Die Wurzeln des amerikanischen Jazz reichen bis zur Jahrhundertwende zurück… nicht in dieses, sondern ins letzte Jahrhundert.
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hörte man in New Orleans häufig ein Kornett (das einer Trompete ähnelt) laut von den Parkbänken und aus den Fenstern der Tanzsäle schmettern. Ohne formale Ausbildung entwickelte Charles “Buddy” Bolden einen einzigartigen Improvisationsstil auf seinem Horn. Im Wesentlichen ebnete er dem Jazz den Weg, indem er ländlichen Blues, Spirituals und Ragtime-Musik für Blechblasinstrumente arrangierte. Die Legende besagt, dass er traditionelle Lieder mit seinen eigenen Improvisationen neu arrangierte und so einen kraftvollen neuen Sound schuf.
Buddy Bolden begann seine Karriere mit Auftritten in der Jack Laines Reliance Brass Band. Jack Laines wird oft als der “Patriarch des Jazz” bezeichnet. Mitte der 1890er Jahre gründete Bolden eine Reihe eigener Bands auf der Suche nach einer perfekten Klangmischung. Gegen Ende des Jahrhunderts fand er sie. Die Buddy Bolden Band bestand aus Kornett, Gitarre, Posaune, Bass, zwei Klarinetten und Schlagzeug. Seine Band spielte in der Innenstadt von New Orleans in überfüllten Clubs im berüchtigten Rotlichtviertel von Storyville.
Von 1900 bis 1906 war die Buddy Bolden Band die größte Attraktion in New Orleans. Ähnlich wie heutige Rap-Sänger wertete Charles “Buddy” Bolden seinen Status und seine Identität auf, indem er sich zunächst “Kid” und später… “King” Bolden nannte. In dieser Zeit verfolgte er zwei Interessen wie ein Besessener: Alkohol und Frauen.
Angesichts von Ruhm, Verantwortung, neuen Bands, die mit ihm konkurrierten, und dem Kampf, seine Musik frisch, innovativ und lebendig zu halten, geriet Bolden 1906 in eine Sackgasse. Depressionen, Hoffnungslosigkeit und die dunkle Anziehungskraft des Alkohols führten zu starken Kopfschmerzen und Paranoia (eine unberechenbare Angst vor seinem Kornett war seiner Musik wahrscheinlich nicht zuträglich). Er wurde so “hirnkrank”, dass die Ärzte ihn ans Bett fesselten.
1907 hatte Bolden seinen letzten öffentlichen Auftritt mit der Eagle Band bei der Parade zum Tag der Arbeit in New Orleans. Während der Parade begann er offenbar, Damen in seiner Nähe anzuschreien und hatte Schaum vor dem Mund. Sein Zustand verschlimmerte sich und er wurde in die Irrenanstalt eingewiesen. Dort wurden seine Halluzinationen und Gewalttätigkeiten immer schlimmer, bis er am 5. Juni 1907 endgültig in das State Insane Asylum in Jackson, Lousiana, eingewiesen wurde. Die Anstalt blieb mehr als 25 Jahre lang sein Zuhause, bevor er in einem Zustand völliger Niedergeschlagenheit und Unzurechnungsfähigkeit verstarb. Sein Leichnam wurde auf dem Holte Cemetery, einem Armenfriedhof in New Orleans, beigesetzt.
Leider gibt es keine erhaltenen Aufnahmen von Buddy Bolden, auf denen er spielt, obwohl er einige Wachszylinderaufnahmen gemacht haben soll. Diese Aufnahmen wurden wahrscheinlich von Oskar Zahn, einem Lebensmittelhändler und Fan der Band, aufgenommen, der einen Edison-Phonographen mit aufsteckbarem Aufnahmekopf besaß. Leider wurden der oder die Zylinder nie gefunden, und mindestens zwei Exemplare sind vermutlich entweder durch schlechte Lagerung oder durch einen Scheunenbrand zerstört worden, so dass die einzige bekannte Aufnahme eines der prominentesten Gründerväter des Jazz als verloren gelten muss.
Aber viele Leute, die mit Bolden gespielt haben und vielleicht sogar auf diesen Walzen waren, haben später Platten aufgenommen. Darüber hinaus fanden zahlreiche New Orleans-Musiker der nächsten Generation den Weg ins Studio.
Diejenigen, die seine Musik kannten, sagten, er habe einen “lauten, bluesigen Ton gespielt und einen Großteil seiner Musik improvisiert”. Bolden gilt als der erste “König” des New Orleans Jazz und war die Inspiration für spätere Jazzgrößen wie King Oliver, Kid Ory und Louis Armstrong.
Auch wenn wir vielleicht nie erfahren werden, wie Bolden geklungen hat, so können wir doch eine Art Venn-Mengendiagramm erstellen, indem wir die Attribute von Boldens Stil anhand von Augenzeugenberichten, Aufnahmen von Boldens Bandkollegen und Zeitgenossen sowie Aufnahmen von Melodien, die mit seiner Band in Verbindung stehen, eingrenzen und so zumindest ein Verständnis für den Kontext schaffen, in dem Bolden existierte und einen solchen Einfluss ausübte.
Das erste, was man über Boldens Band wissen sollte, ist, dass sie keine Band war, die vom Blatt ablas und dass sie in vielen Fällen improvisierte. Während von Boldens Rivalen, dem kreolischen Bandleader Joe Robichaux aus New Orleans, fast die gesamte musikalische Bibliothek erhalten ist, benutzte die Bolden-Band keine Noten, die wir studieren können. Die fehlende Fähigkeit, Noten zu lesen, wurde jedoch durch den Elan und die frischen Ideen Boldens wettgemacht, die Teil der DNA des Jazz selbst wurden.
Bolden spielte mit viel Seele. Aus realen Berichten und dem, was wir über die sozialen Auswirkungen der damaligen Zeit wissen, können wir verstehen, dass er und seine Band einen weniger raffinierten, bodenständigeren und schmutzigeren Ansatz verfolgten.
Obwohl die Bolden-Band keine Gruppe war, die Noten las, spielte sie die Hits der Zeit und hielt sich an die populären Musiktrends, um den Tänzern in der Funky Butt Hall und im Lincoln Park zu gefallen.
Der prominenteste Kornettist, der einem in den Sinn kommt, wenn man über diesen Sound nachdenkt, ist Freddy ‘King’ Keppard (er wurde nach Boldens Einweisung in das Louisiana State Asylum nach ihm zum ‘King’ gekrönt), der mit einem gut definierten ‘in-your-face’-Sound spielte, wie seine vielen großartigen Aufnahmen mit Doc Cookes Band in Chicago zeigen.
Apropos Könige: Buddy Bolden war auch dafür bekannt, dass er Dämpfer benutzte. Wenn man also den Dämpferstil im frühen New Orleans Jazz bestimmen will, braucht man nicht weiter zu suchen als nach einigen der frühesten und besten Aufnahmen der New Orleans Dämpfertechnik, die der legendäre Joe ‘King’ Oliver mit seiner Creole Jazz Band spielte.
Es ist die Beschäftigung mit dem Jazz, die mich am ehesten meinen eigenen Rhythmus verstehen lässt. Aber nichts bringt mich im Augenblick zu einer weiteren Improvisation, ich muss das Hören neu lernen. Zum ersten Mal inspiriert wurde ich von Ted Gioia, aber ich habe mir erst jetzt ein Buch von ihm bestellt. Den eigentlichen Anstoß aber gab mir Andy Edwards, dessen YT-Kanal ich mit äußerstem Gewinn studiere. In jungen Jahren war er der Live-Schlagzeuger von Robert Plant, spielte bei der Neo-Prog-Band IQ und ebenso bei Frost. Jetzt, so scheint es, bringt er mich ohne sein Wissen in wichtige und für mich wertvolle Gefilde.
Es gibt zwei entscheidende Formeln, über die niemand spricht: Erstens; Metal unterscheidet sich von Hard Rock in erster Linie durch das Ausbeinen des Blues. Das heißt: je mehr Blues enthalten ist, desto weniger Metal ist es. Stattdessen spielen die klassischen Skalen die Hauptrolle. Metal ist also der klassischen Musik verwandt, Hard Rock dem Blues.
Die zweite Formel betrifft das “heavy” im Metal, das ja ohnehin kaum mehr genannt wird, und das aus gutem Grund. Je schneller ein Song ist, desto weniger heavy kann er sein. Und die meisten mögen ihren Metal schnell. So wie im Punk, der die Rotzigkeit und Einfachheit geliefert hat, um eben auch ein Wörtchen mitzureden. Dass der Punk aus dem Rock ‘n’ Roll kommt und der dann auch wieder aus dem Blues … geschenkt. Und zwar schon allein deshalb, weil der Rock ‘n’ Roll eine erste Rebellion gegen den Blues war. So wie Punk gegen den bluesbasierten Stadionrock wetterte. Nur um den Kreis zu schließen.
