Tausend Fiktionen

Kategorie: Kemptener Tagelohn (Seite 1 von 2)

ironie, sarkasmus und vor allem eine gewisse ungezogenheit gegenüber einem ort, an dem ich seit über 15 jahren verweile.

Leseversuch in der Cucina Toscana

Cucina Toscana
Cucina Toscana, Hildegardsplatz, Kempten

Kaffee ist ein Stück Lebenskraft. Auch wenn ich meinen Konsum in den letzten Jahren etwas eingeschränkt habe, die Atmosphäre, die sich im besten Fall um den Kaffee dreht, war nie ganz von der Hand zu weisen. Bücher und kulinarischer Esprit haben sich schon immer gut vertragen, und was den Kaffee betrifft: Es gäbe tausend Geschichten zu erzählen. Dafür bräuchte man fast einen eigenen Blog. Nun wohne ich mit Kempten zwar nicht in einer kulturellen oder literarischen Hochburg (das ist Bayern und insbesondere das Allgäu im Allgemeinen nicht), aber es ist ein ganz außergewöhnliches Städtchen, in dem man sich wohlfühlen kann. Also dachte ich mir, ich schaue mir die kleinen Oasen, die es dann doch gibt, etwas genauer an. Vielleicht mit einem Buch in der Hand (ich habe mir inzwischen wieder angewöhnt, überall Bücher mitzunehmen und zu lernen, überall und in jeder Situation zu lesen, ob im Gehen oder Stehen). Das bedeutet eine völlige Veränderung meiner Lesegewohnheiten, denn mein Ausgangspunkt ist, dass ich sogar mit Ohrstöpseln in meiner Wohnung sitze, weil ich nicht den geringsten Lärm ertrage. Aber was wäre das Leben ohne Abenteuer?

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Gen Haubenschloßpark

Man kommt nur dann außer Haus, wenn man außer sich gerät und weder plant den Ort noch den Weg. Dann gerät man außer Haus wie ein Abenteurer und seine Konkubine (oder wie eine Dame und ihr Kofferträger); wartet auf die Kutsch, die vielleicht nicht fährt und steigt dann in eine ein, die sich von Weitem schon als die gleiche wie immer erkennen lässt. Es gibt da dieses Mangrovengeflecht im Gehirn, das aussieht, als käme man nie hindurch. In Wahrheit sind es Treppensteine, die hinauf führen; dafür wurden sie gemacht, es ist ihr Begehr und Dasein.

Treppen

Was dachtet ihr Römer, als ihr euch eine Stadt vorstelltet, die es noch nicht gab, die hier noch nie gewesen ist und die ihr vielleicht nie kennen lernen werdet?

Kempten Anhoehe

Auch in Kempten gab es Eis

Wollmammut
Zum Anlass der Sonderausstellung im Kemptener Marstall vom 28. Oktober bis zum 14. April 2024 postiertes Eiszeitwesen.

Vor 26.000 Jahren kam er hier an und erstarrte. Das kleine Wollmammut fraß wahrscheinlich gerade eine Dino-Heuschrecke (um sich nach getaner Wanderschaft und einer Menge frischer Luft belohnt zu fühlen), und da spürte er es: hier würden irgendwann die Römer (was sind Römer?) eine der schönsten Kleinstädte errichten (was sind Kleinstädte?). Es war diese Vision, die er kurz darauf wieder vergessen würde, aber später – viel später, würde er in die Geschichte eingehen als Dr. Kalle Mamm, jenes Wollwesen nämlich, das die Science Fiction in der Mastodon-Familie begründete. Man hatte ja nicht viel in der Eiszeit. Das Feuer war zwar schon bekannt, aber es zeigte sich nie dort, wo man es brauchte: im Kamin der eigenen Höhle nämlich.

Der Hexenschuss am Abend

Es ist die dritte Nacht, in der mich die Poltergeister drangsalieren. Heute war es die Hexe mit ihrem Hexenschuss (wahrscheinlich habe ich mir einen Nerv im Steiß eingeklemmt), so dass ich bei jeder Drehung aufwachte. Als ich schließlich den Abort aufsuchen musste – ein Drang, der weißgott nicht zu ignorieren ist, will man überhaupt noch ein Auge zutun – kam ich nicht in die Höhe. Nach einer Viertelstunde hatte ich mich zumindest an der Bettkante aufgesetzt. Es gelang mir, mich in die Küche zu schleppen, um etwas Voltaren aufzutragen und siehe da, es wurde zumindest in der Weise erträglich, dass ich mich Bewegen konnte.

