Gen Haubenschloßpark

Sissi Kempten

Man kommt nur dann außer Haus, wenn man außer sich gerät und weder plant den Ort noch den Weg. Dann gerät man außer Haus wie ein Abenteurer und seine Konkubine (oder wie eine Dame und ihr Kofferträger); wartet auf die Kutsch, die vielleicht nicht fährt und steigt dann in eine ein, die sich von Weitem schon als die gleiche wie immer erkennen lässt. Es gibt da dieses Mangrovengeflecht im Gehirn, das aussieht, als käme man nie hindurch. In Wahrheit sind es Treppensteine, die hinauf führen; dafür wurden sie gemacht, es ist ihr Begehr und Dasein.

Treppen

Was dachtet ihr Römer, als ihr euch eine Stadt vorstelltet, die es noch nicht gab, die hier noch nie gewesen ist und die ihr vielleicht nie kennen lernen werdet?

Kempten Anhoehe

Auch in Kempten gab es Eis

Sissi Kempten
Wollmammut
Zum Anlass der Sonderausstellung im Kemptener Marstall vom 28. Oktober bis zum 14. April 2024 postiertes Eiszeitwesen.

Vor 26.000 Jahren kam er hier an und erstarrte. Das kleine Wollmammut fraß wahrscheinlich gerade eine Dino-Heuschrecke (um sich nach getaner Wanderschaft und einer Menge frischer Luft belohnt zu fühlen), und da spürte er es: hier würden irgendwann die Römer (was sind Römer?) eine der schönsten Kleinstädte errichten (was sind Kleinstädte?). Es war diese Vision, die er kurz darauf wieder vergessen würde, aber später – viel später, würde er in die Geschichte eingehen als Dr. Kalle Mamm, jenes Wollwesen nämlich, das die Science Fiction in der Mastodon-Familie begründete. Man hatte ja nicht viel in der Eiszeit. Das Feuer war zwar schon bekannt, aber es zeigte sich nie dort, wo man es brauchte: im Kamin der eigenen Höhle nämlich.

Der Hexenschuss am Abend

Sissi Kempten

Es ist die dritte Nacht, in der mich die Poltergeister drangsalieren. Heute war es die Hexe mit ihrem Hexenschuss (wahrscheinlich habe ich mir einen Nerv im Steiß eingeklemmt), so dass ich bei jeder Drehung aufwachte. Als ich schließlich den Abort aufsuchen musste – ein Drang, der weißgott nicht zu ignorieren ist, will man überhaupt noch ein Auge zutun – kam ich nicht in die Höhe. Nach einer Viertelstunde hatte ich mich zumindest an der Bettkante aufgesetzt. Es gelang mir, mich in die Küche zu schleppen, um etwas Voltaren aufzutragen und siehe da, es wurde zumindest in der Weise erträglich, dass ich mich Bewegen konnte.

Tagsüber war davon überhaupt nichts zu spüren, das Flanieren über den Flohmarkt an der Allgäuhalle war sogar wieder sehr ertragreich. Drei Plattenstände abgegrast und bei jedem fündig geworden. Selbst Raritäten wie Larry Coryells The Restful Mind waren zu finden. Eine wirklich erstaunliche Entwicklung für Kempten.

Selbst ein kleines Spitzweg-Gemälde fand seinen Umschlag. Der gute alte Biedermeier-Stil – hier der “ewige Hochzeiter”, was ja nun wirklich kein unbekanntes Gemälde ist. Interessant ist die Rahmung, die aus alten österreichischen und schweizer Abbruchhäusern aus dem 16ten bis 19ten Jahrhundert rührt und zusammengesetzt wurde. Leider ist das Gemälde nicht komplett gefasst, sondern nur die Blumengabe an der Treppe. Natürlich ist ein Begriff so gut wie der andere; wenn man bedenkt, dass der Biedermeier vor dem “Realismus” angesetzt war – eine Epoche, die im Grunde zur Verlogensten überhaupt gehörte (was der Name “Realismus” ja schon aussagt), ist es kein Wunder, dass in permanenter Unstetigkeit ein Elysium aus Behaglichkeit auch heute noch bei empfänglichen Menschen durchschlägt, vor allem deshalb, weil sich heute mehr das Irrationale und völlig Menschenverachtende des Realismus durchgesetzt hat.