Probleme des Doom Metal
Die Probleme des Doom Metal beginnen mit seinem Tempo. So etwas wie einen Speed Doom Metal gibt es nicht, auch wenn es gar nicht selten vorkommt, dass wir einen swingenden Uptempo-Headbanger vor uns haben, der dennoch tief im Doom verankert ist. Aber abgesehen von einer gewissen Atmosphäre, die fast noch wichtiger ist als die eigentliche Geschwindigkeit, ist der Doom Metal vor allem eins: schleichender, kriechender, langsamer Metal.
Als wolle er der Metal-Überwelt und den populären Konnotationen trotzen, treibt der Doom Metal die Tempi konsequent bis an ihre untersten Grenzen, so wie Grindcore-Devies und Beebop-Jazzer die Musik ebenfalls bis an die Grenzen des Möglichen getrieben haben (lustig, denn die Jazz-Dudes aus den 50er Jahren sind nach wie vor die unbestrittenen Geschwindigkeitskönige). Das liegt nicht nur am Sound, sondern auch an den Texten: Doom Metal soll deprimierend sein. Doom Metal hat das Etikett “depressiv-suizidal” schon lange vor dem depressiv-suizidalen Black Metal für sich beansprucht und leistet mit Leichtigkeit bessere Arbeit, wenn es darum geht, die anämischen und schwarz denkenden Leute davon zu überzeugen, ein Fass aufzumachen. Doom wird dich auf den schwärzesten Sand eines Billionen Jahre alten, toten Planeten werfen, damit du dort auf ewig verrottest, von Gott gehasst und von allen vergessen, um für immer zu leiden, aber niemals zu sterben.
Die Wahrheit ist, dass solche Bilder so weit vom wirklichen Elend des Lebens entfernt sind, dass es gar nicht wenige gibt, die den Doom als Emo des Metal etikettieren, obwohl es vielmehr zutrifft, ihn als Blues des Metal – eben als den Doom des Metal – zu bezeichnen.
Vor den ganzen poppigen Klängen der 40er und 50er Jahre war der Blues das Mittel der Wahl, wenn es darum ging, sich eine Grube in den Schädel zu bohren. Der Doom Metal steigerte das Ganze dann mindestens mal auf 13 und bietet bis heute ein Ausmaß an Elend, wie es die Menschheit noch nie erlebt hat, nun, abgesehen von der Wirklichkeit.
Das heißt, wenn sich Doom-Acts dazu entschließen, es tatsächlich so weit zu treiben: Pentagram haben sich sicherlich nie in Richtung Funeral Doom bewegt, und es scheint, dass viele moderne Bands des Genres vergessen haben, dass die ursprünglichen Doomster – Sabbath, Lucifer’s Friend, Pentagram, False Prophet usw. – klanglich sehr vielfältig waren (Sabbath haben einst eine Mundharmonika benutz, und: ist “Fairies Wear Boots” nicht eher ein rockig-souliger Jazz-Song?). Trotzdem schafften sie es, absolut düster zu klingen.
Und Buffalo hat allen in den Arsch getreten.
Die Ursprünge liegen im Jazz
Das bringt mich zu einem weiteren Teilproblem: Stoner- und Doom-Bands scheinen zu vergessen, dass die angeblichen Bluesrock-Wurzeln von Sabbath eigentlich näher am Jazz lagen und dass der größte Teil des “psychedelischen Blues”, an den sie sich erinnern, von Zeitgenossen wie Led Zeppelin, aber auch Buffalo, Cactus, Coven, Blue Cheer und Randy Holden, Captain Beyond, Lord Sir Baltimore, Head Machine, Mountain und ähnlichen gespielt wurde. Und Buffalo hat allen in den Arsch getreten. Buffalo? Oh Mann, ich könnte den ganzen Tag darüber schreiben, dass Buffalo der Inbegriff der psychedelischen Bluesrock-Band der 70er Jahre war.
Black Sabbath; 1970
Aber es waren Sabbath mit ihren bluesigen, jazzigen Riffs, die alles in Gang brachten. Bill Ward kannte sich mit Jazz ziemlich gut aus, und Iommis Hände waren zweifelsohne Jazzhände. Jeder Doomster, der etwas auf sich hält, muss sich mit Jazzbands vertraut machen, wenn er jemals Sabbathian Doom Metal “richtig” spielen will. Selbst die allmächtigen Buffalo und der Rest der psychedelischen 70er Jahre waren nicht annähernd genug mit dieser Tatsache vertraut.
Und das ist eines der Probleme in der Beziehung zwischen Doom und dem Rest des Metals. Doomster sind so sehr im psychedelischen Blues verwurzelt (und die echten Sabbath-Worshipper sollten es im Jazz sein), dass man nicht umhin kommt, sich daran zu erinnern, was die moderne Metalszene überhaupt erst auf den Plan gebracht hat: Punk. Punk hat Ärsche getreten. Punk tritt überhaupt in den Arsch. Punk wird auch weiterhin Arsch treten. Seine Grundlage waren ein paar Rocker-Kids, die den Rock’n’Roll der 50er Jahre spielen wollten, es aber nicht konnten, weil sie zu schlecht an ihren Instrumenten waren. Also vereinfachten sie ihn auf seine nackten Wurzeln: Drei Akkorde und die Wahrheit*. Dann haben sie ihn beschleunigt (so wie es bereits der Jazz vorgemacht hatte). Es war diese Geschwindigkeitskorrektur, die den Metal wohl vor seiner eigenen Verdammnis in den 70ern bewahrte (da viele der so genannten “Mod-Metal”-Bands in den 70ern wenig bis gar keine Publicity bekamen und der Begriff “Heavy Metal” keiner war, zu dem man sich bekannte, wenn man es darauf abgesehen hatte, eines Tages im Radio gespielt zu werden), und so begann die NWOBHM.
Und erst als diese New Wave Of British Heavy Metal auf den Plan trat, wurde auch Doom Metal zu einer eigentlichen Sache. In den 70er Jahren war praktisch der gesamte Heavy Metal Doom Metal oder Proto-Doom (eine noch frühere Bezeichnung für Metal war “Downer Rock”), und als die NWOBHM den ganzen Blues/Jazz-Unsinn abschaffte, der alten Metal-Welle den Rücken kehrte und sie auf ein Motorrad packte, dachten viele junge Leute, wie komisch es doch eigentlich war, dass so schwere Musik bisher so langsam gewesen ist.
Wir brauchten zu dieser Zeit Geschwindigkeit, Kraft, Aggression, Wut! Damals, ’78, war langsame Musik die lahmarschige Norm und das schnellste, das es gab, war sowas wie Judas Priests “Exciter”. Vielleicht hatte den Kids einst gerade noch “Symptom of the Universe” gefallen, aber jetzt brauchten die Leute zur Abwechslung mal etwas Schnelles. Die Punks hatten mit dem Hardcore schließlich auch bekommen, was sie wollten. Warum also nicht etwas mit diesem Metal anfangen?
Der Wandel
Allerdings stellten schon ’82, als alles auf der Kippe stand, einige Metalbands fest, dass sie Sabbath so sehr mochten, dass sie wie sie klingen wollten und Hörer nach Bands suchten, die so klangen wie sie. Und zwar genau wie sie. Nicht der Sabbath mit Dio an der Spitze, sondern der Sabbath, der zwischen ’69 und ’73 gefeiert wurde. Das Problem war nur, dass man ’82 die Geburt des Speed, des Thrash, des Black, des Death, des Extreme Metal erlebte. Nicht nur extremen Metal, sondern auch Glam Metal. Nicht nur Glam Metal, sondern auch Power Metal. Als Venom “Welcome to Hell” herausbrachten, hat niemand gesagt:
“Scheiß drauf, das ist viel, viel zu schnell.”
Jeder wollte fortan Venom in ihrem eigenen Spiel übertreffen. Bis 1986 war Heavy Metal ein Synonym für männliche Aggression.
Doom Metal aber ist nicht aggressiv. Schwer vielleicht, aber nicht aggressiv, zumindest nicht, so lange sich der Sludge noch nicht eingemischt hatte. Wenn du nicht flennst, high bist oder grübelst, schläfst du, wenn du eine Doom-Platte hörst. Headbanging kommt nur selten vor. Du lebst frei und brennst, Kumpel.
