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Die Unschuldsengel (Hörspiel)

Unschuldsengel

The Turn of the Screw. Zu Deutsch: Das Durchdrehen der Schraube. Oder: Die Drehung der Schraube, Bis zum Äußersten, Das Geheimnis von Bly ist eine vielrezipierte Novelle von Henry James, die 1898 von Januar bis April als Fortsetzungsgeschichte in der Wochenzeitschrift Collier’s zum ersten Mal erschienen ist. Illustriert wurde die Geschichte von Eric Pape. 1908 erschien die erste Buchveröffentlichung.

Verzicht auf die Rahmenhandlung

Im Original ist der Erzählung eine Rahmenhandlung vorangestellt, die sich am Ende jedoch nicht fortsetzt. Es bleibt also der Phantasie des Lesers ausgesetzt, was er mit den Aufzeichnungen der Gouvernante anfängt. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines namenlosen Ich-Erzählers (ob männlich oder weiblich, ist unklar), der dem Leser wiederum erzählt wie ein Mann namens Douglas am Kamin in geselliger Runde, in einem englischen Landhaus den Anwesenden die Geschichte dieses Kindermädchens eröffnet, die sie ihm wiederum vertrauend offenbart hatte und sie nun aus ihrer Sicht wiedergibt.

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Das Amulett der Mumie (Hörspiel)

Bram Stokers Original: The Jewel of Seven Stars von 1903, das dem Subgenre der Gothic Fiction angehört, genauer: dem Gothic Horror, einer Vermischung der Schauergeschichte mit der Romantik, und vom Bastei Verlag 1981 unter dem Titel Die sieben Finger des Todes verlegt wurde, erschien sechs Jahre nach Veröffentlichung seines heutigen Bestsellerromans Dracula. Wenn auch den Kennern und Liebhabern der Phantastik bekannt, zählt der Roman hierzulande doch zu seinen weniger bekannten Werken. Schon zu seiner Zeit reagierte die englische Leserschaft eher verhalten. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Original unzähligen Verfilmungen als Vorlage oder Inspirationsquelle diente und bis heute noch dient. Bekannteste Adaptionen sind: Seth Holts Blood from the Mummy’s Tomb / Das Grab der blutigen Mumie (1971), Mike Newells The Awakening / Das Erwachen der Sphinx (1980) und Jeffrey Obrows Bram Stoker’s Legend of the Mummy (1997).

Ägyptomanie in England

The Jewel of Seven Stars enthält typische Fin de siècle-Themen wie etwa den Imperialismus, die Erstarkung eines neuen weiblichen Bewusstseins und auch soziale Fragen. Deutlich melodramatische Tendenzen des viktorianischen Theaters sind erkennbar. Bram Stoker, der ein großer Kenner der ägyptischen Mythologie war, hatte am Trinity College Orientalistik studiert und verwendete große Sorgfalt auf die Darstellung der Details. Was nicht verwundert, da das viktorianische England, das sich von der ägyptischen Kultur fasziniert zeigte, ja sogar eine regelrechte Ägyptomanie entwickelte, bereits 1882 mit dem Versuch begann, Ägypten zu kolonisieren. Was natürlich die Überführung der aufsehenerregenden Artefakte dieser Kultur erheblich erleichtern würde. Es wurde zur Mode, Mumien und Särge öffentlich in Bibliotheken und Museen zur Schau zu stellen. Auf sogenannten Mumienpartys wickelte man die Toten sogar aus. In der Literatur der Zeit kam der Plot des Fluchs der Mumie immer mehr zum tragen und erreichte schließlich seinen Höhepunkt in der viktorianischen Erzählung in Form der Erotisierung weiblicher Mumien, die stets als überirdisch schön und geheimnisvoll beschrieben wurden.

Doch woran liegt es, dass eine prominente Riege, bestehend aus solchen wie Frankensteins MonsterDraculaDr. Jekyll und Mr. Hyde, ohne Mumie auskommen muss?

Die Antwort ist leider einfach. Es liegt an der Umsetzung und Ausführung des Stoffes. An der wenig Spannung erzeugenden, geradlinigen Erzählstruktur Stokers, der allzu pedantischen Beschreibung und Aufführung der ägyptischen Artefakte und an den teilweise kaum nachvollziehbaren Motiven seiner Figuren. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Perry, die sich ausgiebig mit dem Werk Stokers beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass er versuchte, den Prosarhythmus von Walt Whitman nachzuahmen.

Warum gerade dieses Werk?

Und das bringt mich zur nächsten Frage. Die da nicht wäre: Warum gerade dieses Werk? Denn: Warum denn nicht?! – Hat Stoker uns doch mit diesem Werk einen wichtigen Beitrag zur Mythologie der Mumie hinterlassen. Was aber war das Ziel derjenigen, die diesen Roman zu einem Hörspiel aufbereiten wollten? Und ist es ihnen gelungen? Denn für diese Review ist es notwendig zu wissen, dass sich die Macher dieses Hörstücks einer zweiten, späteren Fassung von 1912 angenommen haben, die uns ein anderes, alternatives Ende präsentiert. So wurde das Chapter XVI „Powers – Old and New“ zugunsten eines glücklicheren Endes gestrichen. Auch wurde einiges andere verändert. Warum, wieso, weshalb nun diese Fassung, dazu möchte ich später erst kommen. Daher erst einmal zum Hörstück:

Wir schreiben das Jahr 1904. Sind in London. Im Haus des Archäologen Abel Trelawny, einem Liebhaber und Sammler ägyptischer Altertümer, der, es ist gerade Nacht, in ein mysteriöses Koma gefallen ist. Blut und Wunden am linken Handgelenk weisen auf einen Täter hin. Die erste, die ihn vor seinem Tresor liegend findet, ist seine Tochter Margaret, die gerade zu Besuch ist und sogleich den Rechtsanwalt Malcolm Ross durch einen Brief verständigt und zur Hilfe ruft. Auch ein gewisser Sergeant Daw von Scotland Yard ist gerufen worden und bei Eintreffen des jungen Anwalts von Abel Trelawny bereits im Hause.

