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Der schwarze Punkt

Last updated on 19. Juli 2024

Die im roten Kleid. Die hätte mir auch gefallen. Ein rotes Kleid ist etwas ungemein Bizarres; auf der Leinwand steht es scheinbar still, jedoch hier vor meinen Augen flattert es umher, wirft sich in nicht ganz ernst zu nehmende Falten – und schwebt in den anliegenden Raum davon, das exakte Ebenbild von diesem. Gab es einen Unterschied, so bestand er in den Bildern an der Wand. Nur in den Bildern an der Wand; bis vor wenigen Augenblicken. Jetzt ist da noch das rote Kleid hinzuzufügen.

Ich hing in dieser Halle – ich drücke mich ganz recht auf diese Weise aus, denn die Identifikation mit meinem Werk ist total. Wir Künstler hängen an den Wänden, wir stehen nicht davor. Ich meine es ganz ernst: aufgeknüpft hängen wir da und nennen uns Das Bild oder aber das Bild ruft man nach uns. Ein Bogner, sagt man, sieh mal, dort hängt ein Bogner. Zumindest sagte man das, bevor ich dieses angebliche Meisterwerk fertigstellen konnte. Jetzt spricht man vom Bogner.
»Wo ist der Bogner?« fragt man, wenn man in der Stadt ankommt, noch nicht einmal sein Hotelzimmer bezogen hat, und dann wie ein Amokläufer an der Garderobe eintrifft.
»Aber Sir, die Ausstellung!«
»Die Ausstellung ist mir wurscht! Wo ist der Bogner?!«
Der Garderobiere, dem noch immer der Mantel vom angewinkelten Unterarm tropft, wird nun folgendes tun: er wird ihn nicht etwa zu mir führen, nicht vor mich hin stellen und sagen: »Darf ich vorstellen… Ignaz Bogner.« Statt dessen wird er ihm das Bild zeigen, umgeben von empfindlichen Geräten, darüber eine Kamera, die sich an den Gesichtsausdrücken der Besucher weidet, denn das Bild bin ich.
Alles in allem ist man in meiner unmittelbaren Umgebung der festen Überzeugung, ich könne nun zufrieden sein, ich hätte es endlich geschafft. Diese Zufriedenheit indes erfuhr ich nicht. Ich hatte ein Fragment abgeliefert, das nun in New York in der Laurence Markey Gallery an der Wand hing, bewundert von der ganzen Welt. Meine Unvollkommenheit, meine Ungeduld, ergo mein Scheitern. Es ist wahr, das Bild wäre ohne diesen Makel tatsächlich mein Meisterwerk zu nennen, es ist voller Grazie, die Farben selbst inspiriert von einem Leuchten, welches man sonst nur in der lebendigen Welt zu sehen bekommt. Das Motiv zeigt sich von seiner besten Seite, mein Arm, meine Hand, meine Finger bewegten sich während des kontemplativen Prozesses ohne meine bewusste Kontrolle. Ich hatte das Bild im Kopf und dachte gar nicht daran, es zu malen. Malen – ein ordinäres Wort ohnehin. Das Bild gestattete sich von selbst, sich meines Armes, meiner Hand, meiner Finger zu bedienen, um sich ans Tageslicht zu befördern.
Jemand von der Presse nahte sich mir, wo doch jeder weiß, dass ich keine Fragen beantworten kann. Statt jedoch zu flüchten oder zu stammeln, zeigte ich meinem Gegenüber, dass ich durchaus gerne antworten würde, wenn mir nur so etwas wie eine Antwort dämmerte, wenn sich diese wie ein mächtiger Albatros in die Luft schwänge (diese Luft muss natürlich mein Gehirn sein), um sich ganz meiner anzunehmen.
»Sie haben sicher nichts dagegen, dass ich Ihnen ein paar Fragen stelle.« Mit dem unbedingten Willen zur Analyse.