Epicus Doomicus Metallicus; 1986
Das hat Candlemass nicht davon abgehalten, satte hunderttausend Alben zu verkaufen. Ich glaube, dass “Epicus Doomicus Metallicus” unter den Top 3 der meistverkauften Doom-Alben aller Zeiten ist, wenn man die Diskografie von Black Sabbath außer Acht lässt. Ich würde sagen, es ist auf Platz 2, aber ich habe keine Zahlen für “Dopethrone”, und “Manic Frustration” könnte auch ein Kandidat sein. Zusammengenommen erfüllen Candlemass, der Wizard und Trouble vielleicht die Hälfte der Verkaufsanforderungen für eine Goldauszeichnung. Vielleicht auch ein bisschen mehr. Das sind drei verschiedene Doom-Bands, die es alle seit einem Vierteljahrhundert gibt. Und nicht nur das, es sind auch die größten Bands des Doom Metal. Man kann noch Sleep und Type O Negative dazuzählen, aber Stoner Metal und Goth-Doom sollten wir ein anderes mal besprechen. Ja, ich weiß, dass der Wizard und Trouble (zu dieser Zeit) Psychestoner sind/waren, aber ich bitte um Nachsicht.
Was sagt euch das? Doom Metal, eines der 8 Haupt-Subgenres des Heavy Metal (d.h. 1 – Heavy; 2 – Speed; 3 – Thrash; 4 – Power; 5 – Death; 6 – Black; 7 – Glam; 8 – Doom) hat nie so etwas wie kommerziellen Erfolg gehabt. Während der Erfolg anderer Subgenres in Millionenhöhe gemessen werden kann, kann die erfolgreichste Nicht-Sab-Doom-Band nur in Zehntausenden gemessen werden. Meine Güte, es gibt noch immer Metalheads, die gar nicht wissen, dass es Doom überhaupt gibt. Dem ein oder anderen dämmert es dann allerdings:
“Ist es nicht komisch, dass Heavy Metal mit einem so langsamen Song wie “Black Sabbath” begann, obwohl Metal doch angeblich schnell sein soll?”
Natürlich kann man sagen, dass Black Sabbath eine Doom-Metal-Band sind; dann hat man den ersten (und bisher einzigen) Hundert-Millionen-Seller des Doom Metal. Und Alice in Chains waren entweder schon immer der Inbegriff des grungigen Doom Metal oder ist es heute (“Black Gives Way to Blue” ist eine Doom Metal-Platte, Ende der Diskussion). Da kann man noch ein paar Dutzend Millionen Platten drauflegen. Type O Negative? Der gesamte Gothic Metal? Auch Sludge Metal. Kyuss hatten auch einigen Erfolg. Melvins auch ein bisschen.
Doch trotz alledem hat sich der Doom Metal selbst dem Erfolg entzogen. Beim Black Metal ist das nicht anders, aber der Leitspruch des Black Metal lautet von jeher “Fuck the Masses” (und er hat die mächtige Kontroverse, die ihn vorantreibt); Doom-Metaller haben nie erklärt, dass sie nicht erfolgreich sein wollen, und wenn man es genau nimmt, gibt es absolut nichts, was ein Stoner- oder Doom-Metal-Album daran hindert, auf Platz 1 der Charts zu landen. Es gibt ein paar Rock ‘n’ Metal-Hipster, die das lieber nicht sehen wollen (und sich gleichzeitig darüber beschweren, dass heutige Musik eigentlich zum Kotzen ist), aber abgesehen von ihnen kann ich keine wirkliche Feindseligkeit gegenüber einem großen Erfolg erkennen (abgesehen von den unvermeidlichen Sell Outs).
Befragt man einen gewöhnlichen Metalhead über Musik, dann wird man kaum zu hören bekommen, dass Metal langsam sein kann. In der Hauptsache geht es darum, schnell, schneller, am schnellsten zu sein. Am besten so schnell, dass das Licht dagegen langsam ist. Die Vorstellung von langsamen Metal ist wie die Vorstellung von flammendem Eis, dass es in der Wüste schneien kann, oder dass die Beatles beschissene Songs haben!
Und hier hast du die Grundlage dafür, warum Doom Metal als der geistig zurückgebliebene jüngere Bruder des Heavy Metal gilt, der ’70 auf der Türschwelle eines Kindergartens ausgesetzt wurde.
Erinnert ihr euch noch an ’82, als der Metal so richtig rasant wurde? Es war nicht nur der Speed Metal, der den Untergang brachte, auch der Glam spielte eine Rolle. Eine Metal-Band war entweder aggressiv und schneller als ein Meteor, oder sie war überdreht, hatte dicke Föhnfrisuren sang den Ficksong deiner Mutter. Die weniger ausgefeilten Genres des extremen Metal, wie der frühe Death- und Black Metal, wurden zum Teil wegen ihrer grauenhaften Klangqualität, vor allem aber wegen ihres rauen, unnahbaren Sounds übersehen. Aber es war dieser Sound, der ihnen Fans bescherte. Womit sollte Doom hier noch prahlen?
In den 80ern konnte Doom keine Preise gewinnen. Aber in den 90er Jahren sah es kurz so aus, als könnte er sich durchsetzen. Grunge war wohl der erste Schrei des Doom in der Szene. Die Melvins, die frühen Nirvana und andere waren die besten Vertreter des Sludge der späten 80er Jahre. Natürlich waren sie das, sie waren fast die einzigen Nicht-Punk-Sludge-Bands. Aber auf die Melvins kommen wir ein andermal zurück, und ich habe keine Lust, über Nirvana zu reden; stattdessen sind Soundgarden und Alice in Chains zwei Bands, die würdiger sind.
“Badmotorfinger” und “Superunknown” waren im Grunde bereits damals das, was wir heute als Stoner bzw. Stoner Doom bezeichnen würden. Niemand kann mir erzählen, dass “Mailman”, “4th of July” und “Superunknown” rifftechnisch gesehen einfach absolute Überflieger sind. Oder nehmen wir Alice in Chains. Niemand wird behaupten können, dass “Dirt” kein mörderisch guter Stoner-Doom-Song ist.
Satan kommt (oder er kommt nicht)
Ein Running Gag in Metal-Kreisen ist, dass sich eher der leibhaftige Satan blicken lassen wird, bevor Doom Metal populär wird. Doch genau in den Jahren ’92, ’93, ’94 sahen wir, wie Stoner Doom unter dem Label ‘Grunge’ in die Charts aufstieg. Das geschah praktisch neben der Explosion von Stoner Rock und Stoner Metal und der Diversifizierung des Doom Metal in die extremeren Genres (mit der Entstehung von Gothic Doom, Death-Doom usw.). Vielleicht ist das der Grund, warum wir dieses Zeitalter nicht als goldene Zeit für Doom betrachten: 1993 wurde der Heavy Metal schließlich für tot erklärt, doch zu dieser Zeit war der Doom Metal ironischerweise wohl auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Und da Satan schließlich kommen soll, bevor Doom Metal populär wird, ist es nur logisch, dass die großen Labels aus Soundgarden oder Alice in Chains kein Kapital schlagen wollten, nicht wahr? Mal im Ernst: Wie viele Post-Grunge-Bands ahmen Soundgarden nach? Alice in Chains (deren härteres Material; ignorieren wir “Days of the New”, und hüllen wir auch über Bands wie Godsmack den Mantel des Schweigens).
Der Okkult-Rock-Boom
Mit die größten Doom-Veröffentlichungen stammen aus den 00er Jahren, von Warning über Celtic Frost bis zu Electric Wizard und… und… und…
Aber das war auch die Zeit des Okkult-Rock-Boom. Für einige war es eine große Überraschung, dass zumindest eine Form von doomigem Metal tatsächlich zu einem “Trend” werden kann. Andererseits weiß ich nicht, wie viele Leute behaupten werden, dass einige dieser okkulten Rocker eigentlich Doom Metal in Reinkultur sind.
Abgesehen davon war der Okkult-Rock-Boom eigentlich gar kein richtiger Boom. Man hörte Witchcraft oder Royal Thunder nicht im Rockradio. Sie erreichten kein Platin oder gar Gold und waren so im Untergrund wie eh und je, wurden aber meist von Hipstern hochgehalten, die damit beweisen wollen, dass sie klüger sind als du.