Interessanterweise hat Margarets Vater, der seit geraumer Zeit Forschungen über die ägyptische Königin Tera anstellt, mit diesem Vorfall gerechnet, wie wir durch einen Brief erfahren, der an seine Tochter gerichtet ist, in dem er verfügt, wie mit ihm weiter verfahren werden soll und welche Vorkehrungen zu treffen sind. Drei Dinge sind zu beachten: Er darf sein Arbeitszimmer nicht verlassen. Ebenso darf keine der ägyptischen Raritäten von ihrem Platz genommen werden. Alles soll so bleiben wie es ist. Und er selbst muss immer von zwei Personen bewacht werden. Ross, der in Margaret verliebt ist, freut sich mit ihr die erste Nacht bei ihrem Vater verbringen zu dürfen. Doch es kommt anders, da Margaret den ganzen Tag nicht von seiner Seite gewichen war und somit am Abend zu müde ist die erste Nachtwache zu halten. So muss Malcolm mit Schwester Kennedy vorliebnehmen. Die Wache ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn sowohl Malcolm, der in einen tranceähnlichen Zustand fällt, in dem er jene weibliche Stimme vernimmt, die ihn an Margaret erinnert, die Abel Trelawny schon hörte, die ihn ebenso auffordert:

„Vollzieh‘ das Ritual! Befreie mich! Bring‘ mich zurück! Du kannst es. Tu es! Ich will leben. Leben!!!“

— als auch Schwester Kennedy, die nun ebenso wie Abel in einem komatösen Zustand gefangen ist, schaffen es nicht, den Archäologen zu beschützen und des Rätsels Lösung zu offenbaren. Denn auch er ist erneut angegriffen worden, liegt wieder am Boden vor seinem Tresor. Alle Anwesenden versammeln sich und überlegen erneut was zu tun ist. Sergeant Daw äußert Ross gegenüber sogar Zweifel an Margarets Unschuld, da sie immer als erste am Tatort erscheint. Auch ihr Perserkater Silvio, der auf Kriegsfuß bzw. Kriegspfote mit ihrem Vater steht, der, nähert er sich dem Sarkophag von Tera und ihrer ebenso mumifizierten Tigerkatze, immer furchtbar zu fauchen beginnt, rückt, nach der Begutachtung des Opfers Trelawny von Dr. Winchester, in den kleinen Kreis der Verdächtigen. Die Schnitt- bzw. Kratzwunden am linken Handgelenk des Archäologen sprechen dafür. Zumal er an diesem ein Armband mit einem Schlüssel trägt, der zum Tresor gehört, der zusätzlich von einem Kombinationsschloss mit sieben Buchstaben gesichert wird. Jemand versucht also ins Innere des Tresors zu kommen.

Dr. Corbeck, ein alter Archäologenfreund von Abel Trelawny, mit dem er damals gemeinsam das Grab von Tera aufgesucht hatte, betritt das Haus. Beide stützten sich damals auf Nicholas van Huyn, der 1650 in Amsterdam ein Dokument verfasste, in dem er das ‚Tal des Magiers‘ beschrieb, eine geheime Begräbnisstätte der alten Ägypter, und in dem auch Teras Grabkammer Erwähnung findet. Mehr und mehr bringt Corbeck Licht ins Dunkel der Geschichte. Er erzählt von den sieben antiken Leuchten, die er auf einer seiner Expeditionen, die Trelawny in Auftrag gegeben hatte, entdeckte. Sieben Leuchten. Stammend aus der Grabkammer der Königin, die in die sieben Vertiefungen des Kästchens passen, dass die beiden in der Nähe ihres Sarkophags gefunden hatten, die ihm jedoch erst kürzlich aus seinem Hotelzimmer gestohlen wurden. Als die Dienerin Mrs. Grant diese wiederum im Wäscheschrank von Trelawnys Tochter findet, erhärtet sich der Verdacht gegen sie weiter. Wir erfahren von Corbeck überdies, dass Tera eine mächtige, in schwarzer Magie versierte Frau war, die von ihrem Vater sehr früh in ihr Amt als Königin eingeführt wurde. Und wie ihr Vater es vorausgesehen hatte, trachteten ihr feindlich gesinnte Priester danach, sie zu stürzen, da sie die Macht des Königstums auf sich übertragen wollten. So kam es, dass man ihren Namen aus der Geschichtsschreibung strich, allenfalls als die Namenlose findet sie noch Erwähnung, denn man glaubte, so hören wir:

„Wen die Götter nicht beim Namen rufen können, dem bleibt die Auferstehung auf ewig verwehrt.“

Tera war zudem im Besitz eines Rubinsteins in der Form eines Skarabäus, der so geschliffen wurde, dass das Licht sich in sieben Richtungen bricht, der ihr auch große Macht über die Götter verlieh. Und diesen Stein, den die beiden in ihrem Grab fanden – sie hielt ihn mit beiden Händen geschützt auf ihrer Brust über dem Herzen liegend – verwahrt Trelawny, der bis zum Schluss an der Entzifferung der Hieroglyphen in ihrem Sarkophag arbeitete, in seinem Tresor. Doch Tera hatte vorgesorgt, sich lebendig einbalsamieren und mumifizieren lassen. Sie plante ihre Auferstehung in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit, im Norden, unter dem Sternbild des Großen Wagens, das sich in der Anordnung der Vertiefungen des Kästchens wiederholt. Und Abel Trelawny war und ist, einem Diener gleich, gewillt ihrem Willen nachzukommen, ihr wieder ins Leben zu verhelfen.

