End of Story / A.J. Finn

Seit seinem fulminanten Debüt haben viele von uns gespannt darauf gewartet, was A. J. Finn in seinem zweiten Roman veröffentlichen würde. Finns erstes Buch –The Woman in the Window – war in jeder Hinsicht ein Erfolg. Es eroberte die literarische Welt im Sturm und erreichte schnell den Status von Gone Girl. Es führte viele Menschen, die sich selbst als Gelegenheitsleser bezeichneten, in die Liebe zu psychologischen Thrillern und mörderischen Wendungen ein. Sein zweiter Roman erschien Anfang 2024, und ich fand, dass End of Story eine andere, aber nicht weniger spannende Richtung für Finn darstellt. Sein erstes Buch war in jeder Hinsicht ein psychologischer Thriller mit kommerzieller Anziehungskraft, sein zweites Buch ist ein literarischer Thriller mit professioneller Planung, der Finns schriftstellerisches Talent unter Beweis stellt.

Nach dem sensationellen Erfolg seines Debüts konnte es nicht ausbleiben, dass sich Schmarotzer an seine Verse hefteten, was zu einer regelrechten Schmutzkampagne gegen ihn führte, die 2019 im New Yorker abgedruckt wurde. Aber das soll uns hier nicht interessieren, weil es eigentlich uninteressant ist. Konzentrieren wir uns lieber auf ein Buch, das beweist, dass Finn eines der größten literarischen Talente unserer Zeit ist. Wenn Sie sich jemals gefragt haben, welche Bücher zeitgenössischer Autoren in fünfzig oder hundert Jahren als Klassiker gelten werden, dann ist End of Story mit Sicherheit eines davon.

Der skandalträchtige Autor

Die Geschichte beginnt damit, dass der berühmte, zurückgezogen lebende Schriftsteller Sebastian Trapp die Journalistin Nicky Hunter in sein imposantes gotisches Herrenhaus in San Francisco einlädt. Der berühmte Krimiautor erzählt ihr, dass er im Sterben liegt und sich jemanden wünscht, der seine Geschichte erzählt, bevor er stirbt. Nicky ist erstaunt über diese Bitte, obwohl sie und Sebastian seit Jahren miteinander korrespondieren. Er sucht jemanden, von dem er weiß, dass er seiner Geschichte gerecht werden kann und der mit guten Absichten an das Buch herangeht.

Trapp ist vor allem für seine spannenden Kriminalromane bekannt, in denen ein Detektiv namens Simon St. Jones auftritt, der in mancher Hinsicht – wenn auch nur andeutungsweise – an Hercule Poirot erinnert. Trapp wird von Literaturkritikern als „Meister der Täuschung“ bezeichnet, weil er seine Krimis grandios konstruiert und gut getimte Wendungen einbaut, die den Fall erst richtig spannend machen. Und obwohl Trapp vielleicht am besten für seine Bestseller-Krimis bekannt ist, umgibt ihn eine große Tragödie und ein Skandal, der vielleicht noch mehr im Vordergrund steht.

Zwanzig Jahre zuvor waren Trapps erste Frau Hope und sein Sohn Cole verschwunden. Noch bizarrer: Sie verschwanden in derselben Nacht an zwei verschiedenen Orten. Mutter und Sohn wurden für tot erklärt, da es keine neuen Hinweise gab. Nach dem schockierenden Verschwinden der beiden schossen Gerüchte und Spekulationen ins Kraut. Die Gerüchte verdichteten sich, als Sebastian kurz nach dem Verschwinden seine zweite Frau Diana heiratete, die vor Hopes Verschwinden seine Assistentin gewesen war.

Die bizarre Villa

Nicky zieht in die bizarre und oft unheimliche Villa, während sie an Trapps Geschichte arbeitet. Im Haus leben seine zweite Frau Diana, sein Neffe Freddy und seine Tochter Madeleine. Dianas Coolness wird nur noch von Madeleines verbitterter und kämpferischer Art und Freddys übertriebener Freundlichkeit übertroffen. Als Nicky beginnt, in Sebastians Vergangenheit zu graben, ist klar, dass sie auf Widerstand stoßen wird. Als jemand ermordet wird, wird Nicky in einen Kriminalfall verwickelt, der auch in einem von Sebastians Krimis spielen könnte. Seit zwei Jahrzehnten fragt sich die Welt, ob Sebastian in der Nacht, als seine Frau und sein Sohn verschwanden, ein perfektes Verbrechen begangen hat. Jetzt fragt sich Nicky, ob es einen Mörder gibt, der Sebastians Geschichte geheim halten will, oder ob Sebastian ein zweites perfektes Verbrechen begangen hat?

Einer der beeindruckendsten Aspekte von End of Story ist die Tatsache, dass der Leser über die wahre Natur des Geheimnisses im Unklaren gelassen wird. Wie Nicky betreten wir die dunkle Villa von Sebastian Trapp, ohne zu wissen, was uns erwartet und was der wahre Grund für unsere Einladung ist.

Der Spannungsaufbau

Während The Woman in the Window fast von der ersten Seite an Spannung aufbaut, ist es bei End of Story genau umgekehrt. Es ist eine Spinne, die uns unbemerkt in ihr Netz lockt. Erwarten Sie nicht, dass Sie auf den ersten hundert oder so Seiten verstehen, in was für einer Geschichte Sie sich befinden. In der weiten Landschaft der psychologischen Spannungsromane, die sich auf haarsträubende Wendungen, seifige Beziehungen und recycelte Tropen stützen, setzt sich End of Story mit seinem raffinierten Plot und seinem kunstvoll ausgeklügelten Geheimnis, das mit einer perfekt getimten Wendung aufwartet, kühn an die Spitze.

