Die Geschichte des Fantasy -6- Zwischenstation

In den ersten Artikeln haben wir uns die Frage gestellt, wer der erste Autor war, der eine unabhängige Anderswelt beschrieben hat. Wir haben dort nach Hinweisen oder Regeln gesucht, die eine unabhängige Anderswelt definieren könnten. Im diesem Teil werden wir uns mit einigen Anhaltspunkten beschäftigen, die in der Vergangenheit verwendet wurden, um eine Fantasiewelt von der Realität zu unterscheiden.

Zur Erinnerung: William Morris wird allgemein zugeschrieben, der erste gewesen zu sein, der seine Geschichten in einer reinen Phantasiewelt angesiedelt hat. Das bedeutet, die Handlung in eine Welt zu verlegen, die nichts mit der unseren gemein hat. Das behaupten zumindest Lin Carter und L. Sprague de Camp. Es gibt jedoch jemanden, der lange vor Morris eine eigene Welt geschaffen hat. Dennoch sollten wir uns fragen, warum es so lange gedauert hat, bis jemand auf diese Idee kam. Erinnern wir uns daran, dass Morris’ Die Zauberin jenseits der Welt im Original 1894 erschien, und selbst wenn es einen Schriftsteller gab, der vielleicht ein paar Jahrzehnte früher eine andere Welt erfand, bleibt die Tatsache bestehen, dass es Tausende von Jahren dauerte, bis die Idee einer unabhängigen Welt aufkam. Warum?

Es kann kaum daran liegen, dass die Künstler früher weniger Phantasie hatten. Schaut man sich nämlich die alten Werke an, so findet man viel phantastisches Material, das dem, was wir heute High Fantasy nennen, recht nahe kommt. Vielleicht sind die immer wiederkehrenden Motive, die man dort findet, auch dafür verantwortlich, dass man glaubte, man brauche keine eigene erfundene Welt. Wir finden Geschichten aus der Zeit vor 1800, die zwei oder sogar drei der vier (im ersten Teil dieses Artikels genannten) Merkmale aufweisen, und doch ist in ihnen immer ein Bezug zu unserer realen Welt vorhanden.

Im Wesentlichen basieren viele dieser älteren Werke auf einer Allegorie, die zwar die Phantasie anregen kann und soll, aber immer mit den gleichen Bausteinen arbeitet, die den Bezug zur realen Welt nicht verleugnen. Man denke nur an E.R. Eddison, der seinen Roman “Der Wurm Ouroboros” mit einer Figur aus unserer Welt beginnt, um sie dann durch ein Out-of-Body-Erlebnis nach Merkurien zu versetzen. Auch wenn der Rest des Buches völlig aus dem Ruder läuft, ist dies ein Beispiel dafür, dass er den Bezug zur Realität nicht ganz verloren hat.

Viele der frühen Versuche, von einer „glaubwürdigen“ Anderswelt zu sprechen, fanden ihr phantastisches Ziel im Jenseits, aber auch hier wird der Rahmen zeitgenössischer Vorstellungen nicht verlassen. Abgesehen davon, dass man hier durchaus seine Vorstellungen unterbringen konnte, bleibt die Verbindung zur realen Welt immer durch ein früheres Leben erhalten. Oder besser: Auch ein phantastisches Jenseits definiert sich über ein reales Diesseits.

Das bringt uns die Frage wieder ins Gedächtnis: Wer war wirklich der erste Schriftsteller, der die Notwendigkeit einer völlig eigenständigen, unabhängigen Welt erkannte und eine solche erfand?

Begriffe wie „Jenseits“, „Fantasy“ und vor allem „High Fantasy“ haben für viele Leser unterschiedliche Bedeutungen. Es gibt unzählige Interpretationsvarianten. Machen wir es ein bisschen genauer: Fantasy ist jede Geschichte, die Elemente der Magie oder des Übernatürlichen enthält. Ja, das beinhaltet Elemente des Horrors, und ja, das beinhaltet auch Elemente der Science Fiction. In der High Fantasy sind diese phantastischen Elemente so dominant, dass sie in einer eigenen Welt ihren eigenen Gesetzen folgen. Fantasy spielt in einer Welt, die nicht die unsere ist, in der es keinen Bezug mehr zu unserer Realität gibt. In dieser Hinsicht ist die Jenseitsphantasie ein Unterkapitel der High Fantasy, so wie die High Fantasy ein Subgenre der Fantasy ist.

Trotz dieser Definition müssen wir dennoch einen Grund nennen, warum wir nicht einfach eine Jenseitsfantasie wie “Die Pilgerreise” von John Bunyan (1628 – 1688) als High Fantasy etikettieren können. Worin liegt der Unterschied zu “Der Herr der Ringe”?

Unabhängig davon, ob man Morris als den ersten Fantasy-Autor akzeptiert oder nicht, steht fest, dass der Herr der Ringe lange nach dem Aufkommen von Jenseits- oder Andersweltphantasien geschrieben wurde. Der Unterschied in der Art und Weise, wie Tolkien seine Welt mit der realen Welt verband, ist offensichtlich. Er tat dies auf eine Art und Weise, wie es kein Autor vor ihm getan hatte. High Fantasy kam also später auf die Bühne als besagte Jenseitsphantasie. Aber die traditionelle Fantasy gab es schon vorher. Wie fühlt sich diese traditionelle Fantasy dem Realen verpflichtet? Und wie hat sich die Fantasy dann von der Realität und dem Altbekannten abgegrenzt, bis sie schließlich ihr eigenes Reich beanspruchen konnte?

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