Die wichtigste Information aber, die Dr. Corbeck den Anwesenden zu geben weiß, ist diese: Abel Trelawny öffnete das Grab Teras genau zur Zeit von Margarets Geburt in London, die seine Frau nicht überlebte.

Trelawny erwacht wieder und gibt selbst an, dass es die Tigerkatze war, die ihn angegriffen hat. Tera habe sie mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, um an das Amulett im Tresor zu kommen. Und da sich auch die Gestirne in der richtigen Position zur Erde befinden, nimmt die Geschichte ihren vorhersehbaren Lauf: Margaret spricht mehr und mehr in Worten Teras, was auch Malcolm bemerkt, der sich nicht mehr sicher ist, ob es noch ihre Augen sind, die er sieht, oder die einer anderen Frau. Die Mumie wird von ihren Binden befreit: Tera hat die Zeit offenbar gut überdauert. Zudem findet sich auf ihr liegend ein weißes Hochzeitsgewand. Die Leuchten werden in die Vertiefungen des Kästchens gesteckt, Zedernöl wird in sie eingefüllt, und auch das Amulett der sieben Sterne wird ihr wieder auf die Brust gelegt …

„Bring‘ mich ins Leben zurück! Vollzieh‘ das Ritual! Tu es! Jetzt! Es ist die Zeit.“

Margaret stöhnt, schreit, zittert. Alles taucht in einen dichten Nebel. Keiner sieht was eigentlich vor sich geht. Und als es sich wieder lichtet, findet sich überall Staub. Doch von Tera … : keine Spur. Einzig ihr Hochzeitskleid liegt zurückgeschlagen da, als ob ihr Körper, der darunter lag, aufgestanden wäre. Trelawny und Dr. Corbeck sind enttäuscht. Nur Margaret und Silvio wirken auf den Hörer durchaus in ihrem Wesen verändert.

Und so blieb, erzählt Ross, das Verschwinden der Königin ein Geheimnis. War sie wirklich nur zu Staub zerfallen?

Ross, der ebenso traurig darüber ist, dass Tera nicht zu einem neuen Leben, in einer neuen besseren Welt erwacht sei, in der ihr Herz schlagen dürfe, wird von Margaret mit folgender Antwort getröstet:

„Sei ihretwegen nicht traurig, Malcolm. Wer weiß, ob sie nicht doch fand, was sie suchte. Vielleicht übersteigt ihre Art der Auferstehung bloß unser bescheidenes Vorstellungsvermögen. Sie träumte ihren Traum und ich fühle, dass sie nun zufrieden und endlich zur Ruhe gekommen ist.“

Wie schon erwähnt, arbeitet Titania Medien hier mit der Fassung von 1912, einer, die ein glücklicheres Ende entwirft als das Original, das im Bastei Verlag unter dem Titel Die sieben Finger des Todes erschienen ist. Das mag daran liegen, dass Stokers Leser schon zu seiner Zeit, aufgrund der diffusen Story, verwirrt reagierten. Sie konnten nicht begreifen, blieben perplex zurück, auch weil sie ein Happy-Ending seiner Romane gewohnt waren. Denn im Original überlebt keiner außer Malcolm Ross, der am Ende der Auferstehungszeremonie im Nebel über einen Körper stolpert, von dem er glaubt, es sei Margarets. Die Treppe hinauf im Dunkeln, birgt er ihn in einer Halle. Geht jedoch noch einmal zurück, um Streichhölzer zu suchen, da es im ganzen Haus dunkel ist. Als er zurückkommt, findet er nur noch das Hochzeitskleid am Boden liegend, auf dem nun auf Herzhöhe der Ring funkelt, den die Klaue an einem der sieben Finger trug. Die Klaue, die ihre Opfer traktierte. Nicht etwa der verdächtige Perserkater Silvio oder, wie wir später in der alternativen Fassung erfahren, die Tigerkatze der Königin.

Eine Londoner Zeitung, The Saturday Review, schrieb:

„This book is not one to be read in a cemetery at midnight … but it does not quite thrill the reader as does the best work in this genre … It is due to Mr. Stoker to say that his wild romance is not ridiculous even if it fails to impress.“

Die Klaue muss weichen

Warum um Himmelswillen ist man nicht bei der Klaue geblieben? Zu abstrus und unfreiwillig komisch erscheint mir der Versuch einer Magierin, eine Katze dazu zu bewegen, einen ausgewachsenen Mann vor einen Tresor zu zerren, der den Schlüssel für diesen an seinem Handgelenk trägt. Wohlgemerkt: Mit Pfoten einen Schlüssel verwenden! Selbst dann, wenn es eine Tigerkatze ist. Das hätte mit einer Klaue doch viel besser funktioniert! Auch der kurze Hinweis auf die sieben Buchstaben des Kombinationsschlosses, die keiner kennt, führt ins Leere. Sieben Buchstaben. – O.k.. Denn mit der Zahl 7 können wir etwas anfangen. Aber was für Buchstaben? Das wird nie geklärt. Und auch überhaupt nicht weiter darauf eingegangen. Und welche Motivation hat eine Königin, die ihre Zeit, die von einem Patriarchat geprägt wurde, das sie zu unterdrücken versuchte, floh, ihre Lider in einem viktorianischen England – nicht gerade eine HochZeit für Frauen – wieder aufzuschlagen, um einen Anwalt zu heiraten, den sie gar nicht kennt? Denn – wir erinnern uns – all das wurde von ihr sorgfältig geplant. Ihr neues Leben unter dem Gestirn des Großen Wagens.