Tagsüber war davon überhaupt nichts zu spüren, das Flanieren über den Flohmarkt an der Allgäuhalle war sogar wieder sehr ertragreich. Drei Plattenstände abgegrast und bei jedem fündig geworden. Selbst Raritäten wie Larry Coryells The Restful Mind waren zu finden. Eine wirklich erstaunliche Entwicklung für Kempten.

Selbst ein kleines Spitzweg-Gemälde fand seinen Umschlag. Der gute alte Biedermeier-Stil – hier der „ewige Hochzeiter“, was ja nun wirklich kein unbekanntes Gemälde ist. Interessant ist die Rahmung, die aus alten österreichischen und schweizer Abbruchhäusern aus dem 16ten bis 19ten Jahrhundert rührt und zusammengesetzt wurde. Leider ist das Gemälde nicht komplett gefasst, sondern nur die Blumengabe an der Treppe. Natürlich ist ein Begriff so gut wie der andere; wenn man bedenkt, dass der Biedermeier vor dem „Realismus“ angesetzt war – eine Epoche, die im Grunde zur Verlogensten überhaupt gehörte (was der Name „Realismus“ ja schon aussagt), ist es kein Wunder, dass in permanenter Unstetigkeit ein Elysium aus Behaglichkeit auch heute noch bei empfänglichen Menschen durchschlägt, vor allem deshalb, weil sich heute mehr das Irrationale und völlig Menschenverachtende des Realismus durchgesetzt hat.

Straßenbau im Neunzehnten Jahrhundert

Haggenmüllerstraße
Haggenmüllerstraße, Kempen (Foto: A. Anders)

Die Bagger werden zwar nicht mehr mit Dampf betrieben, weil die Kessel, in denen er produziert werden kann, mittlerweile kaum noch auf einem Flohmarkt zu finden sind und die Beschaffungskosten astrale Höhen zeitigen, aber das trübt das Gesamtbild nur marginal. Die Zeitreisenden freut es sicherlich zu erfahren, dass Kempten in diesem Jahr damit begonnen hat, sämtliche Straßen und Bürgersteige abzureißen, damit die Bevölkerung sich wieder am Matsch und am naturbelassenen Schlagloch erfreuen kann. Kinder werden ihre Papierschiffe wieder mitten auf der Straße kentern lassen können und auch Pferdescheiße wird bald wieder die glückliche Luft um uns herum erfüllen. Gegenwärtig ist das Pilotprojekt in der Haggenmüllerstraße zu bewundern, und ich kenne niemanden, der nicht vor Aufregung zittert, weil es endlich wieder in ein Jahrhundert voller Sonnenschein und Muse geht. Brechen wir gemeinsam auf.

Der Kobold am Forum

Wir spazierten durch verlassenes und vergessenes Land, wir spazierten also durch die Kemptener Kälte, weil es stets die frische Luft ist, die sich am besten atmen lässt. Und schon waren wir auf dem Rückweg, näherten uns ganz wunderbar dem Weg, der uns an der Allgäuhalle vorbei führt (und auch schon so oft geführt hat). In den Wäldern ist es keine große Überraschung, auf das Kleine Volk oder andere Naturgeschöpfe zu treffen, auch wenn man sie nur in den Augenwinkeln blitzen sieht, in einer Stadt ist es jedoch mehr als außergewöhnlich (auch wenn es mehr Trolle, Feen und Schrate gibt, als man sich das vielleicht denken mag. Sie wissen ja andernfalls nicht, wo sie ihre Milch besorgen sollen).

Von der Ferne sah er so aus, als trüge er eine Maske, als er näher kam, sah er erschrocken hin und her, denn freilich bemerkte er, dass wir ihn erkennen konnten, als wir an ihm vorbei gingen. Zu einem Gespräch waren wir gar nicht gekommen, weil wir nicht weniger verblüfft waren als der Kobold selbst – eine Gattung der Goblins – mit seinem roten Haar.

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