Betibú / Claudia Piñeiro

Ein Mann mit durchtrennter Kehle wird in seinem Haus in einem geschlossenen Viertel (Barrio Cerrado) in Buenos Aires von seiner Haushälterin aufgefunden. Hat er Selbstmord begangen? Wurde er getötet? Und wenn ja, warum? Hat sein Tod etwas mit dem Mord an seiner Frau drei Jahre zuvor zu tun? Das sind die Rätsel, denen Claudia Piñeiro in ihrem Roman Betibú auf den Grund geht. Eine Geschichte, in der sich Realität und Fiktion, Journalismus und Literatur überschneiden.

Claudia Piñeiro in ihrem Roman Betibú

Zwar ist Piñeiro eine gefeierte argentinische Autorin, aber in ihrer Popularität stieg sich noch einmal besonders an, als sie eine Aussage zur Netflix-Dokumentation Carmel über den Tod von Marta García Belsunce machte. Sie sagte, dass ein privates Viertel ein guter Schauplatz für einen Krimi ist, weil es die klassische Trope des „locked room“ in ähnlicher Weise wiederholt: Jemand stirbt in einem verschlossenen Zimmer und der Verdächtige gehört zum engen Kreis des Opfers.

Zur Erinnerung:

María Marta García Belsunce war eine argentinische Soziologin, die am 27. Oktober 2002 tot in ihrem Haus im Carmel Country Club, einer geschlossenen Wohnanlage in Pilar, Buenos Aires, aufgefunden wurde. Zunächst wurde ihr Tod als Unfall eingestuft, da man annahm, sie sei in der Badewanne ausgerutscht und gestürzt. Eine spätere Autopsie offenbarte jedoch, dass die durch fünf Schüsse in den Kopf ermordet wurde.

Der Fall sorgte in Argentinien für großes mediales Aufsehen und führte zu mehreren Gerichtsverfahren. Ihr Ehemann, Carlos Carrascosa, wurde zunächst des Mordes schuldig gesprochen, später jedoch wieder freigesprochen. Im Jahr 2022 stand ihr ehemaliger Nachbar, Nicolás Pachelo, vor Gericht, wurde aber ebenfalls freigesprochen. Bis heute bleibt der wahre Täter unbekannt.

Dieser Mord war also eine der Ausgangsideen für Betibú. Eine Frau wurde tot in einem Landhaus aufgefunden. Zunächst wurde es als Unfall abgetan, doch es handelte sich zweifellos um einen Mord. Der Fall schockierte auch im Roman die Gesellschaft und wurde monatelang fast ausschließlich in den Medien behandelt. Jahre vergingen, und die Justiz fand den Schuldigen nie. Die meisten Menschen glauben, dass der Mörder ihr Ehemann war. Pedro Chazarreta in der Fiktion, Carlos Carrascosa im oben geschilderten Fall. Der Roman beginnt mit Chazarretas Tod.

Betibú ist der Spitzname der Protagonistin. Nurit Iscar, eine Bestseller-Krimiautorin, ist in doppelter Hinsicht frustriert: von ihrem ersten Liebesroman – einem Flopp – und von der Beziehung, die ihn inspiriert hat. In den Fünfzigern ließ sie sich vom Vater ihrer Kinder scheiden und setzte auf ihre große Liebe, Lorenzo Rinaldi, den Herausgeber eines der beiden wichtigsten Printmedien des Landes. Doch er machte nur leere Versprechungen und verließ seine Frau nie.

Ihr Spitzname ist das argentinische Wort für Betty Boob, eine der bekanntesten Cartoonfiguren der 1930er Jahre. Sie war eine der ersten weiblichen Animationsikonen und tauchte erstmals in den 130er Jahren als anthropomorphe Pudeldame auf, die sich aber schnell zu einer menschlichen Figur mit schwarzen Locken, einem markanten Flapper-Stil und einem frechen Charme entwickelte. Und Nurit sieht dieser Figur also ähnlich. In diesen unzähligen kleinen Geschichten, die sich in diesem Roman zusammenfinden wie mehrere kleine Bäche sich zu einem Hauptstrom vereinen, wird auch erzählt, wie sich Betty Boob auf Nurit Iscar anwenden ließ. Ohnehin sind hier viele Popkulturelle Verweise zu finden, und natürlich wird auch Julio Cortázar erwähnt.