Was ist sie nun? Auferstanden? Oder ist es doch eine Art von Wiedergeburt, eine Reinkarnation, da ihre Graböffnung zeitlich mit der Geburt Margarets vonstatten lief? Wir wissen es nicht genau. Und darauf kommt es in diesem Fall ja auch nicht an. Genaues Wissen. Aber allzu Abstruses …?

Warum Warum Warum …

Warum hat Stoker?

Warum hat Titania Medien?

Offengestanden, ich kann es Ihnen nicht beantworten. Kann nur mutmaßen, dass man auf ein Happyend gesetzt hat (denn eines stand ja zur Auswahl), versucht hat die Atmosphäre der damaligen Ägyptomanie einzufangen. Und ich muss sagen: Ja, das ist gelungen! So funktionierte es für mich die ersten 15 Minuten. Dann aber hängt sich die Geschichte leider an ihrem Verlauf auf. Darüber kann Titania Medien mich nicht hinweg hören lassen. Ein wenig schade ist es, und doch Stoker in die Schuhe zu schieben, dass er mit seiner Tera, eine in ihrer Anlage doch starke Figur, die sehr in ihren Zügen an die historische Hatschepsut erinnert, nicht mehr anfangen konnte: Das gilt für beide Fassungen gleichermaßen, egal ob Stoker von Verlegern genötigt wurde, eine neue aufzusetzen, obwohl ich selbst doch die originale präferiere. Die mit der Siebenfingerklaue.

Ach ja, etwas kann ich Ihnen aber doch noch anbieten als alte Anagrammiertante:

Tera (grch. téras: Ungeheuer) kommt im Namen Margaret vor. In den letzten vier Buchstaben. Von rechts nach links gelesen.

Ob das nun ein Zufall ist oder eine Spinnerei meinerseits, …

… wer weiß das schon!

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Das Phantom der Oper (Hörspiel)

Phantom der Oper

Seit 1986 immer wieder aufgeführt, fällt einem eher der Name Andrew Lloyd Webber ein, als jener des tatsächlichen Urhebers. Der da hieß: Gaston Louis Alfred Leroux. Der ein französischer Schriftsteller und Journalist war, der seinen Roman Le fantôme de l’opéra 1910 schrieb. Der große Durchbruch dieses Werkes ist jedoch nicht allein Webber zu verdanken, der es gemeinsam mit Richard Stilgoe im Her Majesty’s Theatre in London zum ersten Mal auf die Bühne brachte, sondern auch Rupert Julian, der es schon 1925 über die Leinwand laufen ließ. Weitere Verfilmungen folgten bis heute. Veröffentlicht wurde das Das Phantom der Oper zum ersten Mal in Fortsetzungen in der Zeitung Le Gaulois vom 23. September 1909 bis zum 8. Januar 1910. Zudem existieren 4 Bühnenfassungen des Stücks.

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Das Gift / Samanta Schweblin

Das Gift
Das Gift

Dass das wirklich Monströse die Natur das Fremde und das Menschliche ist, daran hat uns der klassische Terror bereits gewöhnt: Wald und Dschungel fungieren als Versteck für all das, was von der Vernunft verdrängt wird, und Kinder sind der Anfang dieser Fremdheit. Wir finden dort, wo wir uns in Sicherheit wähnen, nichts anderes als die Warnung vor unserem Aussterben.

Diese längere Erzählung Samanta Schweblins, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund als ihr erster Roman gehandelt wird, ist die intelligente Variation des Klischees „äußeres Monster gleich inneres Monster“, das sich auf eine Strömung in der lateinamerikanischen Literatur bezieht, die dem kolonialen Diskurs der Unschuld der Landschaft (im Gegensatz zur Stadt) einen Schlag versetzen will. Amanda und ihre kleine Tochter verbringen einige Tage auf dem Land in einem Haus, das von Carla vermietet wird, einer attraktive Frau, deren Sohn David, nachdem er durch das Wasser eines Baches, von dem er trank, vergiftet wurde, und dann bei einer rituellen Heilung seine halbe Seele verloren hat. Aus dem Gespräch zwischen Amanda und David, einem Kind mit einer verstörenden Erwachsenenstimme, rekonstruieren wir den Moment, in dem Amanda die „Rettungsabstand“ (so heißt das Buch übersetzt im Original) verliert, mit der wir unsere Kinder schützen und tappen durch ein halluzinatorisches Dickicht.

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Grimscribe / Thomas Ligotti

Es gibt in unserer heutigen Zeit viele, die glauben, sie verstünden sich auf den echten „Horror“, aber ob sie unter dieser Flagge schreiben oder lesen: sie täuschen sich. Täuschen sich dann, wenn sie Ligotti entweder gar nicht kennen, oder keinen Zugang zu ihm finden. In der von „Handlung“ ausgehenden Welt der modernen Veröffentlichungsfabriken hat Spannung den Schrecken als primäre Komponente des modernen Horrors abgelöst.

