einen nahegelegenen Wald und sieht dort eine Fee namens Banshee am Fluss sitzen, mit nackter Brust und blutverschmierter Kleidung. Er fragt sie nach dem Ausgang des Duells und die Banshee antwortet: “Wenn du morgen früh Butter zu deinem Brei bekommst, ohne zu fragen, dann wirst du siegreich sein.”
Das passt dem hirnlosen Ewan nicht, der sie schließlich verflucht. Am nächsten Morgen sitzen Ewan und der Rest seiner Männer im Bankettsaal und warten schweigend auf das Essen, bis Ewan seine Butter erhalten hat. Als die Butter nicht kommt, wird Ewan wütend und schreit: “Die Diener, die wir haben, sind schrecklich, sie bringen mir nicht einmal Butter zu meinem Brei!” Weil er gegen die Vorhersage der Banshee verstieß und Butter verlangte, trifft ihn das Unglück. So wird Ewan während des Kampfes gegen seinen Bruder Lachlan der Kopf abgehackt. Es gelingt ihm noch, sein Pferd zu besteigen, bevor er im Sattel zusammensackt und stirbt. Seitdem holt der kopflose Reiter Ewan die Seelen derer, die im Clan MacLain sterben.
Schließlich gibt es in der skandinavischen Folklore einen kopflosen Reiter, der mit dem irischen Dulachán insofern verwandt ist, als dass der Reiter seinen Kopf gewöhnlich unter den Arm geklemmt trägt. Dieser kopflose Reiter wünschte sich, auch nach dem Tod weiter in seinem Lieblingswald Gurre zu jagen und hatte zu Gott gebetet. Sein Wunsch wurde erfüllt, und dieser kopflose Reiter jagt seitdem auf einem weißen Ross peitschenknallend durch den Wald, seine Hunde begleiten ihn mit feurigen Mäulern.
Die Wilde Jagd
Man könnte die Folklore der Wilden Jagd, wie sie in der Geschichte um den wilden Jäger Hackelberg der Gebrüder Grimm zu finden ist einfach als eine übernatürliche Jagdgesellschaft zusammenfassen, die entweder aus Geistern, Elfen, Feen oder Untoten besteht und von jemanden angeführt wird, der je nach Herkunftsregion des Märchens variiert. In der skandinavischen Folklore ist diese Figur Odin. In Deutschland ist der Anführer Wodan (der Gott des Windes), in Dänemark Valdemar Atterdag, in Italien Theoderich der Große, König der Ostgoten. Es wurden sogar Figuren aus der Bibel zum “Anführer der Wilden Jagd” ernannt, ebenso wie der Teufel. Wer auch immer der wahre Anführer ist, es kann davon ausgegangen werden, dass es jemand von großer Bedeutung war. Und ähnlich wie beim Vorbeiziehen des Dulachán wurde sein Kommen als Vorbote des Todes gesehen, entweder im Krieg, der Pest oder als Signal des eigenen Untergangs.
Zahlreiche Länder haben in ihrer Mythologie einen gewissen kopflosen Reiter. Was die Frage aufwirft: Warum sind kopflose Gestalten, insbesondere Reiter, in der Folklore so prominent? Sicher war ein Grund die Enthauptung von Leichen, um sie daran zu hindern, wieder aus dem Grab zu steigen. Diese Praxis wird in vielen Schauergeschichten verwendet, von Joseph Sheridan Le Fanus „Carmilla“ (1871) bis hin zu Bram Stokers „Dracula“ (1897). Die älteste bekannte enthauptete Leiche stammt aus dem Paläolithikum von einem jungen Mann, der in Goat’s Hole in Südwales gefunden wurde. Die Enthauptung von Leichen ist also eine seit langem geübte Praxis unter den allzu abergläubischen Menschen, und man kann nur vermuten, warum unsere Vorfahren den Mann enthauptet haben. Hatten auch sie Angst, dass er von den Toten aufersteht und sie heimsucht?
Während der “kopflose Geist” im Laufe der Vergangenheit immer wieder auftaucht, sowohl in der Literatur, wie z.B. in der Artuslegende „Sir Gawain und der grüne Ritter“ aus dem14. Jahrhundert, oder in der modernen Popkultur „Elder Scrolls V: Skyrim“, ist es unbestreitbar, dass viele einen Reiter direkt mit dem Tod assoziieren. Dieses Thema, dass Reiter die “Vorboten des Todes” sind, lässt auch vermuten, dass viele Angst davor hatten, von einem Reiter (entweder einem Bauern im Mittelalter oder in einer späteren Zeit) gejagt und geköpft zu werden. Und natürlich scheint der einfachste Weg zu sein, das Leben einer armen Seele zu beenden, indem man sein Schwert direkt auf dessen Kopf richtet, während man auf einem Pferd reitet.
Wenn ein Reiter unter schrecklichen Umständen stirbt und sein Kopf abgetrennt wird und verloren geht, erhebt sich der Geist auf der Suche nach ihm oder reitet durch die Lande und bringt jeder unglücklichen Seele, die ihn erblickt, den Tod. Ob in Form des kopflosen Reiters aus Irvings Legende, des Gottes der Wilden Jagd, der Kutsche des Dulachán oder eines idiotischen Schotten – es lässt sich nicht leugnen, dass viele von uns mit der Vorstellung eines kopflosen Reiters aufgewachsen sind. Und diese Geschichten werden traditionell um Halloween herum erzählt, um uns eine Gänsehaut zu verpassen, unsere Herzen zum Rasen zu bringen und uns letztendlich lebendig zu fühlen.
Wenn ihr also das nächste Mal in der Nacht unterwegs seid und das Klappern von Hufen hört oder ein stummer Reiter sich euch auf eurem Spaziergang anschließt, behalten einfach einen klaren Kopf!