Lin Carter, der sich zusammen mit L. Sprague de Camp mit dem Nachdruck und der Sammlung alter Fantasy-Werke beschäftigte, beantwortete die Frage so: Der erste, der eine solche Geschichte schrieb, war William Morris, der Autor von “Die Quelle am Ende der Welt” und “Die Zauberin jenseits der Welt”. (Und auch die deutsche Übersetzung wirbt mit dem Etikett “Begründer der Fantasy”). Auf den ersten Blick wirken diese beiden Romane tatsächlich wie “High Fantasy”. Aber spielen sie wirklich in einer anderen Welt?
Zunächst stellt sich die Frage, was eine erfundene oder von uns unabhängige zweite Welt ist. Natürlich eine mit eigener Geographie und Geschichtsschreibung, die sich von der unseren völlig unterscheidet. Aber wie groß müssen die Unterschiede sein? Man könnte meinen, dass Bücher entweder aus dem Drang heraus geschrieben werden, die Welt nachzuahmen, oder um etwas Neues zu schaffen, und dass wir am Ende von Realismus oder Phantastik sprechen. Aber das wäre unbefriedigend, denn natürlich beruht jede Literatur in erster Linie auf Erfindung, ob sie sich nun realistisch nennt oder nicht.
Gehen wir also davon aus, dass jeder literarische Schauplatz eine Art Ersatz- oder Zweitwelt ist, in dem Sinne, dass diese Welt der Phantasie und dem Können des Autors entspringt. Auch in journalistischen Arbeiten und Sachtexten existiert das Dargestellte nur im Kopf des Autors (und des Lesers). Das bedeutet, dass jede Umgebung geeignet ist, in einer Phantasiewelt angesiedelt zu werden. Nehmen wir an, wir lesen ein Buch, das in Berlin spielt, und wir kennen Berlin gut genug, um die Orte Alexanderplatz oder Brandenburger Tor und schließlich die gesamte Geographie so weit zu verfolgen, dass wir sie als korrekt dargestellt erkennen.
Nehmen wir weiter an, die Geschichte lehrt uns, dass Berlin 15 Millionen Einwohner hat und dass der dortige Fußballverein Hertha in den letzten Jahrzehnten regelmäßig Deutscher Meister geworden ist. Jeder Berliner oder Fußballfan weiß spätestens jetzt, dass dies nicht den Tatsachen entspricht. Handelt es sich also um Irrtümer oder lesen wir hier über eine Phantasiewelt? Andererseits: Was wäre, wenn die Stadt „Beutelstadt“ hieße, 3,5 Millionen Einwohner hätte, den Reichstag und einen nicht ganz so erfolgreichen Fußballverein? Bedeutet der Unterschied im Namen schon eine andere Welt, wenn doch so vieles gleich ist?
Diese Fragen können je nach Text unterschiedlich beantwortet werden. Es gibt natürlich ein prominentes Beispiel: Thomas Hardy hat viele seiner Bücher im Südwesten Englands angesiedelt, die Gegend aber „Wessex“ genannt, und er verwendet oft real existierende Orte mit fiktiven Namen – die Stadt Dorset wird zum Beispiel zu „Casterbridge“. “Kein Detail ist sicher”, schrieb er, “die Beschreibungen von Städten und Dörfern mit fiktiven Namen sind nur durch reale Orte inspiriert und werden schamlos für ihre eigenen Zwecke benutzt.
Betrachten wir einen anderen Schriftsteller, der nicht gerade als Erfinder von Welten bekannt ist: William Faulkner. Viele seiner Erzählungen spielen in „Yoknapatawpha“, einem erfundenen Land, das auf dem real existierenden Lafayette County basiert. Faulkner erfand eine Geschichte für sein Land und entwarf sogar eine Karte, die in seinem Buch “Absalom, Absalom! (Auch Hardy hatte eine Karte von Wessex).
Das sind nicht die zweiten Welten, die wir suchen (oder was die meisten darunter verstehen würden), aber sie weisen in die richtige Richtung. Sie gehören nicht zu den unabhängigen phantastischen Welten. Sie sind Teil der real existierenden Welt. Ihre Geschichte gehört zu dem Land, in dem sie angesiedelt sind, ihre Gesellschaft ist die der realen Welt zu dieser Zeit. Das Ziel der Autoren war es, so nah wie möglich an der Realität zu bleiben, auch wenn sie sich einige Freiheiten nahmen, die zu ihrem kreativen Repertoire gehörten.
Im nächsten Teil schauen wir uns den Mann an, der von vielen als Vater der Fantasy in Betracht gezogen wird. Und wir werden zu dem Schluss kommen, dass er nicht derjenige ist, nach dem wir suchen.