Poe und Lovecraft zeigen in ihren besten Arbeiten, was Schrecken, was wirklicher Horror bedeutet. Thomas Ligotti und sein „pure horror“ ist der dritte im Bunde, der einzige Autor, der neben den beiden anderen Giganten Platz nehmen darf. In „Grimscribe – Sein Leben und Werk“ dürfen wir den Nervenkitzel des reinen, unverdünnten Schreckens noch einmal erleben. Allerdings ist es oft die literarische und philosophische Unkenntnis einiger Rezensenten, die Ligotti nach wie vor mit dem Lovecraft-Kosmos verbinden. Thomas Ligottis stilistische Bandbreite ist bemerkenswert und übertrifft bei weitem den limitierten Klang Lovecrafts (ohne dessen Einfluss schmälern zu wollen, der gerade in Ligottis Anfängen exorbitant vorhanden war). Was beide Autoren tatsächlich miteinander verbindet, sind die Weltanschauungen. Dazu gehört die Überzeugung vom Untergang der abendländischen Kultur (und in dieser Phase befinden wir uns gegenwärtig, wie leicht zu erkennen ist). Lovecraft als auch Ligotti sehen die Menschheit in einem sinnlosen Universum treiben, manipuliert von Mächten, die weder zu begreifen noch in irgendeiner Form zu nutzen sind. Wo Lovecraft jedoch trivial wird, unterstreicht Ligotti seinen intellektuellen Rang, was nicht zuletzt seiner gewaltigen philosophischen und literarischen Bildung zu verdanken ist (man denke nur, dass etwa „Cioran“ zu seinen gedanklichen Haupteinflüssen zählt).

Robert M. Price (u.a. Herausgeber von „The New Lovecraft Circle“) nennt Ligotti gar einen Gnostiker, was die intellektuell-philosophische Linie sogar noch unterstreicht.

Wieder einmal ist es Frank Festa zu verdanken, dass wir eines der wichtigsten Werke der modernen Horror-Literatur nun auch in deutscher Sprache vorliegen haben. All jene, die des Englischen nicht mächtig sind, sollten ihm auf Knien danken.

„Grimscribe“ ist der Name, den Ligotti seiner Stimme gibt, die Quelle seiner wunderbaren Prosa. Es handelt sich dabei nicht notwendigerweise um eine einzelne Person, sondern um eine bestimmte Art des Sehens, um eine Verbindung zwischen den dunklen, süßen Orten der Seele und der gedruckten Seite.

„Ich erkenne seine Stimme, wenn ich sie höre, denn stets spricht sie von schrecklichen Geheimnissen. Sie spricht von den bizarrsten Mysterien und Erlebnissen, manchmal mit Verzweiflung, manchmal mit Freude, und manchmal mit einer Laune, die sich jeder Beschreibung entzieht“,

erklärt er uns in der Einleitung; und zum Schluss: „Unser Name lautet GRIMSCRIBE. Das ist unsere Stimme.“

Das macht Grimscribe mehr zu einer Reihe von unheimlichen Chören als zu einer Sammlung miteinander verbundener Geschichten.

Es sind dies subtile Variationen über Finsternis, Verfall, Tod, und den Schrecken des Unbekannten.

Anders als die meisten der heutigen Horror-Autoren, die einen anatomischen Ansatz verwenden, hebt Ligotti seine Vorstellungen über Tod und Verfall auf die Ebene des Abstrakten, Akademischen und hüllt sie in eine delikate, elegante Sprache. Im Einklang mit dem hohen literarischen Ton seiner Prosa führt er die Grundideen der Stories in Richtung des leicht Anekdotischen, aber Ligottis Talent für den Wechsel des Ausdrucks sorgt dafür, dass diese Wechsel ebenso fesselnd wie elegisch sind.

In „Nethescurial“ erhält der Erzähler einen Brief von einem Freund, der auf ein beunruhigendes Manuskript gestoßen ist.

„Stellen Sie sich die gesamte Schöpfung als eine bloße Maske für das größtmögliche Böse vor, ein absolut Böses, dessen Realität allein durch unsere Blindheit ihm gegenüber gemildert wird, ein Übel im Herzen der Dinge … natürlich … wir müssen Distanz wahren zu solchen Gespenstern wie Nethesurical, aber das ist in der Regel durch das Medium der Worte schon gewährleistet … und doch scheint das Manuskript in dieser Hinsicht nur eine schwache Barriere zu bilden.“

Der Erzähler träumt sich in einen kafkaesken Bibliotheks-Alptraum, in dem er zu folgender Erkenntnis gelangt:

„Ich konnte auch sehen, was sich unter jeder Oberfläche windet, mein Blick durchdringt die übliche Rüstung der Objekte und erkennt in ihnen allen das gleiche heraussprudelnde Zeug, wo immer ich auch hinsehe …“

Ligotti erreicht seine Größe als Horror-Schriftsteller nicht zuletzt dadurch, wie er mit Bedacht auswählt, was er dem Leser zeigen möchte. Seine Prosa erreicht nahezu Perfektion und stärkste emotionale Kraft, wenn er ein Bild des Schreckens zeichnet, den Leser darauf hindeutet, dass es da etwas gibt, das er vielleicht nicht vollständig wahrgenommen hat.

Zu Grimscribe sagte der Meister selbst folgendes:

„Ich muss anmerken, dass ich mit Grimscribe begann, mich weiter und tiefer in symbolische Erzählungen und Landschaften zu wagen, während ich mich trotzdem an die für eine Horrorgeschichte typische „Realität“ halte. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich Das letzte Fest des Harlekin und Träumen in Nortown bereits geschrieben hatte, bevor meine erste Sammlung erschien.“

Das war 2011, als Grimscribe bei Subterranean Press erneut erschien, überarbeitet und mit Variationen versehen im Gegensatz zur 1991 bei Carroll & Graf erschienenen Urform.

