Meine fuffzich Leben

Den dritten Tag den Wecker um sechs. Ich bin wurmstichig während meiner Umprogrammierung, und ob sie gelingt –

Ich schreibe das, damit ich in den nächsten Jahren weiß, dass es schneite. Spitzbuben gebacken, das kommt mir doch gefährlich vor. Ich hatte das Experiment der frühen Vögel schon oft probiert, Sommers zumeist. Jede Katze mit ihren neun Leben erscheint mir lächerlich im Gegensatz zu meinen fuffzich.

Das kosmische Konzept der Aufzeichnung

Es gibt vermutlich nicht viele Dichter, die behaupten, bei ihrer Zeugung anwesend gewesen zu sein. Das ist keine Aussage, die man bewusst und ohne den Willen, das Publikum an der Nase herumzuführen, tätigen sollte. Es gibt aber einen Grund, warum man es dann eben doch tun sollte: den der Mystifikation. Mir vorzustellen, Ende August in einem Hotel in Düsseldorf in die Planungsphase des Lebens einzutreten, hatte stets etwas von einer Legendenbildung, obwohl es meiner gesicherten Wahrheit entspricht. Mir vorzustellen, wie meine Mutter aus dem Fichtelgebirge (sie muss in Selb in den Zug gestiegen sein) an einem Freitagabend hinauf zu meinem baldigen Vater fährt, der dort als Maschinenschlosser arbeitet, um ein romantisches Wochenende mit ihm zu verbringen, gelingt mir nur durch die Inanspruchnahme meines eigenen Verzehrens. Dieser Tag ist mir um vieles mehr wert als mein Geburtstag (insofern man sich selbst in Ehren hält), denn mein Schicksal zog seine Kreise und konnte (in meiner Vorstellung) noch gar nicht festgelegt sein. Wie viele Seelen mochten um den Körper meiner Mutter gerungen haben? Oder gab es gar kein Ringen und ich stand bereits als Sieger fest? Ich glaube, wir alle gestalten uns aus Träumen heraus, den guten und den schlechten. Objektiv gesehen gibt es keine Ewigkeit, sehr wohl aber spreche ich von Zuständen, die eine Art Stillstand erfahren. Es bedarf einer künftigen Wissenschaft, um zu erfahren, aus was sie bestehen. Wenn wir unsere Konserven nutzen, mit Film, Ton und Schrift, die wir zu archivieren suchen, dann bedienen wir uns im Kleinen eines kosmischen Konzepts der Aufzeichnung.

Über die Pfütze holpern

Stets auf der Suche nach den unsichtbaren Zusammenhängen, führt die Reise zu den Strömen des Unbeabsichtigten. Da kann man sich schwimmen legen, da kann man an den Ufern watscheln oder sich den Gespenstermantel anziehen und hoffen, dass dies das Symbol der Weiterreise ist. Heute – nach langem Furor – stimmt einfach alles, was nicht stimmte, wieder. Und vieles, was stimmte, nicht mehr.

Sodann, lasst uns Götter schlachten. Ich bin bereit, über vieles zu reden, aber nicht über meinen Tascheninhalt.

Romantische Rosinenbrötchen

Die Briten essen ihre Rosinenbrötchen an Karfreitag und nennen sie „cross buns“, im deutschen Norden ist das Rosinenbrötchen auch als „Heißweck“ bekannt. Auch in Frankreich backt man ein ähnliches kleines Ding, das im Grunde nichts anderes ist als ein Milchbrötchen mit Rosinen, wobei dort eher Rosinenschnecken aus Blätterteig favorisiert werden. Den Hefe- oder Germteig gibt es allerdings schon seit dem Mittelalter. Das Wort Rosine selbst stammt aus dem Lateinischen racemus (Beere); von dort wurde es zum französischen raisin und wurde dann umgebildet, und auch die hat man (etwa in Leipzig) schon 1502 in den Teig gemengt. Unsere Romantiker mampften sich mit Rosinenbrötchen durch ihre Kindheit, die armen Studenten hatten meist gar nichts anderes zu essen, denn so ein Hefebrötchen, leicht gesüßt und mit Rosinen gefüllt, ist mit wenig Geld herzustellen. Ein wenig Mehl und Zucker, Ei und Milch, sowie die wertvolle Hefe – und schon ist die brustförmige Leckerei zum Einsatz bereit. Ein kleines Glück ist dieses goldbraune Ding. Tatsächlich aber ist die Variante, die man bei sogenannten heutigen Bäckern bekommt, meist mit Backtriebmittel oder Trockenhefe aufgeschwemmt und hat wenig von dem vollmundigen, klassischen Geschmack an sich.