Neben subtiler Provokation und kühner Intelligenz bietet End of Story auch ergreifende Prosa, die ebenso unerwartet wie erfrischend verspielt und witzig ist. Wie schon in Woman in the Window steckt das Buch voller Anspielungen auf große Krimis und berühmte Detektivromane, die sich nahtlos in die Erzählung einfügen. Der erste Teil des Buches ist vor allem dem Aufbau der Atmosphäre und dem Umfeld von Sebastian Trapp und den Geheimnissen, die ihn wie ein Schatten verfolgen, gewidmet. Unheimliche Gestalten und unheimliche Ereignisse beginnen sich zu häufen, bis die wahre Natur des Geheimnisses mit erschreckender Realität enthüllt wird.

Finn hat einen ausgeprägten schriftstellerischen Instinkt. Er ist in der Lage, sich von vielen großen Schriftstellern der Geschichte (Arthur Conan Doyle, Agatha Christie) inspirieren zu lassen und einen Kriminalroman zu schreiben, der so spannend wie diese sein will und kann (was vielen Autoren nicht gelingt). Die Charaktere sind alle gut ausgearbeitet und entwickeln sich im Laufe des Romans vor den Augen des Lesers.

Viele Autoren haben Schwierigkeiten, wirkungsvolle Bösewichte zu schaffen. Ihre Bösewichte treten entweder zu früh oder nicht früh genug in Erscheinung, so dass ihre Identifikation als Bösewicht im Widerspruch zu ihrer Darstellung im Rest des Buches steht. Bei Finn ist es genau umgekehrt. Jeder Charakter ist komplex und vielschichtig. Wenn neue Eigenschaften enthüllt werden, wirken sie so authentisch, dass die Auflösung der letzten Geheimnisse einen starken Eindruck hinterlässt. Das Ende der Geschichte ist, dem Titel entsprechend, schicksalhaft und brillant. Es ist ein Ende, das man nicht kommen sieht, das aber die gesamte Leseerfahrung auf eine Weise neu gestaltet, die absolut Sinn macht.

Rezensiert für Blanvalet.

Acht perfekte Morde / Peter Swanson

Der Plot ist wie geschaffen für Bücherwürmer: Ein Buchhändler wird vom FBI angeheuert, um als Experte eine Reihe von rätselhaften Morden zu lösen. Als Malcolm Kershaw vor Jahren als neuer Buchhändler in einer auf Krimis spezialisierten Buchhandlung in Boston anfing, wurde er von seinem damaligen Chef gebeten, auch Inhalte für den Blog des Ladens zu erstellen. Als langjähriger Leser des Genres beschloss Malcolm, einen Blogbeitrag zu verfassen, in dem er acht perfekte Morde aus der Kriminalliteratur auswählte, von Verbrechen, die von Agatha Christie und Ira Levin bis hin zu Patricia Highsmith und Donna Tartt konzipiert wurden. 

Seine Liste blieb weitgehend unbeachtet – aber er hatte auch nicht damit gerechnet, dass ein Buchladen-Blog im Internet viel Aufmerksamkeit erregen würde. Stellen Sie sich also vor, wie überrascht Malcolm ist, als Jahre später, an einem verschneiten Tag in Boston, eine FBI-Agentin vor der Tür der Buchhandlung steht. Diese Agentin kommt mit einer Peter Swanson)bizarren Nachricht: Malcolms Fachwissen wird bei einer Reihe von ungelösten Morden benötigt. Sie hat nämlich eine Vermutung. Sie glaubt, dass einige unerklärliche Morde, die sich in letzter Zeit ereignet haben, durch eine seltsame Gemeinsamkeit verbunden sind: Sie scheinen alle mit den „perfekten“ Morden übereinzustimmen, die Malcolm vor Jahren in seinem Blogpost beschrieben hat. Malcolm ist gleichermaßen entsetzt und fasziniert – schließlich sind diese Verbrechen zwar schrecklich, aber gibt es für einen Krimileser etwas Faszinierenderes als die Möglichkeit, mit seinem Buchwissen zur Lösung eines realen Verbrechens beizutragen? Malcolm sagt seine Hilfe zu und beginnt eine Reise zurück in die dunklen Herzen der Bücher, über die er vor Jahren geschrieben hat … und hinunter in den Kaninchenbau zu einem verworrenen, atemberaubenden Mordfall im echten Leben.

Ein großartiger Kriminalroman braucht einen großartigen Protagonisten, der die Geschichte trägt, und genau den präsentiert Swanson mit Malcolm Kershaw. Es gibt hier einen Abschnitt, in dem Swanson den Lesern einen Einblick in Malcolms inneren Dialog gewährt, wo er über die Erwartungen nachdenkt, die ihm seine lebenslange Besessenheit vom Krimi-Genre beschert hat, und darüber, wie diese Erwartungen in seinem Leben als Erwachsener erfüllt (oder nicht erfüllt) wurden. Es sind einfache (und oft zum Totlachen komische) Beobachtungen, und Swanson stellt dadurch eine Verbindung zu jenen Eingeweihten her, die ihr Leben lang eine Leidenschaft für dieses Genre pflegen. Jeder Krimiliebhaber wird es lieben, Malcolm zu folgen, wenn er aus seiner Bücherwurm-Komfortzone heraustritt und sich auf eine verworrene Reise begibt, um die Wahrheit hinter einer Reihe unerklärlicher Verbrechen aufzudecken.