Trotz der kultischen Verehrung, die Ligotti genießt, wird es noch dreißig oder vierzig Jahre dauern, bis man vollumfänglich zu schätzen weiß, wie Ligotti die Horrorliteratur um eine neuartige Dimension bereichert hat.

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Revival / Stephen King

Stephen Kings großartiger neuer Roman „Revival“ bietet das atavistische Vergnügen, in der Dunkelheit näher ans Lagerfeuer zu rücken, um einer Geschichte von jemandem zu lauschen, der genau weiß, wie er seinen Zuhörern eine Gänsehaut verschaffen kann, indem er ihnen zuflüstert: „Schau nicht hinter dich“.

King war immer großzügig, wenn es darum ging, die Autoren zu nennen, die ihn inspiriert haben. Diesmal nennt er Arthur Machens The Great God Pan (1894), eine der besten Fantasy-Geschichten, die je geschrieben wurden.

Es mag schwierig erscheinen, auf Anhieb zu beurteilen, was man von King in letzter Zeit zu erwarten hat. Galt er in den 70er Jahren noch als Meister des Horrors, so hat er dieses Etikett längst an eine jüngere Generation abgegeben und wird allgemein als „Chronist des amerikanischen Alltags“ anerkannt. Die Grotesken, die übersinnlichen Spinnereien etc. hat man ihm längst verziehen. King ist eindeutig im Mainstream angekommen, er erhält den Beifall des literarischen Establishments, über das er sich gerne lustig macht. Der große amerikanische Roman 11/22/64 war nicht der einzige Grund dafür, aber er hat geholfen. Die Meinung der literarischen Torwächter geht eindeutig dahin, dass King einer der ganz großen amerikanischen Erzähler wäre, wenn er nur auf seine exzentrischen Ausbrüche verzichten könnte. Im Umkehrschluss heißt das natürlich nichts anderes, als dass er es längst ist. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Harold Blooms unermüdlicher und scharfer Kritik an Kings Sprache und den feierlichen Adjektiven, die sich in den letzten zehn Jahren angesammelt haben, um Kings Bedeutung als Schriftsteller zu beschreiben.

Beides führte dazu, dass die Torwächter widerwillig anerkannt haben, den Kerl nicht einfach aussperren zu können.

King hatte schon immer mehr mit Ray Bradbury gemeinsam als mit Chuck Palahniuk, und er sitzt trotzdem komfortabel im Kanon der „amerikanischen Verrückten“ wie etwa David Lynch, hat indes eben wenig gemein mit dem einfach gestrickten Ergüssen eines Dean Koontz oder Wes Craven.

In Revival aktualisiert King Machens fin-de-siecle-Setting und den erotischen Subtext, in dem ein 17-Jähriges Mädchen aufgrund einer primitiv ausgeführten Lobotomie die Befähigung erhält, in die erschreckenden Abgründe zu blicken, die unserer Welt zugrunde liegen. „Revival“ öffnet sich an einem Ort, der unserer modernen Welt beinahe so fern ist wie Machens gaslichtbeschienenes London: dem ländlichen Harlow, Maine, in den frühen 60er Jahren. Jamie Morton, der Erzähler des Romans, erinnert sich an einen Vorfall, der geschah, als er sechs Jahre alt war, das jüngste von fünf Kindern einer ausgelassenen, großherzigen Kinderschar. Er ist draußen, spielt mit seinen Spielzeug-Soldaten, als ein Fremder auftaucht.

Der Fremde ist Charles Jacobs, der neue Pfarrer von Harlow, glücklich verheiratet mit einer hübschen Frau und Vater eines kleinen Kindes. Jacobs freundet sich schnell mit Jamie an (King lenkt hier sofort von jeder Anspielung auf Kindesmissbrauch ab, denn darum geht es nicht). In seiner Garage zeigt er dem Jungen ein Wunder: ein realistisches Tischmodell der Umgebung, mit einem echten Miniatursee und Strommasten. Mit einer Handbewegung erhellt Jacobs die Szenerie. Straßenlaternen leuchten auf, eine Jesusfigur wandelt über die Wasseroberfläche des Sees.

Jamie ist begeistert, auch als Jacobs das Geheimnis des scheinbaren Wunders lüftet: „Elektrizität“, sagt der Geistliche später, „ist eines von Gottes Toren in die Unendlichkeit“. Jamie wird zum Ersatzsohn für Jacobs, eine Rolle, die Jamie auch nach der Tragödie und dem Verschwinden Jacobs beibehält.

Alle Themen des Romans sind in dieser frühen Szene angelegt: das Tauziehen zwischen Wissenschaft und Glauben; die Fähigkeit eines guten Krämers, sei es ein Prediger oder ein Schausteller, eine Menschenmenge mit dem Versprechen auf Heilung in seinen Bann zu ziehen. Vor allem aber untersucht der Roman die Natur des Machtmissbrauchs, sei es durch Liebe, Religion oder durch Jacobs lebenslange Obsession: Elektrizität.