Da beschließen also ein paar Kiffer, die sich auf YouTube darüber beschweren, dass echte Musik tot ist, dass Rock tot ist und Pop scheiße ist (so wie in den letzten 150 Jahren), sich die Haare wachsen zu lassen (am besten einen langen Bob, Rockerwellen, Zottelhaar oder Wafro), ein paar Schlaghosen und Jeanswesten zu kaufen, ein paar Gitarren aufzumotzen, eine weibliche Sängerin zu finden und eine Psycho-Horror-Okkult-Doom-Rock-Metal-Retroszene zu gründen. Nicht schlecht, aber kein Doom. Es ist das gleiche Zeug im Stil von Sabbath, das wir schon so oft gesehen haben. Und das ist der Nachteil von Doom, nämlich dass er nicht den Spielraum hat, den einige andere Genres haben: Man muss wie Sabbath klingen, um Doom zu sein. Zumindest sagen das die Kritiker.
Einerseits ist es wahr, dass die besten Doom-Platten diejenigen sind, die Sabbath am besten nachahmen. Andererseits ist die Behauptung, dass Doom keinen Spielraum hat, an sich schon sehr weit hergeholt – wie nennt man denn Death Doom, Funeral Doom, Drone, Stoner, Sludge, Goth, Grunge, all diese doomorientierten Genres? Wie viel Spielraum haben denn Thrash Metal, Power Metal, Death Metal? Für sich allein genommen nicht viel. Irgendwann könnte man jedes Thrash-Metal-Album mit einem der Big 4 vergleichen, jeden Power Metal mit Iron Maiden, jeden Death Metal mit Possessed oder Morbid Angel.
Der Doom Metal hat weitgehend das getan, was diese Genres getan haben, musikalisch und textlich, und sich so weit ausgedehnt, wie es innerhalb der traditionellen/epischen Kerngenres möglich ist. Und doch hat er nicht einen Bruchteil des Erfolges oder der Bekanntheit erlangt.
Das ist interessant, weil wir dort im vergangenen Jahrzehnt ein Psychedelic/Blues-Revival erlebt haben. Man konnte feststellen, dass immer mehr Menschen zu den Psych-Rock-Shows strömten. Das war nicht immer so; es gab eine Zeit, da galt man als Rock ‘n’ Roll-Dinosaurier, wenn man es wagte, mit irgendeinem Flansch in der Musik zu spielen und auch nur annähernd so etwas wie zotteliges Haar auf dem Kopf hatte. Damals, in den Achtzigern, waren die Musikhörer bereit für die übergroße Verzweiflung, die der Doom mit sich bringen konnte, aber viele mochten die Art und Weise nicht, wie er verpackt war.
Damit kommen wir zurück zur vorletzten Frage: Warum wird der Doom Metal so übersehen?
Doom Metal wird übersehen, weil er nicht den gängigen Vorstellungen und Erwartungen entspricht, was Heavy Metal sein soll. Er hat seine Wurzeln in einem Jahrzehnt, das eher für Discokugeln und die Bee Gees als für Heavy Blues und Deep Purple bekannt ist. Er ist nicht modern genug, um ernst genommen zu werden, aber er ist zu retro für Fans des traditionellen 80er-Metal, um ihn zu verstehen. Er war die vergessene Geburtsstunde des Metals in den 70ern, schaffte in den 80ern nie den Durchbruch, wurde in den 90ern verleugnet und galt bis zum Ende der 00er Jahre als nicht mehr zeitgemäß. Er ist zu deprimierend für Pop und zu übertrieben für alles andere. Die populäre Konnotation von Doom ist… nichts, weil es keine populäre Konnotation von Doom Metal gibt, weil er nicht populär ist.
Das Einzige, was einem Erfolg nächsten kommt, ist, dass Black Sabbath in aller Mund bleibt, was normalerweise zu einer großen Fangemeinde führen würde, wenn es doch so viele Leute gibt, die zu “gutem Heavy Rock and Roll” zurückkehren wollen, wie Foren, YouTube-Kommentare und Blogs vermuten lassen. Aber der Begriff wird immer wieder unterlaufen und durch “doom and gloom”, “Sabbath-inspirierte Musik”, “schwerfälliger Metal”, “langsame und schwere Musik”, “düstere Musik” und mehr ersetzt, wobei er selten beim Namen genannt wird. Wenn jemand auf einen Doom-Metal-Song stößt, ist seine erste Reaktion meist “zu langsam” oder “ich bevorzuge schnellere Musik, aber das hier ist auch gut”. Sie wissen nicht recht, wie sie es nennen sollen. Die frühen Doom-Platten der 80er Jahre hatten keinen Erfolg, weil sie unter den heutigen Bedingungen nicht vermarktbar waren und weil sie roh, unbearbeitet und unabgemischt klangen; außerdem klangen einige eher wie experimentelle Nebenprojekte als wie echte Bands.
Verdammt, die deprimierende Geschichte des Doom könnte einen soliden Doom-Metal-Song ergeben.
Wird Doom Metal jemals populär werden? Die Sache ist die, dass wir nur einen kleinen Paradigmenwechsel bräuchten. Irgendwann muss man die aktuelle Psyche der Musikindustrie in die richtige Bahn lenken, sie einfach an der richtigen Stelle einschnappen lassen. Die Hipster-Indie-Rock-Welle von 2013 hat versehentlich Folk und Psychedelic Rock wieder populär gemacht, da sollte der Metal doch nicht allzu weit zurückliegen.
Der extreme Metal ist so schnell, wütend und aggressiv wie möglich geworden. Heutzutage ist schnelle Musik aber nicht mehr ganz so rebellisch wie früher, vor allem seit Rebellion zum Mainstream geworden ist. Das bedeutet, dass sich die Jugend an Doom Metal, dieser langweiligen, matschigen Art von ultraschwerer Musik, festklammern könnte, nur um ihren Eltern eins auszuwischen. Die Aussichten scheinen sogar ziemlich gut zu sein.
* Der Songwriter Harlan Howard prägte diesen Ausdruck in den 50ern (Three Chords and the Truth), der seitdem gerne zitiert wird.
Die Geschichte von Arkham Horror beginnt eigentlich schon 1981, als das Rollenspiel Call of Cthulhu erschien, das natürlich nach H.P. Lovecrafts gleichnamiger Story benannt ist. Das Spiel wurde bis 2014 immer wieder neu aufgelegt und verbessert. 1987 wurde auf dieser Basis das Brettspiel “Arkham Horror” veröffentlicht und als bestes Fantasy-Spiel des Jahres ausgezeichnet. Es hatte sich mühelos gegen eine Menge anderer Lovecraft-Basierter Spiele durchgesetzt, die es nicht mal zur Veröffentlichung gebracht haben. Und auch dieses Spiel wird ständig erweitert und verbessert. Um eine Spielwelt noch lebendiger werden zu lassen, liegt es natürlich nahe, Romane und Geschichten in Buchform zu veröffentlichen, so dass sich die Spieler alles noch besser vorstellen können. Im günstigsten Fall interessieren sich auch Leser für die Bücher, die sich ohnehin gern in Lovecrafts Kosmos bewegen.
Cross Cult
Bei Cross Cult gibt es bereits die Romane “Das letzte Ritual” und “Litanei der Träume”, die in diesem Universum angesiedelt sind. Im Dezember 2022 erscheint dann bereits “Der Kult der Spinnenkönigin”. Aber heute habe ich “Dunkle Ursprünge” vorliegen. Die gesammelten Novellen Band 1; was natürlich vermuten lässt, dass es auch hier mehrere Ausgaben mit kürzeren Geschichten geben wird.
Wie im Spiel auch, reisen wir mit den unterschiedlichsten Protagonisten in Lovecrafts fiktive Stadt Arkham in Massachusetts im Jahre 1926. Es versteht sich von selbst, dass uns die Romane und Novellen unserer Arkham Horror-Files weit weg von den geschützten Ufern führen, direkt hinein in das dunkle Unbekannte. Alle vier Geschichten dieser Sammlung, die von Dave Gross, Greame Davis, Richard Lee Byers und Chris A Jackson geschrieben wurden, tauchen mit einer Mischung aus Pulp-Action und übernatürlichem Horror tief ein in die Geheimnisse unter der Oberfläche unserer bekannten Realität. In Arkham sind die wilden Zwanziger nicht ganz so verlaufen, wie wir das in Erinnerung zu haben glauben. Natürlich gibt es auch hier Flappers und Jazz, die Prohibition, Schwarzbrenner und Mafiosi. Aber es gibt auch weitaus seltsamere Dinge. Menschen sind verschwunden. Andere berichten, dass sie unbeschreibliche Kreaturen gesehen haben. Und die Luft verdichtet sich mit einem Gefühl der Vorahnung, das wie ein böser Nebel durch die Straßen zieht. Etwas Uraltes beginnt sich zu rühren.