Was als Geschichte über Krimis beginnt, entwickelt sich zu einem wirklich fesselnden Thriller. Auch wenn ich dieses Buch nicht unbedingt jedem empfehlen würde, der auf der Suche nach einem „spannenden Thriller“ ist (klassische Krimis spielen in diesem Roman eine wichtige Rolle, und nur wer das Genre zu schätzen weiß, wird diesen Roman in vollen Zügen genießen können). Besser noch: Alle Wendungen, die diese Geschichte nimmt, sind fair. Swanson lässt alle Brotkrümel fallen, die man braucht, um hinter das Geheimnis zu kommen, aber trotzdem wird man die endgültige Lösung nicht kommen sehen.

Penguin

Hinter diesen Türen / Ruth Ware

Etwas schade ist, dass in der deutschen Übersetzung – wie so oft – die Anspielung auf den literarischen Stoff verloren geht. In diesem Fall verbirgt sich hinter der Übersetzung „Hinter diesen Türen“ das Original von „The Turn of the Screw“ in Form von „The Turn of the Key“. Es mag sein, dass ich immer wieder zu sehr auf unsere fragwürdigen Titel eingehe, andererseits möchte ich nicht darauf verzichten, ein wenig auf Genauigkeit zu bestehen, zumal es sich, wie gesagt, längst nicht mehr um Einzelfälle handelt.

Wie dem auch sei, schauen wir uns einfach an, was wir hier vor uns haben.

Kombiniert man die malerische Abgeschiedenheit der schottischen Highlands mit der klaren, schnittigen Modernität eines „Smart House“, hat man sofort das Bild des Schauplatzes vor Augen, mit dem Ruth Ware hier hantiert. Es versteht sich von selbst, dass in den meisten guten Kriminalgeschichten der Schauplatz eine eigene Persönlichkeit und einen eigenen Charakter hat. Das mag auch für andere Genres gelten, aber im Mystery-Genre ist dieser Aspekt einer der wichtigsten.

Zurück zum Anfang: Ware schreibt hier eine moderne Nacherzählung der klassischen Geisterhausgeschichte von Henry James, hält sich aber nur in den Grundzügen an diese Erzählung, gibt ihr also ein völlig modernes und eigenständiges Gewand.

Heatherbrae House ist eine bezaubernde Mischung aus Alt und Neu; das stattliche Gebäude wurde mit allen Annehmlichkeiten der heutigen Technik und des Komforts modernisiert, hat aber dennoch den Charakter und die Geschichte seiner Vergangenheit bewahrt. Für Rowan Caine ist Heatherbrae House eine traumhafte Gelegenheit, sich finanziell zu etablieren und dem Stress des Alltags zu entfliehen. Eine Anstellung als Kindermädchen in diesem luxuriösen Anwesen – ganz zu schweigen von dem enormen Gehalt – ist ein wahr gewordener Traum. Doch wie in jedem guten Krimi ist auch in Heatherbrae House nicht alles so, wie es scheint. Das Konzept ist zwar bekannt, aber in den meisterhaften Händen von Ware wird die Geschichte zu etwas völlig Neuem und Brillantem. Heatherbrae House vereint das Beste aus Schauerromantik und postmoderner Paranoia. Das Haus hat sowohl eine dunkle Geschichte, die Rowan befürchten lässt, dass es dort spukt, als auch eine „Big Brother“-Qualität, die Rowan befürchten lässt, dass jeder ihrer Schritte nicht nur von der dunklen Energie des Hauses, sondern auch von moderner Technologie überwacht wird. Es gibt nicht viele Autoren, die Altes und Neues so authentisch und nahtlos miteinander verbinden können, aber Ruth Ware ist diese fesselnde Kombination wirklich gelungen.

Hinter diesen Türen ist keine besonders gewalttätige oder offensichtlich düstere Geschichte, aber Ware gelingt es hervorragend, eine atemberaubende Spannung in den Feinheiten und Verwicklungen der Handlung dieses Romans aufzubauen. Von Anfang an weiß der Leser, dass die Dinge für Rowan nicht gut ausgehen werden … sie werden sogar so schlecht ausgehen, dass Rowan sich schließlich in einer Gefängniszelle wiederfindet, wo sie auf den Prozess wegen des Todes eines Kindes wartet, das sie betreut hat. Aber wie konnte so viel Unheil in diese Idylle kommen? Es braucht schon eine besondere Geschichte, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln, wenn der Ausgang von Anfang an bekannt ist, und genau so eine Geschichte schreibt Ruth Ware hier.

Die Schönheit der Highlands, die offensichtliche Großzügigkeit von Rowans neuen Arbeitgebern, die unglaublichen Annehmlichkeiten, die Rowan in ihrem neuen Zuhause vorfindet – Ware zeichnet ein wahres Traumszenario für ihre Protagonistin. Doch mit der Zeit bauen sich Spannungen und Misstrauen auf. Die Kinder in Rowans Obhut erweisen sich als schwieriger als erwartet, und ihre neuen Arbeitgeber verlassen das Haus für Wochen, so dass Rowan auf sich allein gestellt ist. Als sich in dem Haus seltsame und unerklärliche Dinge ereignen, beginnt Rowan, die Geschichte des Ortes zu erforschen – und was sie dabei entdeckt, deutet auf eine dunkle Vergangenheit und das mögliche Böse hin, das noch heute in dem Haus lauert. Und die Technologie, die das Leben im Haus so angenehm wie möglich machen soll, bedeutet, dass jeder Schritt von Rowan überwacht wird. Nach und nach offenbart sich, dass Rowan auf dem Weg in die Tragödie ist.