Wie so oft entwickelt King die Geschichte schleichend und mit viel Gefühl für seine Figuren. Viele von ihnen sind gezeichnet von Trauer und Verlust, von Abhängigkeit und Enttäuschung. Der Zahn der Zeit hinterlässt seine Spuren, nagt an der Jugendliebe ebenso wie an den einstigen Ambitionen. Der Detailreichtum von Jamies Kindheit in den 60er Jahren – Vanille-Schoko-Erdbeer-Eiscreme, der Geruch von Regenwürmern, ein halb gerauchter Joint, der in einer Zuckerdose versteckt wird, die Freuden, die das Erlernen des E-Gitarrenspiels bereitet, während Jamie sich auf eine Karriere als Sessionmusiker vorbereitet – ist wie immer bei King mit außergewöhnlicher Liebe zum Detail ausgearbeitet.

Glück ist bekanntlich literarisch schwer interessant darzustellen. Idyllen werden nur zu dem Zweck konstruiert, sie zu zerstören. Aber Kings Erzählung gibt die Sehnsucht nicht auf, um eine kaputte Welt zu verachten, in der Jamie wie wir alle leben muss.

Jahrzehnte nach Jacobs Verschwinden aus Maine, begegnen sich er und Jamie auf einem Jahrmarkt wieder. Der ehemalige Prediger überrascht seine Zuschauer dort mit elektrischen Kunststücken. Später, in seiner Garage, benutzt Jacobs seine geheime Elektrizität, um Jamie per Elektrokrampftherapie von seiner Heroinsucht zu heilen. Aber die beiden trennen sich, als Jamie die wahren Absichten seines ehemaligen Freundes erkennt. „All deine Kunden sind nichts weiter als Versuchskaninchen“, sagt Jamie. „Sie wissen es nicht. Ich selbst war ein Versuchskaninchen.“

Aber das war noch nicht ihre letzte Begegnung. Jamie findet sich in Jacobs bösartige Umlaufbahn gezogen. Er findet immer mehr heraus, was mit den Menschen geschah, die sich von Jacobs „heilen“ ließen, denn es kam zu verheerenden Nebenwirkungen.

Und hier beginnt sich der Roman mit Machens Meisterwerk zu verzahnen. Kings zurückhaltende Prosa explodiert förmlich in ein Ende, das modernen Realismus mit dem kosmischen Schrecken, der an H.P. Lovecraft und an den Filmklassiker „Das grüne Blut der Dämonen“, erinnert. Die quälende Beziehung zwischen Jamie Morton und Charles Jacobs erreicht die Trauerschattierung einer großen Tragödie.

Was dem Buch ebenfalls gut bekommt, ist, dass man, wie bei den letzten King-Veröffentlichungen, den Originaltitel beibehalten hat, anstatt wie in der Vergangenheit puren Schwachsinn zu fabrizieren.

Originaltitel: Revival
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 512 Seiten

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Das Rauchgespenst / Fritz Leiber

Fritz Leiber, bekannt durch seine Lankhmar-Geschichten, war einer der ersten Autoren, die das Horror-Genre aus seinem 19. Jahrhundert-Mief befreite und ihm neue, schwärzere Impulse gab. Viele seiner Geschichten haben ihr Zentrum in der modernen Welt und zeigen deren Gesicht in seiner ganzen Schäbigkeit, Abscheulichkeit und Ausbeutung. Themen wie Alkoholismus, Armut und Rassismus werden sachlich gehandhabt, während der Inhalt stets düster ist: Sand, Sediment, Schmutz sind als physikalische Substanzen vorherrschend.

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Die Tausend Träume von Stellavista / J. G. Ballard

Wer bereits mit Ballards Werk vertraut ist, der wird auch seine surreale Bildsprache bereits kennen: mutierte tropische Pflanzen, stillgelegte Flugzeuge und ein besonderes Korallenwachstum. Die Geschichten in dieser Sammlung stammen aus der letzten Phase seines Schaffens, als er noch als  exzentrischer “Science Fiction” – Autor betrachtet wurde, den man im Grunde gar nicht zuordnen konnte, denn Ballards Geschichten hatten nichts mit der konventionellen SciFi am Hut.

Die Figuren dieser grandiosen Erzählungen sind überwiegend Künstler und Alkoholiker, viele von ihnen körperlich verstümmelt, wie Raymond, ein ehemaliger Pilot, der wegen seines kaputten Beins nie wieder fliegen wird, (Die Wolkenbildner von Coral D), oder seelisch mitgenommen wie der Rechtsanwalt Howard in Die Tausend Träume von Stellavista. Die Protagonisten (die bei Ballard immer männlich sind – Doktoren, Wissenschaftler, Psychologen), sind füreinander Rätsel – und vielleicht auch für Ballard selbst – in ihrem Hass, Neid, den obsessiven Erschöpfungszuständen, ihren gebrochenen Persönlichkeiten und  Manien, die sie im Scotch ertränken.

So wie die Figuren gegenseitig Echos des anderen sind, zieht sich das Zerbrochene durch ganz Vermillion Sands, dem Wüstenkurort der ausgefallensten Träume der Reichen. Der Verfall geht langsam aber stetig vor sich und spiegelt sich in Ballards Prosa. Obwohl wir es hier mit Erzählungen zu tun haben, die einem klassischen Schema folgen, wird die Handlung nicht vorwärts getrieben, sondern stagniert. Der offensichtliche Einfluss des Surrealismus auf Ballards Werk äußert sich allerdings nicht in Wortspielen und Sprachexperimenten (obwohl es diese in anderen Arbeiten Ballards durchaus auch gibt), offenbart sich stattdessen in der bildreichen Ausdruckskraft. Man denkt gelegentlich an Max Ernst oder Yves Tanguy.

