Im dritten Teil haben wir die Arbeiten von William Morris etwas genauer angesehen und uns die Frage gestellt, ob er wirklich eine völlig unabhängige Welt erschaffen haben könnte. Wir hatten das noch nicht abschließend geklärt, aber das werden wir dafür heute tun.
Es ist einfach, sich Upmeads als ein kleines Königreich wie England oder Frankreich oder ein anderes europäisches Land vorzustellen, und natürlich kann man sich Upmeads auch als eine eigene Welt vorstellen, wenn man akzeptiert, dass es dort Städte wie Rom oder Babylon gibt. Aber wie sinnvoll ist das?
Ich denke, wir sollten etwas sparsamer sein, statt “nicht unnötig viele Begriffe” sollten wir sagen: “nicht unnötig viele Realitäten”. Wenn ein realer Ort in einer Geschichte verankert ist, sollten wir davon ausgehen, dass es sich um einen realen Ort handelt, es sei denn, die Geschichte belehrt uns eines Besseren.
Natürlich kann eine Geschichte, die in einer Parallelwelt spielt, reale Namen für erfundene Orte enthalten, aber Parallelwelten kamen erst relativ spät auf, zumindest lange nach den Fantasy-Welten. Aber auch hier: Wo ist die Grenze zu ziehen? Wenn wir eine Geschichte vor uns haben, in der Magie wirklich funktioniert, die Welt aber eindeutig unsere ist, sollen wir sie dann als eine Geschichte lesen, die in einer Fantasywelt spielt, oder als eine Geschichte, die in der realen Welt spielt?
Das hängt wohl davon ab, ob das Setting die reale Welt in uns hervorrufen will und nicht eine Parallelwelt. Wenn das der Fall ist, müssen wir die Welt als die reale Welt akzeptieren, d.h. als die Beschreibung einer fiktiven, aber realen Welt, in der Magie funktioniert. Der Unterschied zu einer Parallelwelt (wie auch zu einer Fantasy-Welt) besteht darin, dass beide einer eigenen, ihrer Geschichte innewohnenden Logik folgen und ihre Protagonisten erkennbar anders handeln als die Menschen in unserer Welt. Wenn die Magie dort so weit entwickelt ist, dass sich durch sie die Kulturgeschichte oder der Lauf der Welt völlig anders entwickelt hat, dann haben wir es auf sehr wirkungsvolle Weise mit einer phantastischen Parallelwelt zu tun.
Wenn wir eine Geschichte über König Artus lesen, die in England spielt, wo Merlin seinen Zauber wirkt, lesen wir nicht unbedingt über eine erfundene zweite Welt. Wenn wir Susanna Clarkes “Jonathan Strange & Mr. Norell” lesen, scheint die Handlung in Jane Austens England zu spielen, mit der Stadt London und den napoleonischen Kriegen. Doch schnell merken wir, dass hier nicht nur Magie wirkt, sondern dass es auch eigene historische Entwicklungen zu geben scheint, die eine eigenwillige Interpretation der uns bekannten darstellen. Wir haben es hier eindeutig mit einer Parallelwelt zu tun.
Braucht eine phantastische Anderswelt eine eigene Geographie? Strange & Norell nicht. Braucht sie eine verständliche Kulturgeschichte? Nun, von Alice im Wunderland kann man nicht behaupten, dass es eine solche gibt. Kann eine Fantasy-Welt also auf eine eigene Geographie und Kulturgeschichte verzichten? Was ist mit den Menschen? Können sie sich so verhalten wie die Menschen in der realen Welt oder müssen sie ihre eigenen Sitten und Gebräuche haben? Wenn ja, wie stark müssen sie sich von realen Menschen unterscheiden?
Es scheint vier charakteristische Merkmale zu geben, bei deren Berücksichtigung man von einer unabhängigen Welt sprechen kann, vorausgesetzt, dass es sich nicht ausdrücklich um unsere Welt handelt, z.B. in einer anderen Zeit oder in einem unbekannten Teil unserer Welt. Diese Welt darf auch nicht in einem Traum (oder in einer Illusion dieser Welt) angesiedelt sein. Mit anderen Worten, wenn nichts darauf hinweist, dass diese Welt unsere Welt ist, wird eine Fantasy-Welt alle oder die meisten der folgenden Merkmale aufweisen:
Erstens scheint es, dass eine unabhängige phantastische Welt immer ihrer eigenen Logik folgt. Das kann bedeuten, dass hier andere physikalische Gesetze gelten oder dass die Magie ein Äquivalent zur Physik oder Wissenschaft darstellt. Oder die Logik entspricht eher einer Traumlogik. Der Punkt ist, dass die Funktionsweise dieser Welt, ihre Gesetze usw. sich von unserer Welt unterscheiden. In einem solchen Fall kann man von einer eigenständigen Phantasiewelt sprechen.
Zweitens: Geographie. Eine eigenständige Fantasy-Welt hat eigentlich immer ihre eigene Geographie. Es gibt einen Ort – und dann gibt es den Ort da drüben usw., vorzugsweise sind alle diese Orte benannt, obwohl das, was diese Namen ausmacht, eine eigene Diskussion wert wäre.
Drittens: Die Welt hat eine Geschichte. Diese Geschichte kann akribisch und ausgiebig sein, oder sie kann beschaulich sein, aber der Punkt ist, dass das, was in dieser Welt geschieht, vor einem historischen Hintergrund geschieht. Es wurde Handel getrieben, Völker bekriegten sich oder waren anderweitig verfeindet. Der Rahmen dieser Ereignisse hilft der Erzählung und dem Weltentwurf insgesamt.
Viertens: Menschen können sich anders verhalten als wir. Sie haben vielleicht ihre eigenen Bräuche, denken anders als wir, haben einen anderen Stand der Technik oder haben die Dinge in einer anderen Reihenfolge erfunden als wir. Vielleicht ist ihre Sprache anders, archaischer und spiegelt ihre andere Denkweise wider. Vielleicht gibt es aber auch nichts von alledem. Was ich zu beschreiben versuche, sind Menschen, die wir uns als Teil ihrer eigenen fiktiven Welt vorstellen sollen und die sich mehr auf diese Welt beziehen als auf die reale Welt. Aber die Bewohner von Tolkiens Mittelerde sind keine Europäer, und wir sollen sie auch nicht als solche betrachten, obwohl sie in vielerlei Hinsicht Europäern ähneln.
Jetzt haben wir unsere vier Merkmale, die hoffentlich definieren, was es bedeutet, mit einer unabhängigen zweiten phantastischen Welt konfrontiert zu sein. Wie funktioniert das in der Praxis? Braucht eine fiktive Welt alle diese Merkmale?
Dazu kommen wir im nächsten Teil.