»Durchaus nicht. Ich bin sozusagen ein lebender Antwortautomat, bis auf dass ich keinen Schlitz habe, in den sie etwas hineinstecken können.«
»Sehr originell. Ein Antwortautomat. Können Sie mir denn sagen, wie lange Sie für dieses Gemälde benötigten?«
»Wie lange was?«
»Für das Bild… wie lange arbeiteten Sie daran?«
»Oh, ich arbeitete sehr lange daran, meist den ganzen Tag. Ich aß sogar im Atelier.«
»Und insgesamt? Alles in allem?«
»Das gefällt mir. Daß ihr jungen Leute noch so viele Fragen auf der Brust habt.« Ich lachte, etwas schmerzlich, denn die Zeiten meiner eigenen Fragen sind längst vorbei, und hub ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Er ging. Sobald er sich über die Festschrift seines Artikels machte, würde er all das, was ich ihm nicht gesagt habe, erfinden. Das sind echte schriftstellerische Qualitäten, die hier zum tragen kamen. Das könnte folgendermaßen aussehen, bitte erinnern Sie sich an den kurzen Wortwechsel, wie er wirklich stattgefunden hatte:
»Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
»Aber nein. Ich nehme mir gerne Zeit für sie, auch wenn ich keine Frau bin.«
»Ein Original! Wie ihr Bild! Können Sie mir sagen, wie lange Sie an diesem Werk arbeiteten?«
»Das kann ich, das kann ich sehr gut, es war ja schließlich meine eigene Zeit, die dabei drauf ging.« (Bemerken Sie, wie perfekt ich hier imitiert werde? Sogar die Nuancen stimmen, ich rede bisweilen tatsächlich in dieser Form.)
»Nun?«
»Drei Jahre; ja, drei Jahre. Etwas mehr als drei Jahre, ich musste mich zwischendrin auch ein paarmal waschen und meine Notdurft verrichten. Kennen Sie das geflügelte Wort noch: Notdurft verrichten?« (Nun, das ist schon sehr erstaunlich, finden Sie nicht? Beinahe schon beängstigend.)
Das Motiv: Man wird sagen, was ich mit diesen Impasto-Effekten versuche auszudrücken, sei etwas nicht Sicht- und nie Sehbares. Vor sich sehen Sie einen Schlüssel oder etwas, das Sie daran erinnern wird. Sie sehen, wie der Schlüssel jemandem übergeben wird. Wenn Sie das Bild lange genug betrachten, und dann die Augen schließen, wird der Schlüssel in die Hand des zweiten Mannes wechseln. Vielleicht erfahren Sie sogar, welche Tür, welches Schloss er öffnet. Was wir mit den Gemälden wirklich wollen: in Erinnerung rufen, dass wir uns eine Welt malen können. Wir malen das, was hinter der Oberfläche verborgen liegt, damit wir es dann in Ruhe betrachten können. Wir sind Energiescheibenspieler, für uns ist alles löchrig.
Sehen Sie sich um. Sie werden viele Ballkleider entdecken. Ohne Ballkleid kann man sich heute kein Bild mehr ansehen, man wird es nicht verstehen. Erst die Garderobe offenbart den tieferen Sinn dessen, was man schaut, den Sinn, den der Künstler in die Auseinandersetzung mit seinen Farbcocktails gelegt hat.
»Miranda, jetzt weiß ich, was es bedeutet: hinter diesem Bild ist ein weiteres Bild verborgen!«
»Was du nicht sagst!«
»Oh ja, siehst du es denn nicht? Da in der Tür… ist das nicht ein Frauengesicht, das sich dort im Muster abzeichnet?«
Damit hatte die Sprecherin gar nicht einmal unrecht. Mir ist es selbstverständlich auch aufgefallen, beabsichtigt war das nicht. Der Vordergrund korrespondiert mit dieser verfallenen Tür im Hintergrund, auch farblich. Das ominöse Frauengesicht hatte sich – natürlich von selbst – zwischen die Anordnung der verschiedenen Schattierungen geschoben, und war, zwar nicht auf Anhieb, so doch, wenn man es einmal entdeckt hatte, dem Blick nicht mehr entzogen. Von diesem Moment an würde es das Bild ohne das Gesicht nicht mehr geben.