Natürlich muss man sich die Frage nach der Qualität der vier hier gesammelte Erzählungen stellen. Dave Gross war Redakteur von Zeitschriften wie Dragon, Star WarsInsider und Amazing Stories. Er ist jemand, der die Welt der Pulp Magazine versteht. Abgesehen davon bringt er es auf 10 Romane, bei uns ist er jedoch völlig unbekannt. Er eröffnet mit “Die Nacht der Jägerin”.
Greame Davis studierte Archäologie, was für ein Lovecraft-Setting immer von Vorteil ist, schrieb aber von 1986 an bei Game Workshop das gefeierte Warhammer-Rollenspiel mit. Tatsächlich hat er danach an zahllosen weiteren Tabeltop- und Videospielen mitgearbeitet. Von ihm bekommen wir die Geschichte “Das Klagelied der Vernunft”.
Richard Lee Byers schreibt für die Reihe der Forgotten Realms an einer anderen legendären Fantasy-Welt mit. Beeinflusst ist er von den richtigen Leuten, nämlich logischerweise Lovecraft und Richard E. Howard, aber auch von Karl Edward Wagner und Jack Vance. Seine Geschichte trägt den Titel “Der Zorn der Leere”.
Chris A Jackson ist von Beruf Seemann. Auch er hat einen starken Hang zu den bisher genannten Spielen, obwohl er sich mit dem Schreiben von Piratengeschichten einen Namen gemacht hat. Mit seinen Weapon of Flesh Romanen über einen magischen Attentäter landete er mehrmals auf der Kindle-Bestseller-Liste. Seine Geschichte heißt “Das Tor in der Tiefe”.
Vielleicht erkennt man bereits an dieser Vorstellung, dass es sich bei vorliegenden Geschichten um eine Menge Spaß handelt. Vor allem jene Leser, die sich über die eher unterhaltsame Ausrichtung lovecraft’scher Welten beschweren, sollten auch hier eher nicht zugreifen, um ihre Nerven zu schonen. Doch Lovecrafts Welten sind sozusagen für alle da. Eine echte Leseempfehlung kann ich allerdings nur an die richten, die ihre Spielwelt mit reichlich Hintergrundmaterial ausstatten wollen. Das bedeutet nicht, dass die hier gebotenen Geschichten schlecht sind, aber nach dem lesen hat man sie dann doch schnell wieder vergessen. Eine Bereicherung der Spielwelt sind sie aber dennoch.
Im vorigen Beitrag sprachen wir über die Definition der urbanen Fantasy und ihren Ursprüngen. Nun wollen wir mal sehen, wie dieses Genre entstanden ist und warum es so populär wurde.
Charles de Lint, der Pionier der urbanen Fantasy
Das allererste Werk der Urban Fantasy war wahrscheinlich der 1984 erschienene Roman “Moonheart: A Romance” von Charles de Lint. Den Begriff Urban Fantasy gab es damals allerdings noch nicht. Urban Fantasy wurde 1997 von John Clute und John Grant in ihrer Encyclopedia of Fantasy als Texte definiert,
„in denen die phantastische und die herkömmliche Welt interagieren, sich kreuzen und zu einer Geschichte verschränken, die sich signifikant um eine reale Stadt dreht.“
Ironischerweise war die Serie, die das Genre begründete, nicht in einer realen Stadt angesiedelt, sondern in einer imaginären. Newford, das von Charles de Lint erfunden wurde, stellt eine typisch amerikanische Stadt dar, mit seinen wohlhabenden Wohngebieten und Slums, seinen Stränden und Brachflächen und natürlich seinem ausgedehnten Netz von unterirdischen Tunneln. Die Newford-Serie begann mit der Kurzgeschichte “Uncle Dobbin’s Parrot Fair”, die 1987 zum ersten Mal in Isaac Asimovs Science Fiction Magazin erschien. 1993 wurden mehrere Kurzgeschichten von Charles de Lint, alle in Newford angesiedelt, von Terri Windling zusammengestellt und unter dem Titel “Dreams Underfoot” veröffentlicht.
“Dreams Underfoot” ist eine denkwürdige Lektüre. Wir treffen auf farbenfrohe Charaktere, lernen sie lieben und erforschen die Geheimnisse Newfords und ihrer Gesellschaft. Manche Geschichten grenzen an den Magischen Realismus oder den Surrealismus, zum Beispiel “Freewheeling”, wo ein Straßenkind Fahrräder klaut, um ihnen die Freiheit zu schenken. Für den Protagonisten haben selbst unbelebte Objekte eine Seele, einen eigenen Geist und verdienen es daher, frei zu sein. Ist er wahnsinnig, oder nimmt er etwas Reales wahr, eine Magie, die in weltlichen Objekten versteckt ist? Wir werden es nie erfahren. Während des gesamten Buches verflechten sich Realität, Mythos und Magie so eng miteinander, dass es manchmal unmöglich ist zu sagen, was real und was eingebildet ist. Ob die Magie echt ist oder nicht, ändert aber nichts an der Bedeutung der Geschichten. Wichtig ist, woran die Menschen glauben. Das ist die Theorie der einvernehmlichen Realität: Dinge existieren, weil wir wollen, dass sie existieren.
“Dreams Underfoot” wurde mit Werken literarischer Fantasy wie “Little, Big” (1981) von John Crowley und Mark Helprins “Wintermärchen” (1983) verglichen. In Übersetzung liegt kaum etwas von de Lint vor und schon gar nicht seine wichtigsten Werke.
Sex, das Übersinnliche und Rock and Roll!
Einige würden sagen, dass der erste urbane Fantasy-Roman “War for the Oaks” (1987) von Emma Bull war. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem zustimme, aber lasst uns über dieses Buch reden. Es erzählt die Geschichte von Eddi McCandry, einer jungen Sängerin, die in Minneapolis lebt. Sie hat einen schlechten Tag, oder besser gesagt, eine schlechte Nacht. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt und verließ seine Band, und später begegnet sie einem finsteren Mann und einem riesigen Hund. Die beiden Geschöpfe sind ein und dasselbe: ein Phouka, ein Feenwesen, das Eddi zum Bauernopfer im jahrhundertealten Krieg zwischen den Höfen von Seelies und Unseelies auserkoren hat.
“War for the Oaks” ist nicht der passendste Titel für diesen Roman, da der Krieg der Feenhöfe nicht im Mittelpunkt der Geschichte steht. Rockmusik schon. Ein guter Titel für dieses Buch wäre “Eddi and the Fey “(der Name von Eddis Band) oder noch besser “Sex & Fey & Rock & Roll!” Emma Bull war Musikerin; sie spielte Gitarre und sang bei den Flash Girls, einem Goth-Folk-Duo, und war Mitglied von Cats Laughing, einer psychedelischen Folk-Jazz-Band. Zweifellos hat ihre Leidenschaft für die Musik den Krieg um die Eichen inspiriert.
Dieser Roman würde eher als paranormale Romanze denn als urbane Fantasy durchgehen. Die Handlung dreht sich um Eddi und ihr Liebesleben (und ihr Sexualleben, obwohl es keine expliziten Sexszenen gibt). Es gibt sogar eine Dreiecksbeziehung zwischen Eddi und zwei übernatürlichen Wesen, ein Erzählmuster, das später zu einem Markenzeichen paranormaler Romantik werden wird.
Insgesamt gibt es in diesem Buch nicht viel Action. Das meiste davon (vor allem der mittlere Teil) ist gefüllt mit Dialogen zwischen Eddi und dem Phouka oder anderen Mitgliedern ihrer Band. Obwohl es einige gute Ideen enthält, werden sie in diesem Roman nicht ausgenutzt. Auf der positiven Seite ist der Schreibstil begeisternd, und die Geschichte ist sehr einfallsreich, aber die Charaktere sind klischeehaft (der Preis des Tapferen, die edle Königin, die böse Hexe, usw.). Der Phouka ist eine Ausnahme, da er subtiler zu sein scheint als die anderen.
Ich erwähnte dieses Buch aus historischen Gründen, weil es die Voraussetzungen für jene erfolgreicheren Romane und Serien schafft, die urbane Fantasy mit paranormaler Romantik verbinden.
Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch Bedlam’s Bard (1998) von Mercedes Lackey, das Ähnlichkeiten mit dem Krieg um die Eichen hat. Auch hier handelt es sich um eine Geschichte über Musik und Elfen in einer zeitgenössischen Umgebung. Es ist interessant zu sehen, wie urbane Fantasy-Autoren Folk- und Rockmusik in ihre Erzählungen integriert haben. Charles de Lint erzählt in seinen Geschichten oft von Musik, und das ist kein Zufall. In den 70er Jahren beeinflusste die Fantasy- und Horrorliteratur die Populärmusik in hohem Maße, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass die Musik in den 80er und 90er Jahren sozusagen diese Gunst erwiderte, indem sie eine neue Generation von Fantasy-Geschichten inspirierte. Dieses riesige Thema verdient allerdings einen gesonderten Beitrag; denn nun wollen wir wieder zur Sache kommen und über Vampire sprechen!
Hier sind Vampire!
Heute sind Vampire aus der urbanen Fantasy nicht mehr wegzudenken. Sie sind überall. Anfang der 90er Jahre war dies jedoch nicht der Fall. Der Roman, der Vampire in die urbane Fantasy einführte, war 1993 “Bittersüße Tode” von Laurell K. Hamilton, der erste Teil der Anita Blake-Serie.
Wie ich bereits im Artikel über die Ursprünge der urbanen Fantasy erwähnt habe, ist es schwierig, die Grenzen zwischen Vampir-Fantasy (einem Subgenre der Horrorliteratur) und urbaner Fantasy zu ziehen. Meiner Meinung nach besteht der Unterschied zwischen Horror und Fantasy darin, dass ersteres eher introvertiert und letzteres eher extrovertiert ist. Horrorliteratur konzentriert sich oft auf das, was die Charaktere fühlen, mit einem Schwerpunkt auf starke negative Emotionen wie Ärger, Angst, Trauer, etc.. Fantasy stützt sich mehr auf den Sinn für das Wunder, und beinhaltet in der Regel einen umfangreichen Weltenbau, um diese Wirkung zu erzielen. Das ist keineswegs eine absolute Regel, aber sie gilt doch recht häufig.
“Bittersüße Tode” ist schwer zu kategorisieren, da es sich gleichermaßen an Horror-, Thriller- und Fantasy-Genres anlehnt. Der Roman spielt in einer Welt, in der Vampire den Lebenden ihre Existenz offenbarten. Wie zu erwarten war, sorgte eine solche Offenbarung für Aufregung, wenn nicht gar Panik. Schließlich sind Vampire für Menschen keine Opfer. Was sollte also der rechtliche Status eines Vampirs in unserer Gesellschaft sein? Sollten sie die gleichen Rechte wie die Lebenden haben?
Die Autorin überspringt gerne die sozialen und rechtlichen Aspekte dieses Problems, um sich auf die Handlung zu konzentrieren. Anita Blake hat einen ungewöhnlichen Beruf: Sie ist Animatorin und arbeitet für die Polizei. Sie erweckt die Toten, damit die Polizei sie verhören kann. Praktisch für die Polizei, nicht wahr? Ihre Hauptzeugen sind tot? Keine Sorge, Anita Blake wird sie für Sie wiederbeleben!
Ihr anderer Job ist noch gefährlicher: Sie richtet Vampire hin. Wenn sie einen Gerichtsbeschluss zur Hinrichtung hat, kann sie einen Vampir in aller Legalität töten. Wenn sie keinen Gerichtsbeschluss hat … Nun, sie tötet diese Blutsauger sowieso. Nicht alle Vampire werden im Roman als blutrünstige Monster dargestellt, aber es wird angedeutet, dass die meisten von ihnen genau das sind. Wir sind nicht weit von der TV-Serie Buffy – Im Bann der Dämonen (1997-2003) entfernt. Kurz gesagt, Anita Blake ist eine selbsternannte Agentin 007 mit einer Lizenz zum Töten, und sie benutzt diese Lizenz recht großzügig und eliminiert die bösen Jungs, ob sie nun leben oder untot sind. Mit „Jungs“ meine ich sowohl Männer als auch Frauen, denn der Hauptschurke des Romans ist ein weiblicher Vampir. Kein Sexismus hier.
“Bittersüße Tode” ist ein Roman, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite beschäftigt. Hamilton zeichnet sich durch die Kunst aus, Spannung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Ihr Stil ist voller starker Empfindungen. Es wäre jedoch unfair zu sagen, dass der Roman nur sensationslüstern ist. Unter einer relativ flachen Vampirjägergeschichte kann man einige interessante Beobachtungen über die menschliche Psychologie ausmachen.
Hamilton ist wahrscheinlich die erste urbane Fantasy-Autorin, die sich in das Reich der weiblichen Fantasien vorwagt. Im folgenden Jahrzehnt werden wir vielen Schriftsteller/innen auf diesem Weg folgen. Diese Fantasien sind nicht so unschuldig, wie es sich männliche Autoren vielleicht vorgestellt haben. Zum Beispiel werden viele Frauen von Männern mit starken Persönlichkeiten angezogen. Das wussten wir spätestens seit Byron und seinen Gedichten über charismatische, aber gefährliche Männer. Seit Anfang der 40er Jahre beschäftigt sich das Kino mit diesem Thema. Gefahr und Romantik – eine gewinnbringende Kombination! Humphrey Bogarts Verkörperungen mögen hart, manchmal sogar gefährlich gewesen sein, aber keine von ihnen konnte sich in Raffinesse und Wildheit mit Anne Rices Lestat oder Hamiltons Jean-Claude messen.
Raffinesse, Wildheit und Sexappeal – das ist die siegreiche Kombination für einen Vampir in einem urbanen Fantasy-Roman. Hamilton verstand das und stellte Vampire als die Verkörperung der tiefsten weiblichen Wünsche dar. Obwohl diese Ansicht zunächst schockierend erscheinen kann, ist sie angesichts der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse überraschend aufschlussreich. (Für wissenschaftliche Informationen zu diesem Thema empfehle ich das Handbuch der Evolutionären Psychologie von D. M. Buss. Siehe insbesondere das Kapitel Sexuelle Interessen von Frauen über den gesamten Ovulationszyklus hinweg: Funktion und Phylogenie von S. W. Gangestad, R. Thornhill und C. E. Garver-Apgar.)
Sprechen wir nun über einen anderen urbanen Fantasy-Autor, der das Genre mitgestaltet hat. Er braucht keine besondere Vorstellung; meine Damen und Herren, hier ist Neil Gaiman!
Niemalsland von Neil Gaiman
“Niemalsland” begann als Fernsehserie, die erstmals 1996 auf BBC Two ausgestrahlt wurde. Sie wurde von Neil Gaiman und Lenny Henry geschrieben und von Dewi Humphreys inszeniert. Im selben Jahr adaptierte Gaiman die Serie zu einem Roman. Und was für ein einflussreicher Roman das war!
Niemalsland ist eine Parallelwelt, die neben der unseren existiert, aber normalerweise von uns nicht gesehen werden kann. Manchmal fallen Menschen aus unerklärlichen Gründen „durch die Ritzen“ und werden Teil dieses unsichtbaren Universums. Gaiman benutzt dies als Metapher für soziale Ausgrenzung; diese Menschen sind nicht mehr Teil der zivilisierten Gesellschaft, verloren alles, was sie besaßen, sind obdachlos und müssen den rücksichtslosen Regeln der Unterwelt gehorchen. Doch so grimmig dieser Ort auch erscheint, er ist voller Abenteuer und Magie, was ihn für eine romantische Seele attraktiver macht als unsere scheinbar sichere und berechenbare technologische Welt.
Es gibt keine Vampire oder Werwölfe in Niemalsland, aber es gibt alle möglichen fantastischen Kreaturen, einige von ihnen sind dabei fremdartiger als andere. In diesem Roman entdeckt der Protagonist die Existenz eines unsichtbaren London, eines unterirdischen London. Hinter jeder Londoner U-Bahn-Station verbirgt sich eine geheime Welt, die an die mittelalterliche Vergangenheit der Stadt erinnert. Es gibt ein Kloster unter Blackfriars, am Earl’s Court lebt ein echter Graf mit seinem Hof, und unter Angel versteckt sich … na ja, ein Engel! Interessanterweise gibt es in Niemalsland keine paranormale Romanze, nicht einmal einen Hinweis darauf – das ist urbane Fantasy in ihrer reinsten Form.
Ich glaube, Niemalsland ist einer der besten urbanen Fantasy-Romane überhaupt. Witzig, fantasievoll, aber auch zum Nachdenken anregend – so sollte das Genre sein. Im Mittelpunkt einer urbanen Fantasy-Geschichte sollte die Stadt stehen, das urbane Leben mit seinen Gegensätzen und Paradoxien.