Ruth Ware hat uns hier eine weitere komplexe und fesselnde Protagonistin geschenkt. Im Gegensatz zu den Protagonisten früherer Ware-Romane, die etwas zu viel getrunken zu haben schienen und nie ganz bei Sinnen waren, ist Rowan eine äußerst scharfsinnige und kluge Frau – eine Frau, deren Einfallsreichtum sich im unerbittlichen Finale des Buches auf geradezu schockierende Weise offenbart. Rowan ist in vielerlei Hinsicht ein durchschnittlicher, nachvollziehbarer Mensch, der in unvorstellbare Umstände gerät. Ihre Glaubwürdigkeit ist das Fundament des Romans und macht die bizarren und erschütternden Ereignisse, die ihr in Heatherbrae House widerfahren, nur noch unheimlicher. Rowan scheint nicht die Art von Frau zu sein, bei der die Fantasie mit ihr durchgeht… Wie lassen sich also die Schritte erklären, die aus dem verschlossenen und mit Brettern vernagelten Dachboden des Hauses zu ihr dringen?

Von Anfang an wissen wir, dass Rowan im Zusammenhang mit dem tragischen Tod eines ihrer Kinder verhaftet wurde. In Hinter diesen Türen erzählt Rowan ihre Version der Geschichte – was wirklich passiert ist und wer ihrer Meinung nach für die Tragödie verantwortlich ist. Ruth Ware wird oft als moderne Agatha Christie bezeichnet, und nirgendwo trifft dies mehr zu als in der Präzision und Raffinesse der Handlung dieses Romans. Wie gewohnt hat Ruth Ware hier einen weiteren herausragenden Spannungsroman vorgelegt, der ihre Fans ohnehin begeistern dürfte.

Der Tod der Mrs Westaway / Ruth Ware

Die britische Autorin Ruth Ware befindet sich in guter Gesellschaft. Ihre Mystery- und Thriller-Romane wurden bereits mit Krimiautorinnen des Golden Age wie Agatha Christie, Josephine Tey und Dorothy L. Sayers verglichen. Ihre früheren Romane – Woman in Cabin 10, In einem dunklen, dunklen Wald und Wie tief ist deine Schuld – basieren auf klassischen Krimimustern und handeln von Frauen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befinden.

Dieses Konzept hat sie im vorliegenden Roman verändert. Hier schreibt sie über eine Protagonistin, die sich absichtlich in eine trügerische Situation begibt. Es geht um Geld und es geht um eine sehr seltsame Erbschaft.

Eine Ode an die gute alte Zeit der Kriminalromane

Mit dieser modernen Spannungsgeschichte in Gothic-Atmosphäre beweist Ware ihre große Fähigkeit, Vergangenheit und Gegenwart zu verschmelzen, und liefert einen zeitgemäßen Kriminalroman mit einer tiefen Verbeugung vor den großen Klassikern. Der Tod der Mrs. Westaway ist unter all ihren Titeln sicherlich eine der wirkungsvollsten Reminiszenzen an die große Zeit des Kriminalromans, denn der Roman bietet nicht nur eine Agatha-Christie-Handlung, sondern auch eine absolut fesselnde Atmosphäre. Alles ist da: Familiengeheimnisse und natürlich ein stattliches Herrenhaus. Ruth Ware versteht es, diese klassischen Motive für ihre eigenen Zwecke zu nutzen; hier ist es der Hauch von Daphne du Mauriers Rebecca, der im Prolog, einer Meditation über Elstern, anklingt.

Wie du Maurier stellt auch Ware Fragen nach dem Wo und Warum. Die im Prolog beschriebenen Elstern sind allgegenwärtig und beunruhigend. Ware bezieht sich dabei auf „One for Sorrow“, ein traditionelles Kinderlied.

Der Volksmund sagt, dass „die Anzahl der Elstern, die man sieht, darüber entscheidet, ob man Pech oder Glück im Leben haben wird.“

Hal (Harriet) Westaway ist eine Waise, die als Madame Margarida in einem heruntergekommenen Kiosk am Brighton Pier Tarotkarten legt. Sie lebt in ärmlichen Verhältnissen und weiß kaum, wie sie über die Runden kommen soll. Es ist November, die Besucherzahlen sinken, die Nächte sind kalt und dunkel. Schlimmer noch, sie schuldet einem Geldverleiher Geld, das ihre Existenz und ihre persönliche Sicherheit bedroht. Da erhält sie überraschend einen Brief, der ihr eine enorme Verbesserung ihres Lebens verspricht. Ein Anwalt lädt sie zur Testamentseröffnung nach Penzance ein.

In den Jahren seit dem Tod ihrer Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, ist Hal zu einer ziemlich abgebrühten jungen Frau geworden, die hart sein muss, um zu überleben. Ihr Überlebensdrang hat sie dazu gebracht, sich als Hochstaplerin nach Penzance zu begeben, denn sie weiß, dass sie nicht die gesuchte Erbin sein kann und dass es sich offensichtlich um eine Verwechslung handelt. Doch natürlich steckt mehr hinter dem Brief des Anwalts, als sie ahnt.

Das eigentliche Rätsel ist Hal. Was verbindet sie mit einer Gruppe scheinbar Fremder, die sie zum ersten Mal auf einer Beerdigung trifft? Hals Leben und ihre Lebensumstände – sowohl vor als auch nach dem Erhalt des Anwaltsbriefs – sind düster, geheimnisvoll und traurig, nur gelegentlich von flüchtiger Freude durchbrochen.

Ihre Arbeit ist das einzige, was sie mit ihrer verstorbenen Mutter verbindet – und es ist auch die Arbeit, die Hal einige sehr wertvolle Fähigkeiten vermittelt hat, die sich bald als nützlich erweisen, als sie sich in die Familie einschleicht und vorgibt, jemand zu sein, der sie nicht ist.