»Ich kannte eine Tür wie dich.«
»Das ist gut möglich«, antwortete die Tür, »aber wie ich sehe, bist du nicht hindurch gegangen.«
»Aber doch. Ich ging täglich hindurch, sie führte direkt von einem Zimmer auf den Flur, der knarzte und wogte unter den Tritten und Schleichern. Aber ja… ich bin hindurch gegangen.«
»Das meine ich überhaupt nicht. Es besteht ein Unterschied darin, ob du eine Tür öffnest und durch sie hindurch gehst, oder ob du eine Tür öffnest und durch sie hindurchgehst. Ich will es dir nicht verheimlichen: sie hat das eine getan, du das andere.«
Türen, die geheimnisvollerweise mal offen und dann wieder geschlossen vorgefunden werden – erwecken Schauder.
Die Zeit hält uns zusammen. Wir würden ja in sämtliche Einzelteile zerplatzen. Wir sind, so glaube ich, der Moment der absoluten Hitze, des Funkens, ausgelöst durch den Zusammenprall von Vergangenheit und Zukunft. Wir sind die Hitze dieser Reibung und schon lodern wir auf, metaphysische Fackel – und versengen alles rund um uns herum, bis wir nurmehr glimmen und schlussendlich durch unsere eigene Asche kriechen. Die Zeit sucht sich gleich eine neue Ära und kollidiert abermals mit ihren Teilen.
»Sie haben ein Meisterwerk geschaffen!«
Ich nicke lieber, meine Unruhe lässt aber nicht nach. Ich wage es kaum, mein eigenes Bild noch einmal anzusehen, so sehr zieht es meine Aufmerksamkeit in seinen Bann, denn etwas Entscheidendes habe ich nach getaner Arbeit dieses eine Mal vergessen, etwas, das über all die Jahre zu einem Ritual wurde, das ich unterbewusst auszuführen vermochte; und erst jetzt, wo ich gezwungen bin, darüber nachzudenken, fällt mir auf, dass ich es kein einziges Mal vergessen hatte. Dieses Ritual war das Nabeln; ein schwarzer Punkt wurde wie beiläufig in der rechten unteren Ecke des Bildes plaziert, während ich bereits zusammenpackte, mir die Hände wusch, das Bild fönte, ein Taxi rief und zum Portier sagte: »Passen Sie gut auf das Bild in Zimmer 16 auf! Es ist ein Meisterwerk!«
»Ein Meisterwerk«, echote dieser, »was soll ich tun?«
»Betrachten sie es«
Der Portier begab sich daraufhin sofort wie ihm geheißen in Zimmer 16 und seufzte: so ein schönes Bild.
Ich bin keiner jener Maler, die man fragt, warum sie nicht lieber fotografieren, denn was ich sehe, erspäht keine Linse, keine dunkle Kamera; ich bin der botanische Garten der Farben, mit meinem Blut vermischen sich sämtliche Lasuren, und ich trage nicht auf Leinwand, ich fahre mit dem Pinsel die Konturen nach, als erfühlte ich die Vorlage mit meinen Händen in einer Kiste mit zwei Öffnungen, und sogar mit verbundenen Augen. Die Nacht ist die Leinwand für die Geister, so arbeitete ich also nachts, und das Weiß der Wand zog sich zusammen, verwandelte sich in einen ausspeienden Rachen, warf große Anteile des Nichts ins Atelier. Ich schloss den Rachen jeweils mit dem, was ich im Unbekannten ertastete. Und sie trugen sich auf, die Farben trugen sich auf, und malten mich, sie malten mich so wie ich aussah. Wir waren quitt.
Und nun hänge ich an der Wand, die sehr teuer ist. Ich bin das Bild und sein Künstler, bin die Figur mit dem Schlüssel, und bin derjenige, dem ich diesen Schlüssel gebe. Und die Frau in der Tür – ich weiß nicht, wer sie ist, aber sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit jener Dame, die vor Minuten den Raum gewechselt hat.

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