Urbane Fantasy mag ein eskapistisches Genre sein, aber dies ist ein zweideutiger Eskapismus, der uns immer wieder in die Realität zurückführt. In Niemalsland wird dieser zweideutige Eskapismus durch die Konflikte, die der Protagonist im oberen und auch im unterirdischen London hat, aufgezeigt. Ersteres repräsentiert die Realität, zweites die Fantasie.
Gaiman produzierte weitere bemerkenswerte Werke, insbesondere die Comic-Serie “Sandman” und den Roman “American Gods” (2001), für die er mehrere Preise erhielt, darunter Hugo, Nebula, Locus und Bram Stoker Awards.
Im nächsten Beitrag zur urbanen Fantasy werden wir über die Entwicklung des Genres im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sprechen, beginnend mit Jim Butcher und Kelley Armstrong.
New Orleans, Mai 1919. Ein mysteriöser Mörder geht um, den man den Axeman nennt. Ähnlich wie im Fall Jack the Ripper gibt es einen Spottbrief, den er an die ansässige Zeitung schickt (beim Ripper war es die Polizei selbst, an die die Briefe adressiert waren), und ähnlich wie Jack the Ripper gab es den Axeman wirklich, auch er wurde nie gefasst, die Morde hörten einfach auf.
Bei seinen brutal verstümmelten Opfern hinterlässt er stets eine Tarotkarte.
Die Ermittlungen werden von drei unterschiedlichen Seiten aufgezogen. Da sind Detective Lieutenant Michael Talbot, der ehemalige Polizist und Mafioso Luca D’Andrea, der frisch aus dem Gefängnis entlassen wurde, und Ida Davis, eine Sekretärin der örtlichen Zweigstelle der Detektei Pinkerton, die unabhängig voneinander die Morde untersuchen.
Ray Celestins Debütroman führt uns zurück in die Zeit, in ein New Orleans nach dem ersten Weltkrieg. Die Erzählung wechselt zwischen den drei Hauptfiguren, die alle einen anderen Ansatz haben, und sie nimmt uns mit, um eine Reihe historischer Verbrechen zu untersuchen. Dabei sehen wir interessanterweise nicht nur drei Möglichkeiten, sich einem Verbrechen zu nähern, wir erleben auch die Stadt aus drei unterschiedlichen Perspektiven, die sich im Laufe der letzten hundert Jahren kaum verändert hat, glaubt man den Stimmen, die sich damit auskennen. Tatsächlich gilt New Orleans als die große Ausnahme unter den Städten dieser Welt, eine regelrechte Besonderheit in jeder Hinsicht, und das sickert aus nahezu jeder Zeile des Romans hervor.
Michael Talbot ist Ire der zweiten Generation, ein Mitglied der Polizei, und er hat es schwer mit seinen Kollegen. Vor einigen Jahren musste er gegen seinen damaligen Chef Luca D’Andrea aussagen, was diesen für fünf Jahre ins berüchtigte Gefängnis “Angola” brachte.
D’Andrea selbst ist ein italienischer Mafioso, der sich innerhalb der Polizei hochgearbeitet hatte. Nach fünf Jahren wieder auf freiem Fuß, ist sein einziger Wunsch nun, in seine Heimat Sizilien zurückzukehren und seine Tage dort zu beenden, wo er hingehört. Doch Carlos Matranga, der Kopf der ansässigen Mafia, hat noch eine letzte Aufgabe für ihn, bevor er ihn gehen lassen wird: die Identität des Axeman zu ermitteln, der bisher ausschließlich italienische Lebensmittelhändler und ihre Familien getötet hat.
Die dritte Erzählung folgt der jungen Ida Davis, die als Sekretärin im örtliche Büro der Pinkertons arbeitet, ein Kompromiss, den sie einging, um ihren Fuß auf die erste Sprosse der Karriereleiter zu setzen, die sie letztendlich zu einer eigenständigen Detektivin machen wird. Ihr Boss, ein fauler Cajun, könnte durchaus in der Hand der Mafia liegen, die man “Die Familie” oder “Die schwarze Hand” nennt. Also muss sie ihre Ermittlungen heimlich und mithilfe ihres jungen Musikerfreundes Louis “Little Lewis” Armstrong durchführen.
In Celestins Wahl der Protagonisten steckt viel von der Persönlichkeit der Stadt selbst: New Orleans war schon immer so etwas wie ein kultureller Schmelztiegel, und die Tatsache, dass nur einer der drei Protagonisten ein echter Orleanese ist, spiegelt dies wider. Celestin schenkt der Stadt große Aufmerksamkeit, so dass sie eine wichtige Rolle in der Erzählung übernimmt, und bemüht sich sehr darum, dass der Leser die Hitze spüren, die Gerüche riechen und die Geräusche hören kann, die diese Stadt so einzigartig machen. Mehr als jeder andere Autor seit James Lee Burke macht Celestin diese Stadt lebendig und versetzt den Leser mitten hinein.
Diese Schmelztiegel-Kultur strotzt vor religiösen, rassischen und politischen Spannungen, und es ist diese Spannung, die den gebrochenen Erzählstil der Handlung bestimmt. Talbot ermittelt, weil es seine Aufgabe ist, dies zu tun; D’Andrea ermittelt wegen der italienischen Verbindung und weil die Schwarze Hand dabei beobachtet werden will, wie sie die Dinge selbst in die Hand nimmt; Ida hat ihrem Chef etwas zu beweisen, möchte aber auch sicherstellen, dass Gerechtigkeit geübt wird und die Verbrechen nicht, wie die in der ganzen Stadt vorherrschende Theorie besagt, bequem dem nächsten Schwarzen in die Schuhe geschoben werden.
Das Rätsel selbst ist ein wenig prosaisch und soll nicht unbedingt vom Leser gelöst werden können. Was “Höllenjazz” lesenswert macht, sind die Figuren, der Schauplatz und die clevere Konstruktion, die dafür sorgt, dass diese drei Ermittlungs-Stränge während der gesamten Romandauer parallel laufen, selten dieselben Hinweise aufgreifen und niemals Informationen von einem zum anderen streuen. Am Ende des Romans ist es interessant zu sehen, wie jeder der Ermittler zum richtigen Schluss kommt, aber die Schönheit des Romans liegt in der Tatsache, dass am Ende die einzige Person, die die ganze Geschichte kennt, der Leser ist, der die Informationen aus den drei verschiedenen Abenteuern zusammenfügt.
Als Liebhaber einer solchen Mischung aus historischen Fakten und Fiktion bin ich etwas spät auf dieses Buch aufmerksam geworden, es erschien nämlich bereits 2018. Die Tatsache, dass New Orleans einer meiner Lieblingsorte auf dem Planeten ist – und die Tatsache, dass Celesetin diesen Ort so hervorragend dargestellt hat, ist schon allein ein Grund, das Buch all jenen zu empfehlen, die etwas mit dem frühen Jazz und dem Schauplatz anzufangen wissen. Eine der interessantesten Figuren ist natürlich Louis Armstrong, dem wir an einem Punkt in seinem Leben begegnen, wo er noch nicht die Sensation des ganzen Südens der USA ist.
In diesem Debüt geht es also vor allem um Charakterzeichnung und die Lebendigkeit eines Ortes. Es ist die punktgenaue Wiedergabe eines einzigartigen Zeitpunkts und eines einzigartigen Ortes auf der Erde, und der Roman hat genug Spannung, um sicherzustellen, dass der Leser während der ganzen Zeit beschäftigt bleibt. Celestin zeichnet sich durch Detailgenauigkeit aus – sowohl in Bezug auf die Geschichte als auch auf den Schauplatz – aber niemals um den Preis, die Geschichte zu vernachlässigen. “Höllenjazz in New Orleans” ist ein ausgezeichneter Erstling, die perfekte Einführung einer hochtalentierten neuen Stimme, die mittlerweile bereits zwei neue Romane vorgelegt hat. Der letzte – “Gangsterswing in New York” – erschien 2020, und da die ganze Reihe mit City Blues Quartett betitelt ist, wird es natürlich noch einen Roman aus dem Topf Stadt – Musik – Verbrechen geben. Und es bleibt vor allem historisch.
In der ersten Januarwoche laufen die Klavierkonzerte von Mozart durch die Cambridge-Anlage. Heute vor allem Nr. 9 “Jeunehomme” und Nr. 12, also das erste Wiener Klavierkonzert. Mit Mozart hatte ich mich schon einmal beschäftigt, als ich 1992 in München lebte und täglich zu Besuch in einem dortigen großen Musikhaus war (wenn es mich nicht zum Gasteig zog). Damals war gerade die Gesamteinspielung auf CD erschienen – ein unerschwingliches Projekt für einen armen Poeten. Hätte ETA Hoffmann nicht ein so regen Interesse an Mozarts Musik gezeigt, wäre ich vielleicht überhaupt erst wesentlich später auf ihn gekommen, denn zu dieser Zeit hatten es mir noch die schwermütigen Komponisten angetan, die ich heute nicht mehr allezeit vertrage.