Dunkel gefärbte Töne

Eigentlich sollte ich dunkel gefärbte Töne finden, um diese Pest um uns herum zu beschreiben, aber ich verstumme im Angesicht einer solchen Katastrophe. Zu viel wird gesagt, aber kaum etwas bringt uns in irgendeine Richtung. Dabei ist es nicht so, dass ich in Lethargie verfalle, ich arbeite ununterbrochen, aber die Substanz ist mir abhanden gekommen. Man bereitet sich unbewusst auf ein mögliches Ende von allem vor. Natürlich kann man das von sich schieben – das gelingt eine Zeitlang, aber die Präsenz ist überwältigend. Mir ist in dieser Zeit sogar meine Trauer abhanden gekommen, sie ist einer Gleichgültigkeit gewichen. Der Tod als einzige Gewissheit untergräbt nicht den großen Reichtum an Unsicherheiten, die uns das Leben mit auf den Weg gibt. Mehr als flimmernde Eindrücke von der Welt bleiben uns nicht, vor allem kein Kontinuum.

Das Kameraauge

Das Kameraauge allein hat die Macht, etwas Vergangenes festzuhalten, das Ungeheuerliche der Vergangenheit, während das papierne Bild selbst noch lange Gegenwart bleibt. Die Erinnerung wird sich damit nicht so auseinandersetzen können wie die Erfindung. Irgendwann hat das Bild den Erinnerer überlebt, es bleibt allein die Vorstellungskraft, eine Schwester der Erinnerung, vielleicht ihr bester Teil. Mir wird beim Betrachten alter Daguerreotypien klar, dass dies nichts anderes als Geisterfotografie ist, und wie ich über Geister denke, natürlich ganz allgemein, so wird meine Geschichte sein, die ich dem Bild verspreche.

Zur Bibliothek

Um die besonderen Bücher zu finden, insofern man sie nicht bereits in seiner Sammlung hat, ist es unabdingbar, immer weiter den Spuren zu folgen. Früher war es so, dass man dem Literaturverzeichnis folgte und sich die nächsten Stationen heraus schrieb. Des weiteren fand man – gerade in Taschenbüchern – am Ende ein reichhaltiges Register oder sogar Werbung für ähnliche Werke wie dieses, das man gerade in Hände hielt. Das bedeutet nicht, dass es heute nicht ähnlich funktioniert, aber die Trefferquote ist doch längst nicht mehr so hoch wie zu Beginn eines Leselebens, aber die Spurensuche funktioniert weiterhin überragend bei Sachbüchern, die sich sozusagen per definitionem aus angegebenen Quellen speisen.

Überlegt man sich, wie eine ausgewachsene und nennenswerte Bibliothek überhaupt zustande kommt, dann wird man zugeben müssen, dass – abgesehen vom Grundstock, den jede Bibliothek pflegen sollte, unabhängig davon, in welchen Zweig hinein sie sich später entwickelt – ein Großteil der Anschaffungen zunächst ungelesen eingeordnet wird. Man beginnt ein vielversprechendes Werk und legt es enttäuscht zur Seite, um zum nächsten Buch zu greifen. Manchmal kommt es sogar vor, das im gesamten Pulk nicht das zu finden ist, nach dem man gerade dürstet und schon mit der nächsten Bestellung zugange ist. Selbstverständlich hat man immer etwas zu lesen, es ist ganz und gar unmöglich, leer zu laufen, aber ich spreche hier von besonderen Büchern, von jenen, die sofort in den persönlichen Kanon wandern. Um so mehr Bücher auf den Markt geworfen werden, desto geringer werden die Meisterwerke, desto höher aber auch die Sichtungen, die dann den Umfang der Bibliothek merklich erhöhen.

Eine ganz andere Form

Gezehrt von diesen einstigen Dingen, die jetzt nicht mehr sind.
Die Welt hat sich seitdem nicht mehr blicken lassen, es ist wie bei den Dinosauriern.
Eine ganz andere Form, aber sie nennen sich beim gleichen Namen.