Straßenbau im Neunzehnten Jahrhundert

Sissi Kempten
Haggenmüllerstraße, Kempen (Foto: A. Anders)

Die Bagger werden zwar nicht mehr mit Dampf betrieben, weil die Kessel, in denen er produziert werden kann, mittlerweile kaum noch auf einem Flohmarkt zu finden sind und die Beschaffungskosten astrale Höhen zeitigen, aber das trübt das Gesamtbild nur marginal. Die Zeitreisenden freut es sicherlich zu erfahren, dass Kempten in diesem Jahr damit begonnen hat, sämtliche Straßen und Bürgersteige abzureißen, damit die Bevölkerung sich wieder am Matsch und am naturbelassenen Schlagloch erfreuen kann. Kinder werden ihre Papierschiffe wieder mitten auf der Straße kentern lassen können und auch Pferdescheiße wird bald wieder die glückliche Luft um uns herum erfüllen. Gegenwärtig ist das Pilotprojekt in der Haggenmüllerstraße zu bewundern, und ich kenne niemanden, der nicht vor Aufregung zittert, weil es endlich wieder in ein Jahrhundert voller Sonnenschein und Muse geht. Brechen wir gemeinsam auf.

Der Kobold am Forum

Sissi Kempten

Wir spazierten durch verlassenes und vergessenes Land, wir spazierten also durch die Kemptener Kälte, weil es stets die frische Luft ist, die sich am besten atmen lässt. Und schon waren wir auf dem Rückweg, näherten uns ganz wunderbar dem Weg, der uns an der Allgäuhalle vorbei führt (und auch schon so oft geführt hat). In den Wäldern ist es keine große Überraschung, auf das Kleine Volk oder andere Naturgeschöpfe zu treffen, auch wenn man sie nur in den Augenwinkeln blitzen sieht, in einer Stadt ist es jedoch mehr als außergewöhnlich (auch wenn es mehr Trolle, Feen und Schrate gibt, als man sich das vielleicht denken mag. Sie wissen ja andernfalls nicht, wo sie ihre Milch besorgen sollen).

Von der Ferne sah er so aus, als trüge er eine Maske, als er näher kam, sah er erschrocken hin und her, denn freilich bemerkte er, dass wir ihn erkennen konnten, als wir an ihm vorbei gingen. Zu einem Gespräch waren wir gar nicht gekommen, weil wir nicht weniger verblüfft waren als der Kobold selbst – eine Gattung der Goblins – mit seinem roten Haar.

Das Wort “Goblin” kommt eigentlich aus dem Griechischen “kobalos”, was Schurke bedeutet. Viele Unterrassen von Goblins durchstreifen die Welt von Nordeuropa bis in den Mittelmeerraum und sogar bis nach Japan, um sicherzustellen, dass die Menschen von ihrer Anwesenheit wissen. Übernatürliche Fähigkeiten können jedoch von Nation zu Nation oder von Kontinent zu Kontinent variieren. Das einzige verbindende Merkmal ist dabei ein schelmisches Bewusstsein, das in einer grotesken oder abschreckenden Form mit einem allgemeinen Bezug zur Nacht oder zu lediglich dunklen Orten verkörpert ist. Goblins gibt es schon seit sehr langer Zeit, so dass man im lateinischen Mittelalter diese Kreaturen mit dem Begriff “Gobelinus” benannte.

Die Kobolde sind dabei eine sehr bekannte Goblinrasse. Der Grund ihrer weiten Verbreitung liegt an ihrer Vielseitigkeit, da sie quasi überall zu finden sind – auf Schiffen, in Minen, und sogar in den Häusern der Menschen. So ändert sich auch ihr Erscheinungsbild, um sich dem Ort ihrer Wahl anzupassen. Die meisten Kobolde entscheiden sich jedoch für ein Leben als ambivalente Hausgeister, denn dort können sie ihrer Natur freien Lauf lassen, die darin besteht, im Haushalt zu helfen, oder – wenn sie vernachlässigt oder beleidigt werden – die Bandbreite ihrer bösartigen Streiche zu zeigen. Berüchtigter sind jedoch jene Kobolde, die in unterirdischen Stollen leben. Das Element “Kobalt” wurde nach ihnen benannt, da die Bergleute früherer Zeit das giftige, arsenhaltige Erz, in dem sich Kobalt findet, mit ihnen in Verbindung brachten.

Dass es sich bei unserer Begegnung um einen Kobold handelt, liegt also schon deshalb auf der Hand, weil andere Goblins eher nicht in einer Stadt auftauchen würden, maskiert oder nicht.

Die Geschwister Grimm in Kempten

Sissi Kempten

“Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. DAS ist doch merkwürdig!”

(Zitat von “Die-mit-dem-Dichter-spricht”)

Das Allgäu ist übervoll mit Menschen, an denen der Nonsense der heutigen Zeit zwar nicht abprallt, aber hier und da dann doch für das genommen wird, was er ist: eine vorübergehende Erscheinung. Gerade in den Bergen und in den Randbezirken gibt es noch eine Menge Zauber.