Dabei war es gar nicht geplant, in die klassische Sparte zu tauchen, nachdem in den letzten Monaten der progressive Rock und der Jazz überwog, aber die Stimmungen sind wie ein Karussell, und große Interessen erfordern einen großen Rundgang. Um ehrlich zu sein, hat die Sammlung in den letzten Jahren etwas gelitten und die bevorzugte klassische Musik hatte ich ausnahmslos auf Musikkassetten gespeichert. Jetzt aber versuche ich, die für mich jeweils besten Einspielungen auf CD zu sammeln, was wieder zu Alfred Brendel führt, der hier mit der Academy of St Martin in the Fields vorzügliche Arbeit leistet, und auch wenn er als einer der bedeutendsten Schubert-Interpreten seiner Zeit gilt, stehen die vorliegenden Aufnahmen seinem Können natürlich nicht nach.
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In der Nacht war’s mir, als müsste ich noch einmal von der Geschwindigkeit Abschied nehmen. In den letzten Monaten verfolgte ich die literarischen Neuerscheinungen mit einem gewissen Eifer – und tatsächlich las ich im letzten Jahr so viele neue Bücher wie noch nie, und das mit einigem Erfolg. Zwar ist es unsinnig, die gegenwärtigen Autoren gegen die älteren aufzuwiegen, aber die Hektik, die alles Heutige begleitet, verleidet mir einiges auch hier. Unterm Strich sind es dann ja auch gar nicht so viele Bücher, die den tieferen Blick lohnen, als dass man sie nicht stemmen könnte.
Die große Olympia habe ich jetzt erneut aus dem Keller geholt, und auch wenn es an Platz mangelt, kann ich am Ende doch nicht davon lassen, meine Skripte in Reinform zu tippen. Albera hat mir dazu die nötigen Mappen besorgt und weist auch die Farben den entsprechenden Werken zu.
Heute recht früh zugange. Aufstand um sechs, sozusagen. Albera at School. Rosinenbrot in ihrer Tasche, auch für morgen noch. Mit Herbst ist – wenn man so raussieht – nicht viel los in diesem Jahr (dafür gabs Frühling).
Die “letzte Hand” Böhmwind bleibt jetzt auch letzte Hand Böhmwind (“Der katabatische Elvegust” erschien mir als Titel zu exzentrisch, was im Angesicht des ganzes Skripts etwas lustig anmutet)
Derweil plätschert noch der frühe Jazz von Jelly Roll Morton, Duke Ellington und Earl Hines aus den Sprechern, alles von der legendären “Jazzuela”. Bevor ich jedoch zum Tagwerk übergehe, lese ich noch (und endlich) Elizabeth Kostovas “Der Historiker” fertig, das ging mir gestern Nacht nicht mehr vor lauter Müdigkeit. Interessanterweise hat mich der Beruf des Historikers schon immer interessiert, weil er mit meinen persönlichen Interessen (I’m Old Fashioned) gut übereinstimmt. Für mich gibt es die Zeit des Millenniums nicht, ich mache bereits in den 1980er Halt, lebe aber im 19. Jahrhundert (so gut es eben geht).
Liegt zwar auf meinem Plattenspieler, ist aber eine hübsch aufgemachte CD
“Jazzuela ist meine bescheidene Hommage an Julio Cortázar”, schreibt Pilar Peyrats 2001 im Epilog seines Booklets zur CD, das eine echte Perle ist, weil sie durch die Arbeit von Julio Cortázar im Allgemeinen und detailliert durch die Kapitel von Rayuela führt – allerdings leider nur auf Spanisch und Französisch (Deutsch ist als Kultursprache ohnehin fast nirgendwo mehr anzutreffen – natürlich zurecht). Peyrat extrahiert hier Gespräche, Erklärungen, Kommentare und Apostillen rund um die Musik, die von den Protagonisten gehört wird. Die CD selbst enthält 21 Tracks (19, die in Rayuela vorkommen, und 2, die aus anderen Arbeiten Cortázars stammen). Rayuela (das in Frankreich “Marelle” genannt wird, zu lesen und Jazzuela zu hören, bedeutet, in eine Welt erstaunlicher Orte und magischer Klänge einzutauchen, die von Orchestern und Interpreten wie Duke Ellington, Louis Armstrong, Frank Trumbauer, Kansas City Six oder The Chocolate Dandies, der Stimme von Bessie Smith, Bill Big Bronzys Gitarre, Gillespies Trompete, Coleman Hawkins’ Saxophon und Eral Hines’ magischem Klavier aufsteigen. Als Julio Cortázar 1951 beschließt, nach Paris zu reisen, um dort zu bleiben, beherrscht die Jazzmusik die kleinen Clubs, die eher als Höhlen am linken Seineufer zu bezeichnen sind. Die großen amerikanischen Persönlichkeiten des Genres spielen hier ihre besten Improvisationen für eine kleine Gruppe bedingungsloser Liebhaber und wohnen in kleinen Hotels in der Nachbarschaft, darunter das legendäre La Louisiane, in dessen Zimmern sie tagsüber schlafen, Abenteuer mit Pariser Intellektuellen und der Bourgeoisie erleben (noch heute bietet La Louisiane in der Rue de Seine den Touristen, meist Amerikaner, die die Geschichte des Hotels und des Jazz kennen, sehr günstige Zimmer mit minimalem Komfort – sie haben nicht einmal einen Fernseher – sind aber sehr gemütlich). Ich war jetzt schon seit über zehn Jahren nicht mehr da, was vor allem daran liegt, daß ich nicht mehr reise, Jazzuela aber, da sich nun endlich auch in meiner Sammlung habe, gemahnt mich, diese Praxis noch einmal zu überdenken.
Heute Morgen noch einmal beim Orthopäden gewesen. Meine linke Schulter war nun seit Dezember letzten Jahres eben kein Dreh-und Angelpunkt mehr. Nun bessert sich die Sachlage, muss aber, wenn ich wieder völlige Bewegungsfreiheit erlangen möchte, vielleicht in zwei Monaten operiert werden. Ich kann schreiben und lesen; muss ich mich etwa auch bewegen können? Ich arbeite gerade am zweiten Intermeso und an der siebten Abteilung “Wolf aus Erz” für den Schwarzenhammer-Zyklus. Rose geschnitten, Hornveilchen ebenfalls; morgen werden wir von einem Baugerüst eingekesselt sein, auf denen Hampelmänner dem Haus einen neuen Anstrich verpassen werden. Ich empfange sie mit Hardcore-Jazz.
Eine Jazz-Geschichte schreiben hieße, sie zumindest so gut zu machen wie Cortázars Der Verfolger, diese unvergleichliche Erzählung über Charlie Parker (Johnny Carter). Auch bei Miller gibt es ab und an Jazz, verstanden hat er ihn allerdings immer nur mit seinem Schwanz – was ja so gesehen richtig ist. Boris Vian schließlich war selbst Musiker und schrieb eigentlich nur zum Vergnügen. Sein Der Schaum der Tage hat nichts mit Jazz zu tun, aber es gehört zum Besten seiner Zeit. Es bleiben uns immer nur Epochen, die selbstredend auch nur erfunden sind. Das Gefüge der ganzen Historie, die Konstellation also, die zu einem bestimmten Zeitgeist führt, das ist der eigentliche Heraklit (oder Henry James’ Drehen der Schraube):
Ich muss mich langsam um eine Krankenversicherung kümmern. Ich war zwar zwischenzeitlich drei Monate versichert, aber der Geldmangel trieb mich wieder aus diesem sozialen Zwang heraus.
Es wurde dann gestern doch etwas spät. Die Musik: ein wertiges Easy Listening mit einigen Jazz-Standards, die wie Perlen von der Bühne tropften. Das Klecks hat eben auch die Atmosphäre dafür, die mich auch wieder auf die Idee zubewegt, die mich nicht loslässt: hier auch ein Literaturfestival zu inszenieren. Ich bin, wie ich das überschauen kann, der einzige Autor in Kempten. Aber es gibt hier eine kunstinteressierte Sozietät.
Zweiter Stützpunkt wäre das Künstlerhaus, zu dessen Eröffnung ich vor Jahren eingeladen war. Ich weiß nicht, was aus den ganzen Installationen geworden ist, und so liegt es nahe, mich rückzuversichern. An Ideen fehlt es hier, alles wirkt träge.