Ich gehe die Straße hinunter und habe die Wahl, schon an der Kreuzung links abzubiegen,
oder einfach geradeaus weiter zu gehen.

Links bin ich schnell im Park, der einer von vielen ist. Endet er, endet mein Weg und ich bin da.

Ad Hoc

Ich hatte von der Nacht seltsames vernommen. Ein Klopfen, das sich lose durch eine Winterlandschaft quälte, ohne eigentliche Herkunft. Das Raunen nichtexistenter Türen, als fielen sie in eine altes Schloss. Ich wurde des Atems gewahr, der über die Erde schwebte. Nichts ist je wirklich vergänglich.

Der Falle entkommen

Fantasie ist eine der wichtigsten Utensilien menschlicher Psyche, auf die wir zurückgreifen können. Kinder haben besonders viel davon, sie sind noch nicht zu Mitgliedern einer Wahrnehmungsdiktatur geworden – ihnen fehlen lediglich die Bausteine, um Fantasie einzurahmen. Haben sie diese Bausteine erworben, gelten sie gemeinsam als erwachsen und werden von Dingen angezogen, die nun außerhalb dieser Umfriedung liegen. In Erwachsenenkreisen erfahren die neuesten Mitglieder, dass es Regress bedeutet, wieder dorthin zurückzukehren. Nicht alle halten sich daran und erfahren bei ihrem Besuch des ehemaligen Gartens der Lüste den Wert dessen, was leichtfertig oder heuchlerisch oder ängstlich zurückgelassen wurde. Sie aber sind der Falle entkommen.

Eine raumlose Zeit

Die Erkenntnis wurde erfunden = sie ist kein Bestandteil der menschlichen Natur, nicht der älteste Trieb des Menschen; sie ist nicht keimhaft in ihrem Verhalten, ihrem Streben und Trieb. Die Erkenntnis ist das Ergebnis der Konfrontation und der Verbindung des Kampfes und des Kompromisses zwischen den Trieben. Weil die Triebe aufeinander stoßen, miteinander kämpfen und schließlich zu einem Kompromiss gelangen, entsteht etwas. Und dieses Etwas ist die Erkenntnis. Sie gleicht dem Funken zwischen zwei Schwertern, der ja auch selbst nicht aus Eisen ist. Es gibt keine vorgängige Übereinstimmung oder Affinität zwischen der Erkenntnis und den zu erkennenden Dingen. Das ist der große Bruch mit der Tradition der abendländischen Philosophie. Der Gesamtcharakter der Welt ist Chaos, nicht im Sinne einer fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit. Die Welt versucht keineswegs, den Menschen nachzuahmen; sie kennt keinerlei Gesetz. Die Erkenntnis hat mit dieser Welt zu kämpfen. Für die Natur ist es keineswegs natürlich, erkannt zu werden. Erkenntnis kann den zu erkennenden Dingen nur Gewalt antun.

Zeit ist der Träger der Qualität eines Ereignisses im Raum. Raum entsteht erst durch Zeit, und wenn man eines Tages ihre Dimensionen anerkennt, wird das Modell eines Raums nicht mehr benötigt. Synchronizität ist nicht durch Dimensionsausweichung des Raumes zu erklären, zumindest nicht befriedigend. Die Koexistenz von Raum und Zeit, ihre gegenseitige Bedingung (etwa durch eine Raumzeit) ist eine weitere Illusion. Ein zeitloser Raum ist undenkbar. Eine raumlose Zeit nicht.

Wie ein Kamin

Was ist, wenn man so wenig Achtung vor dem eigenen Werk hat, dass man es quasi hinauswirft, aus dem Fenster schmeißt, mit vollen Händen ausgibt, anstatt zumindest so zu tun, als ginge man als Künstler einem legitimen Beruf nach? Oder ist es gerade umgekehrt, die größte Achtung vor dem eigenen Werk, wenn man es wie den Atem sausen lässt (auch als Atmer geht man keinem Beruf nach), weil man ja tut, was getan werden muss; ist es also die Achtung vor dem eigenen Atem, der geliehen ist wie alles, was uns umgibt? Ist man also Geck oder Priester, weil man sich ja massiv von all den Konsumenten und Funktelefonisten unterscheidet, die viele Teile der Erde bevölkern? Ist man endlich im Zorn angekommen (der wie ein Kamin die Kemenate wärmt)?