Zusammen mit der geheimnisvollen Atmosphäre und den Intrigen, die Hal mit ihren Tarotkarten anzettelt, ergibt dies ein spannendes und fesselndes Lesevergnügen. Obwohl Hal nicht an die Echtheit ihrer Karten glaubt, entwickelt sich ihre Beziehung zu ihnen – und zu dem Familienerbe, das sie repräsentieren – im Laufe des Romans auf eindrucksvolle und fesselnde Weise. Hals Kartenlesungen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch, markieren wichtige Momente in ihrem Leben und verbinden sie immer mehr mit ihrer Mutter.

Es wäre unmöglich, dieses Buch zu besprechen, ohne das untrügliche Gefühl für den Ort zu erwähnen, das Ware hier geschaffen hat. Das gotische Herrenhaus, das im Mittelpunkt dieses Buches steht, ist ebenso beeindruckend wie die Geheimnisse, die es birgt. Ware ist es hervorragend gelungen, das Haus zu einem eigenständigen Charakter zu machen, voller Persönlichkeit und beunruhigender Erinnerungen, die ihm eigen sind. Obwohl es sich technisch gesehen nicht um einen Krimi mit einem verschlossenen Raum handelt, sind viele Elemente genau so angeordnet: Das Buch hat eine begrenzte Anzahl von Charakteren, und es gibt viele Momente, in denen sie relativ abgeschottet von der Welt daran arbeiten, lange verborgene Familiengeheimnisse aufzudecken. Es handelt sich nicht um eine gewalttätige oder actiongeladene Geschichte, sondern um eine ruhig dahinfließende Erzählung, die ihre Energie und Spannung aus der Auflösung der Bande bezieht, die eine dysfunktionale Familie zusammenhalten. Vom Schauplatz über die Protagonistin bis hin zur nachdenklichen Atmosphäre ist Der Tod der Mrs. Westaway ein Paradebeispiel dafür, wie man auch heute noch gute Geschichten erzählen kann.

https://www.dtv.de/ruth-ware

Der Opiummörder / David Morrell

David Morrell hat in seinen drei De Quincey-Romanen den historischen Kriminalroman unendlich bereichert. Nicht nur, dass sie zum besten zählen, was es auf dem Sektor des viktorianischen London zu lesen gibt, es ist auch eine Meisterleistung der Recherche. Vater und Tochter De Quincey werden im Grunde nur von Sherlock Holmes selbst übertroffen, mit dem einen Unterschied, dass es De Quincey wirklich gab.

Mord als große Kunst

Thomas De Quincey war einer der intelligentesten Autoren, die England je hervorgebracht hat. Im gewöhnlichen Lesebetrieb ist er heutzutage allerdings nicht mehr so bekannt wie etwa Baudelaire oder andere dekadente Autoren. Seine „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ von 1822 gehören dennoch zu jenen Büchern, die man gelesen haben sollte, und dabei ist es völlig unerheblich, was sonst noch auf dieser Liste stehen mag.

De Quincey bemühte sich nach Kräften, dem Opium zu widerstehen, konnte es aber nicht, weil es ein so wirksames Schmerzmittel war und er unter zahlreichen körperlichen Beschwerden litt. Seine psychologischen Theorien kamen über ein halbes Jahrhundert vor Freud auf den Markt (ähnlich früh war nur Poe, der allerdings auch von De Quincey beeinflusst war). Er war es, der den Begriff „Unterbewusstsein“ erfand und er war es, der zum ersten Mal über Alptraum-Horror schrieb, unter der Prämisse, dass jeder eine schreckliche und fremdartige Version von sich selbst in einer verschlossenen Kammer seines Geistes vorfinden kann.

David Morrell hat nun einen genialen Schachzug gemacht und De Quincey in eine ganze Reihe historischer Persönlichkeiten gestellt, die als Ermittler fungieren. Man kann das fast schon als einen eigenen Zweig sowohl der historischen Romane als auch des Kriminalromans ganz allgemein sehen. Geht es um das Viktorianische London, ist die Figur des Sherlock Holmes so dominierend, dass es schwer fällt, eine Figur der damaligen Zeit zu finden, die ihm das Wasser reichen kann. Graham Moore ist dem ausgewichen, indem er Arthur Conan Doyle und Bram Stoker auf Ermittlungsreise schickte.

Thomas De Quincey

Aber Morell hat De Quincey gefunden, und tatsächlich ist es ganz unerheblich, ob man ihn bereits kennt oder nicht; man wird ihn kennen lernen. Dabei hält sich David Morrell so nahe an die Biographie des exzentrischen Mannes, wie es geboten erscheint, ohne sich in seiner Fabulierlust einschränken zu müssen, denn David Morrell begnügt sich nicht einfach mit dem Schriftsteller allein; selbst die von ihm dargestellten Morde haben einen grausamen Hintergrund, der einige Jahrzehnte vor Jack the Ripper für Panik in den nebelverhangenen Gassen Londons sorgte. Ganz zu schweigen von einem Plot, der die geschichtliche Materie mit leichter Feder in einen atemberaubenden Thriller verwandelt. Im Original heißt der Roman „Murder as a Fine Art“, das dem 1827 im Blackwood’s Magazine erschienenen Essay De Quinceys mit dem Titel „On Murder Considered as one of the Fine Arts“ so nahe kommt wie irgend möglich. Hier kommt das bei deutschen Verlagen dauernd zu beobachtende Klittern zum tragen, wenn das Buch lapidar mit „Der Opiummörder“ überschrieben wird. Tatsächlich nämlich spielt das Essay eine herausragende Rolle bei den vorliegenden Verwicklungen. Seine darin enthaltene präzise und überzeugende Darstellung und Analyse der Ratcliffe-Highway-Morde von 1811 bringen den Schriftsteller nämlich in starke Schwierigkeiten.