“Ich würde Sie niemals als Hexe bezeichnen!”
“Ich mich aber schon”

Naturheilkundige finden hier ihr Mekka. 1775 wurde die letzte Hexe in Kempten zum Tode verurteilt, aber nicht verbrannt. Sie starb eines natürlichen Todes. Vielleicht geht es Kempten deshalb so gut. Wer im schöpferischen Element tätig ist, der weiß, dass diese Kraft weiblich ist, auch wenn es Männer gibt, die das leugnen. Ich selbst wäre ohne die weibliche Urkraft seelisch wie körperlich bankrott. Deshalb die Große Mutter, deshalb Hexen. Aber mir geht es hier nicht um Elementarkräfte und deren Herkunft. Es ist ziemlich erstaunlich, dass sich Kräuterfrauen und solche, die sich selbst “Hexen” nennen nicht nur in den Allgäuer Dörfern finden, sondern mitten in der Mall, die gesichtslosen Konsum über ihre Jünger schüttet, die jeden Tag erneut anbranden, um dem Abfall der Industrie anheischig zu werden.

Der Weg, der unvermeidlich zu einem Ziel führt heißt: Offenbarung; und dass es nicht nötig ist, seine Schönheiten zu deklarieren, versteht sich von selbst. Nur jener, der im heimlichen Licht seine Warzen sehen lässt, seine Schuppen, seine Hexenhaare (die sich unter die Makellosigkeit mischen und die, trotz der Folterbank, auf der sie ausgerissen werden, mit Hohngelächter immer wieder kehren), kann eines Tages von sich behaupten: Ich wurde geliebt. (M. Perkampus / Die Laubfrau)

Bilder: A. Anders

Dass wir beide zufällig aussehen wie die Geschwister Grimm (nehmen wir einmal an, es wären keine Brüder gewesen), muss für viele Kemptener eine witzige Erscheinung gewesen sein. Zwar kann man nicht davon sprechen, daß wir etwas mit Schwefel veranstaltet hätten oder sonstwie mit der Welt ins Gericht gegangen, aber so eine geballte Ladung Kosmos sieht man auch nicht alle Tage. “Ich lese trotzdem ab und zu in der Bibel” ,sagte sie und kicherte dabei. “Im Johannesevangelium. Vor allem den Anfang finde ich interessant.” Sie mustert mich aufmerksam, fragt dann: “Haben Sie’s vor sich?” Ich nicke. Das hören wir Dichter gern: Im Anfang war das Wort. Die kleine Dame fand das merkwürdig. Ich nicht. Alles, was existiert, habe ich durch mein Wort geschaffen.

Das Schuhwerk seiner Frau

Sissi Kempten
Ein Männlein sitzt im Bauern fast still und stumm,
es hat auf seinem Bänklein zwei Tüten um.
Was mag in den Tüten sein,
das der Mann putzt ganz allein
auf dem Kempt'ner Bä-hä-hä-hä-hänkelein ...?
Schuhwerk

In diesem Beitrag wollen wir uns der fiktiven (und mächtigen) Klodhilde zuwenden, deren wirklicher (und fleißiger) Mann auf ein Bänkel auf dem Rathausplatz, kurz vor der Bäckerei Wipper) ausweicht, um sich seinen ehelichten Pflichten, die mancher gar nicht auf dem Schirm hat, zu widmen. Stellen wir uns die (fiktive) Klodhilde barbefußt und schwach bestrumpft vor, wie sie auf dem Balkon (der Herbst ziept schon an ihren Gliedern) nach ihrem Männe Ausschau hält, der ihr gesammeltes Schuhwerk in einer Plastiktüte gen Stadtzentrum führt, um es in Ruhe von Ihrem Wanderstaub und Auf-und Abs zu reinigen. Folgendes (ebenfalls fiktives) Gespräch wäre im Vorfeld des Kümmernisses denkbar: “Es ist kalt, Klodde (er nennt sie halt so), darf ich heute nicht, nur einmal …”

“Nixnix, Ferdl (sie nennt ihn halt so), den Gestank und die Unbilden der Wildnis wirst du schön brav in aller Öffentlichkeit von meinen gespenstischen Tretern wienern! So alle Welt soll sehen, was du mir bist und ich dir bin! Sapperlot!

“Und so trottet er heiteren (weil liebenden) Gesichtes gen Rathausplatz zu Kempten, um sein Täschlein zu lüften und die Bürsten sprechen zu lassen. Doch: was ist das? Kommt da nicht der Dichter Putte ums Eck, um ihn dabei zu beobachten? Freilich, jaja, er ist’s. Schon richtet sich sein menschenferner Blick auf den einzigen Menschen, den er jetzt gerade sehen kann: einen Gebuckelten! einen Gebeugten! einen Unterfuchtelten!