Die Geschichten spielen sich alle vor dem Hintergrund exzessiver Langeweile ab, es herrscht die Lethargie des Hochsommers, wir befinden uns in einer Zone kollabierter Zeit, viele Figuren leiden unter Strandmüdigkeit, einer dekadenten Mattheit, die Ballard eigens für seine Protagonisten erfunden hat, die aber ohne große Schwierigkeiten auf die Mittelschicht von heute angewendet werden kann.

Vermillion Sands ist bevölkert von Schmarotzern, Geschäftemachern, Sykophanten und Pseudokünstlern. Man trägt lebende Kleidung, deren Farbe und Textur sich ständig verändert; tönende Skulpturen wachsen aus dem Boden, und empfindsame Pflanzen reagieren auf die Töne der Musik, psychotropische Häuser passen sich den Stimmungen ihrer Bewohner an und werden von deren Neurosen in den Wahnsinn getrieben. Der allgegenwärtige Langeweile versucht man durch unheimliche Spiele zu entgehen. Es ist nicht verfehlt, zu behaupten, Ballard hat in der Literatur den Status inne, den Dali mit seiner Malerei erreicht. Wir befinden uns in den Tiefen der Traumsubstanz, und die verrückten Bilder sind uns nicht ganz fremd, weil sie sich in unserem Unterbewusstsein befinden; sie haben den Charakter einer archetypischen Symbolsprache.

Bouquinist

Das Unendlichkeitsprinzip

Mallarmé hat das Lesen immer wieder in ganz prägnanter Weise zum Thema gemacht. Er hat für die Poesie demonstrativ ein Geheimnis reklamiert und ihre Rezeption einer Extensivierung und Beschleunigung der Lektüre gegenübergestellt. Mallarmé kämpfte als Dichter auf verlorenem Posten um Resonanz bei einem bürgerlichen Publikum, das er bereits zu einem großen Teil an die Massenpresse und die wohlfeile Feuilletonliteratur verloren hatte. Er wies darauf hin, dass die Zweckorientiertheit eine ganz spezifische Lesehaltung einübe: die Sprache wird nur mehr als Instrument wahrgenommen und die Texte auf ihren Informationsgehalt reduziert. Dadurch würden Lesetechniken und Lesehaltungen verdrängt, die poetische Texte eigentlich fordern: ein Lesen, das den Zeitaufwand der Lektüre und ihren Nutzwert nicht gegeneinander aufrechnet, das das Geschriebene nicht auf einen konkreten Sinn hin festzunageln sucht und das einen gewissen Respekt der Sprache und dem eigenwilligen oder abseitigen sprachlichen Ausdruck gegenüber voraussetzt. Wer die Poesie liebt, könnte man folgern, hat Zeit.

Von hier aus gelängen wir schnell zu Borges, der einmal sagte, dass man sich ein Buch wie die Ilias oder die Komödie hernehmen und allein ein Leben mit der Lektüre dieses Buches zubringen könnte, weil darin alles enthalten sei. Das gilt natürlich insbesondere für die Lyrik Mallarmés.

In diesem kurzen Vorspiel zeigt sich die Romantik von ihrer stärksten Seite. Mallarmés hermetischer Symbolismus als auch Borges‘ „Unendlichkeitsprinzip“ tragen die aufgegangene Saat ins 20te Jahrhundert hinein, ausgehend davon nämlich, dass bereits Schlegel und Novalis einen Entwurf des Lesers einer romantischen, d.h. „unverständlichen“ Literatur durchaus auf Langsamkeit und Wiederholung anlegten. Freilich reagierte man hier mit einer Abgrenzung gegenüber der unüberschaubar gewordenen Buchproduktion mit der Forderung einer statarischen anstelle einer cursorischen Lektüre, in dem man diese zur Voraussetzung der erfolgreichen Entzifferung ihrer Texte erklärte. Bis zum heutigen Tage ist die im 18ten Jahrhundert beginnende Massenschwemme nicht zum Stillstand gekommen. Daher ist es keineswegs verwunderlich, dass diese Abgrenzung heute von einem zwar noch kleineren Kreis, dafür aber vehementer denn je – nicht wieder, sondern immer noch – ihr Recht einfordert.

Aber diese „Abgrenzung“, also der romantische Versuch, die Rationalisierungsschübe des ausgehenden 18ten Jahrhunderts – die Mechanik naturwissenschaftlicher Weltbilder sowie den analytischen Rationalismus der Philosophie – mit ganzheitlichen Vorstellungen zu überwinden, können vor diesem Hintergrund als Kompensationen verstanden werden. Trotz des bis heute nicht verklungenen Beharrens auf einem substantiellen Zusammenhang von Ich und Welt, Mikro- und Makrokosmos, Natur und Geschichte, darf man jedoch nicht vergessen, dass sich diese ästhetische Einheitsvision allenfalls mit der Kunst als Medium verwirklichen lässt. Man muss kaum erwähnen, dass, wenn diese „Einheit“ einer ästhetischen Differenz untersteht, dadurch bereits ein neuer Bruch auf den Fuß folgt – nämlich zwischen literarischer Differenz und erstrebter, aber immer nur momentan zu erreichender Identität.

Über 200 Jahre tobt bereits der Zweck gegen das Ganze. Der Grund, warum der Zweck so stark ist, liegt an seiner Massenorientierung und seiner völlig ausgereizten Effizienz. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob dabei alles in die Katastrophe steuert, weil die Lügen- und Manipulationsmaschinerie der Materialisten reibungslos funktioniert, die uns zu Land, Wasser und in der Luft – und mittlerweile auch im Äther „unterhaltsame Durchhalteparolen“ rund um die Uhr liefern.