David Morrell erklärt uns am Ende sein akribisches Vorgehen und wie er sich zwei Jahre lang in das London von 1854 und in die Schriften De Quinceys versenkt hat, er erklärt uns also all das, was man von einem guten Autor erwartet, und vor allem gilt das bei Morrell, den nicht wenige für den herausragenden lebenden Thriller-Autor halten. Klar erkennbar sind dann hier auch die Versatzstücke des historischen Kriminalromans, der aber völlig anders gestaltet ist als man das an der mittlerweile unüberschaubaren Masse dieses Genres beobachten kann. Hier finden wir keine Rätselgeschichte vor, in der ein Verbrechen begangen wurde und ein Detektiv vorgestellt wird, der den Fall untersucht, Hinweise sammelt und das Rätsel löst (Whodunnit). Es ist irgendwann ganz offensichtlich, wer der Mörder ist und das ist Teil der Handlung, weil David Morrell hier nicht die Frage nach dem Rätsel der brutalen Morde stellt, sondern auch gleich die Erfahrungen des äußerst gefährlichen Mörders mitliefert. Tatsächlich ist die Entwicklungsgeschichte des Mörders, der die Ratcliffe-Highway-Morde nachstellt, die er aus De Quinceys Essay in allen Einzelheiten kennt, in einer makellos psychologisch logischen Form dargestellt. Dabei verzichtet David Morrell bei seiner Figurendarstellung und Verknüpfung des Historischen keineswegs auf das, was er wirklich beherrscht: Die Spannung.

Der Spannungsroman

Suspense unterscheidet sich von anderen Krimi-Genres, weil es in einer solchen Geschichte nicht nur um die Ereignisse geht, die passieren, sondern auch um alles, was geschehen könnte. Es ist eine Geschichte über Protagonisten, die in Gefahr geraten, wenn sie versuchen, die Übeltäter aufzuhalten. Diese überhängende Furcht lenkt das Rätsel (den Fokus des Mysteriums) und die Katz-und-Maus-Jagd (den Bereich des Thrillers) vom Scheinwerferlicht ab. Vor allem aber betont die Spannung den richtigen Aufbau, wenn der Held (oder vorliegend: die Helden) versucht, den Bösewicht aufzuhalten und dabei am Leben zu bleiben. Suspense verwendet regelmäßig komprimierte Zeitrahmen, Prologe und vor allem die Einbeziehung des Standpunktes des Bösewichts, um eine Atmosphäre zunehmender Bedrohung zu verstärken. Der genannte Prolog wird hier vor allem durch die Tagebuchaufzeichnungen von De Quinceys Tochter Emily ersetzt, die sich aber keinen stilistischen Bruch erlauben (was häufig vorkommt), sondern die Geschichte nahtlos weitertreiben und so als ein weiteres Element der unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen sind. Dadurch gelingt Morrell ein wirkliches Panorama.

Emily De Quincey

Gerade die 21-jährige Emily ist eine verführerische Mischung aus der Watson-Figur Doyles und Mina Murray von Bram Stoker. Über sie kann der Autor sehr gut auf die gesellschaftlichen Konventionen dieser Zeit eingehen. De Quinceys progressive Tochter, die eher Bloomers (Frauenhosen) als die angemessenen schweren Reifröcke trägt, harmoniert sehr gut mit ihrem Vater zusammen und sorgt durch ihre aufgeschlossene Art für eine weitreichende Dimension, ohne die der ganze Roman zusammenfallen würde.

Die Morde von 1854 haben den gleichen Effekt wie die ursprünglichen Morde von 1811: Panik. Die Bevölkerung der Stadt ist verängstigt, und jeder ist verdächtig, besonders jeder, der anders ist. Ein Ausländer im Allgemeinen und ein Ire im Besonderen. Das Londoner Polizeipräsidium ist weniger als dreißig Jahre alt, klein, und die Wissenschaft oder die Kunst der Aufklärung – Lesen eines Tatorts, Forensik (Fußabdrücke usw.) – steckt noch in den Kinderschuhen. Der leitende Detektiv, einer von acht Beamten in Zivil in ganz London, der damals größten Stadt der Welt, ist ein rothaariger Ire namens Detective Inspector Sean Ryan. Er verbirgt sein rotes Haar und damit sein irische Herkunft unter der Mütze eines Zeitungsjungen. Der Detailreichtum, den Morrell hier abfeuert, sorgt dafür, dass wir uns wirklich auf eine Reise begeben. Das ist es, was Literatur im besten Falle bewirken sollte. Kein Kostümfest, sondern ein Ausflug, der uns an den Ort und die Zeit des Geschehens transportiert.

Roberto Bolaño: Die wilden Detektive

Roberto Bolaño ist einer jener Autoren, die ihren berechtigten Ruhm erst posthum erlebten (wie in solchen Fällen üblich, nicht mehr persönlich). Tatsächlich handelte es sich um einen Erfolg von dramatischen Ausmaßen. Nur sechs Wochen vor seinem Tod, im Alter von fünfzig Jahren, wurde er von einer Gruppe seiner Kollegen auf einer Konferenz in Sevilla als einflussreichster Schriftsteller seiner Generation gefeiert.

Es dauerte nicht lang, da wurde „Die wilden Detektive“ auf die Liste der größten spanischsprachigen Romane der letzten 50 Jahre auf Platz 3 gesetzt. Sein letztes Werk „2666“ landete gleich dahinter.

Vielleicht wäre ihm ein gewisser Erfolg bereits während seines Lebens sicher gewesen, wenn er nicht alles dafür getan hätte, sich Feinde zu machen. Er verachtete das literarische Establishment und attackierte sogar die Nobelpreisträger Gabriel García Márquez und Octavio Paz mit Vehemenz und Gift. Isabel Allende prangerte er als Kitschautorin an. Sie erinnerte sich an Bolaño als „äußerst unangenehm“ und erklärte, dass der Tod ihn „nicht zu einem schöneren Menschen macht“.

Wer nicht mit den Feinheiten der lateinamerikanischen Literaturpolitik vertraut ist, wird wahrscheinlich viele Hinweise in diesem Roman übersehen oder erst gar nicht verstehen. Es gibt eine Fülle gut getarnter, aber expliziter Aussagen zu mehr als 100 lateinamerikanischen Schriftstellern, und einige (wie Paz) tauchen sogar als Figuren in der Erzählung auf.

In dieser Geschichte spielt Bolaño (alias Belano) neben seinem Dichterkollegen und Landsmann Ulises Lima eine zentrale Rolle. Wir sehen die beiden Männer zu Beginn ihrer zwanziger Jahre einem Kreis von jugendlichen Dichtern vorstehen. Im Laufe von zwei Monaten Ende 1975 trinken alle zu viel, glauben, Teil einer „Bande“ zu sein, nehmen Drogen, haben Sex (ausnahmslos „die ganze Nacht“ oder „bis zum Morgengrauen“), machen sich über die etablierten Schriftsteller der Stadt lustig, stehlen Bücher und inszenieren am Silvesterabend die Flucht vor einem wütenden Zuhälter. Der Kreis besteht zumeist aus armen oder emotional geschädigten Jugendlichen, die außerhalb des Universitätssystems operieren, und Lima und Bolaño in seinem Zentrum werden als quasi legendäre Figuren verehrt. Dieses Porträt ist also ein hochromantisches. Dieser anfängliche Überschwang jedoch ist nur die Verkleidung der Traurigkeit und wird später zu einer Quelle der Tragödie.

Dabei singt der Roman mit einem enormen Chor kanonischer Stimmen. Die Auseinandersetzung mit der Literatur ist oft direkt, und eine schwindelerregende Liste von Dichtern wird präsentiert, auf die nun Hass oder Lob niederregnen. Der Name von Ulises beschwört sowohl Joyce als auch Homer herauf, und in der Tat wird in dem Roman viel hin und her spaziert. Belano verbeugt sich vor niemandem, daher gibt es statt einer einzigen Odyssee drei, eine für jeden Abschnitt. Im ersten Abschnitt handelt es sich um Mexiko-Stadt 1975, im zweiten um die Welt insgesamt in den folgenden zwei Jahrzehnten und im dritten um die Sonora-Wüste. Hier knüpft die Erzählung wieder am ersten Teil an, der im Januar 1976 endete. Aber im Gegensatz zu Odysseus und seiner Odyssee gibt es am Ende dieser Reisen keine Versöhnung. Jedes Mal beginnen die Figuren einfach eine neue Runde von Wanderungen in einem anderen Maßstab. Bolaño gibt jedoch trotz der den Roman beherrschenden Unzufriedenheit nie seine formalen Kühnheit auf. Der ausgedehnte Mittelteil wird auf verschiedene Weise von zahlreichen Erzählern vorgetragen, von denen jeder einen merkwürdigen, komplizierenden Splitter über das prismatische Leben von Belano und Lima ausbreitet.

Die Spiele mit dem Text sind fröhlicher Natur, auch wenn die Figuren es nicht sind. Ein großspuriger, Latein zitierender Anwalt erzählt von Belanos Abstieg in einen phantastisch tiefen Abgrund, an dessen Ende sich der Teufel angeblich aufhält, und Bolaño lässt seinen Erzähler jedem Dichter der Antike einen Gruß zukommen. An anderer Stelle erinnert ein albernes Schwertduell an Borges‘ Geschichte von Träumen und Duellen in „Der Süden“. Manchmal ist der Text tief verschlüsselt. Hunderte von Seiten vergehen zwischen der Beschreibung einer Figur und den eigentlichen Ereignissen des Romans. Und obwohl Julio Cortázar nur einmal direkt erwähnt wird, trägt sein Klassiker Rayuela, der von kluger Jugend, einem tragischen Tod, textlichen Rätseln und der Unmöglichkeit des Lebens handelt, massiv die Züge eines Vorbilds für Bolaños Werk. 

Julio Cortázar: Die Erzählungen

Julio Cortázar war einer der Begründer des so genannten lateinamerikanischen Booms. Er war Romancier, Lyriker, Dramatiker und Essayist, vor allem aber – und das ist der Kern seines Werkes – ein eifriger Erzähler von Kurzgeschichten. Er begann sein Werk unter dem Einfluss des Surrealismus. Seine phantastischen Erzählungen beginnen meist mit einer alltäglichen Szenerie, in die unerwartet das Fremde, das Unheimliche einbricht. Auch seine Tätigkeit als Übersetzer, u.a. der Erzählungen Edgar Allan Poes, beeinflusste sein Werk.

Cortazar

Viele phantastische Geschichten können sich einer thematischen Ähnlichkeit nicht entziehen. Oft scheint es, als stünden sie in Beziehung zueinander, als seien sie verbrüdert und durch eine Röhre miteinander verbunden. Viele dieser Geschichten haben gemeinsame Einflüsse wie Arthur Machen oder H. P. Lovecraft, während andere unheimliche Elemente verwenden, um zeitgenössische Stimmungen einzufangen. Manchmal sind diese Verbindungen offensichtlich, in anderen Fällen muss man sie mehrmals lesen, um sie zu verstehen. Dies ist bei Julio Cortázar der Fall.

Nehmen wir das Beispiel ‚Axolotl‘ und daraus den ersten Absatz, der die Transformation vorwegnimmt:

„Es gab eine Zeit, in der ich viel an die Axolotl dachte. Ich besuchte sie im Aquarium des Jardin des Plants und brachte Stunden mit ihrer Betrachtung, der Betrachtung ihrer Unbeweglichkeit, ihrer dunklen Bewegung zu. Jetzt bin ich ein Axolotl.“

Der Schlüssel liegt hier nicht in der ausgeprägten Verwandlung, sondern in der Beobachtung und der kontemplativen Betrachtung. Man kann die Erzählung als eine Absonderung und einen symbolischen Abstieg in einen schizophrenen Zustand lesen, vor allem durch die Schlusssätze, in denen Cortàzar das erzählerische „wir“ (der Axolotl) mit dem menschlichen „er“ (der Mensch) vertauscht.

Fasziniert von den Amphibien im Larvenstadium, beginnt der Erzähler immer mehr Informationen über die Axolotl zu sammeln. Tag für Tag besucht er sie im Jardin des Plantes.

„Ich stützte mich auf die eiserne Stange, die die Aquarien einfasst, und widmete mich ihrer Betrachtung. Daran ist nichts Besonderes, denn ich hatte vom ersten Augenblick an begriffen, dass wir miteinander in Verbindung standen, dass etwas wenn auch grenzenlos Verlorenes und Fernes uns offenbar vereinte.“

Hinter dem Gefühl der Besessenheit verbirgt sich etwas anderes. Es ist die Schärfe der Selbstidentifikation mit etwas Fremdem. Im Laufe der Erzählung nimmt sie Gestalt an, mit wiederholten Verweisen auf ihre mexikanische Heimat, auf die Azteken, die das Land beherrschten, bevor die Spanier kamen. Der Erzähler scheint verrückt zu sein, zumindest könnte man die Geschichte so interpretieren. Und doch könnte das Ganze auch eine Metapher für die Faszination einer fremden Kultur sein, die so weit geht, dass man ganz in sie eintauchen möchte, bis hin zum Austausch mit der ursprünglichen eigenen Kultur. Dieses Gefühl der fremden Akkulturation taucht in vielen Erzählungen und Romanen Cortázars auf. Emigranten in surrealistischen Erzählungen, wie in seinem brillanten und epochalen Roman „Rayuela“.

In seinen Erzählungen nutzt Cortázar das Unerklärliche, um die Wirren des Lebens zu ergründen. In „Das besetzte Haus“ leben die alternden Geschwister zurückgezogen im Haus ihrer Großeltern und spüren, dass etwas in ihren geschlossenen Lebensraum eindringt und sie zwingt, das Haus zu verlassen. Es ist ein langsames, schleichendes Grauen, das sich in die Erzählung einschleicht.

“ Südliche Autobahn “ ist weniger eindeutig. Die Erzählung beginnt mit einem endlosen, kafkaesken Stau. Die Menschen im Stau versuchen, sich irgendwie zu beschäftigen. Einige schlafen miteinander, andere versuchen, sich so weit wie möglich von allem und jedem zu entfernen. Beide Erzählungen ähneln „Axolotl“ darin, dass sie aus der eindeutigen Realität in seltsame, surreale Landschaften gleiten, wo Realität und Fantasie unentwirrbar ineinander übergehen und zu einer halluzinatorischen Einheit werden.

In den „Sprungszenen“ seines grandiosen Anti-Romans „Rayuela“ schildert Cortázar das Leben eines argentinischen Emigranten in Paris und seine Suche nach seiner früheren Geliebten Maga. Auch hier kommt es zu einem Zusammenprall der Kulturen, zu einem Verschwimmen von Halluzination und Realität. In Horacio Oliveira erkennen wir den fast wahnsinnigen Erzähler aus „Axolotl“. Sein Taumeln durch Paris und Buenos Aires auf der Suche nach Maga kann auch für die Suche nach einer schwer fassbaren Realität stehen. Die Anti-Struktur des Romans dient dazu, das Gefühl des Halluzinatorischen der Suche zu verstärken. Es gibt Momente der stillen Bedrohung, ähnlich dem „besetzten Haus“, und es gibt Momente, in denen Oliveiras Suche quixotische Züge annimmt.

In den 35 Jahren seines schriftstellerischen Schaffens hat Cortázar eines der einflussreichsten und unvergesslichsten Werke der Literatur des 20. Jahrhunderts hinterlassen, das sich mit dem Surrealismus, dem kulturellen Bruch, der Selbstidentität und der Frage, wo die Realität endet und die Halluzination beginnt, auseinandersetzt. Seine labilen, aber schmerzhaft aufmerksamen Erzählerfiguren erlauben es ihm, durch das Unerklärliche hindurch Aussagen über das heutige Leben zu machen, wie sie der ‚Realismus‘ niemals zu treffen vermag. Cortázar taucht tief in die Psyche seiner Protagonisten ein und enthüllt dabei beunruhigende Wahrheiten darüber, wie wir die verrückte Welt um uns herum wahrnehmen. Manchmal äußert sich dies im Verlust der Identität und der Trennung von unserer Vergangenheit, wie in „Axolotl“ oder „Das besetzte Haus“.

Das Unheimliche dient Cortázar als Kanal, und seine Geschichten funktionieren auf mehreren Ebenen. Es ist fast unmöglich, diese unglaubliche Nuanciertheit beim ersten Lesen zu erfassen, und er gehört zu den wenigen Autoren, die man immer wieder gerne liest.