Betty Boob
Betty Boob; (c) Fleischer Studios

Die andere Hauptfigur ist Jaime Brena, Polizeireporter von Beruf, der über den Mordfall an Chazarretas Frau berichtet hatte. Auch er ist gleich doppelt frustriert. Zum einen wegen einer Trennung, zum anderen, weil er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Lorenzo aus seinem lebenslangen Resort verbannt und böswillig in den Gesellschaftsteil versetzt wurde, obwohl jeder weiß, dass er die beste Polizeireporter des ganzen Landes ist. Lorenzo Rinaldi verkörpert den Kapitalismus, den Ehrgeiz, die Gewinnmaximierung für das Unternehmen, wie wir es überall beobachten können: langjährige Mitarbeiter werden entlassen und durch billige Arbeitskräfte ersetzt. Natürlich steht dieser Typ auch für das Zeitalter des Postmodernismus, den Hedonismus, die ständige Suche nach dem unmittelbaren Vergnügen, die Oberflächlichkeit.

Es gibt zwei Hauptschauplätze: das private Viertel La Maravillosa und die Redaktion der Zeitung El Tribuno. In Maravillosa schwingt die wirtschaftliche Ungleichheit mit, und in der Redaktion werden die Unterschiede zwischen den Generationen hervorgehoben. Das Verbrechen spielt sich im privaten Viertel ab. ab. Paradoxerweise zieht sich eine kleine Gruppe wirtschaftlich privilegierter Menschen hier in ein Paradies aus Natur und Entspannung zurück, um sich vor der Unsicherheit in den Großstädten der Dritten Welt zu schützen. Niemand kann sich vorstellen, dass die Gefahr von innen kommen könnte. Die Oberschicht von Buenos Aires, die Herren und Meister dieser Ländereien innerhalb der Mauer, und das Personal, das sie für Hausarbeit und Freizeitgestaltung brauchen: Dienstmädchen, Gärtner, Hausmeister, Tennis- und Golflehrer usw., leben dort zusammen. Die Grundbesitzer setzen ihre Regeln durch, um ihre materiellen Güter zu schützen, sogar über die Gesetze des Staates hinaus. Nurit, die keiner dieser beiden Schichten angehört, beobachtet und rügt diese eingebürgerten Verhaltensweisen in diesem Stadtviertel.

Dazu muss man wissen, dass diese sogenannten Countrys in Buenos Aires sich hauptsächlich in der Peripherie der Stadt, insbesondere in den nördlichen Vororten wie Pilar, Escobar und Tigre befinden und bereits in den 1940er Jahren nach US-amerikanischem Vorbild gebaut wurden. Zunächst wurden sie als Wochenendresidenzen für wohlhabende Stadtbewohner genutzt, aber als in den 1990ern die Kriminalität in Buenos Aires zunahm, entschieden sich viele obere Mittelschichtsfamilien, dauerhaft in diese geschlossenen Siedlungen zu ziehen.

In der Redaktion von El Tribuno hingegen arbeiten der Journalist von gestern mit Stift und Papier und die neuen akademischen Journalisten des digitalen Zeitalters, deren Hauptinformationsquelle Google ist, Seite an Seite. Die gegensätzlichen Gewohnheiten der Babyboomer und der Millennials treffen in diesem Raum aufeinander und werden durch Jaime Brena und „den Neuen“ repräsentiert. Gleichzeitig wird die Zeitung von ihrer unternehmerischen Seite gezeigt, wo Entscheidungen auf der Grundlage wirtschaftlicher Ziele getroffen werden.

Der „Neue“, der von fast jedem nur „Junge“ genannt wird, ist zwar jetzt für die Polizeidokumentation zuständig, aber da Brena sein Leben diesem Bereich gewidmet hat, verfügt er über wichtige Kontakte: hochrangige Polizeibeamte, Staatsanwälte und Kenntnisse der Gerichtsmedizin, also beschließt er, seinem Nachfolger zu helfen. Brena gibt Tipps aus der Praxis, unter anderem, wie man Belletristik liest, und vor allem, was man lesen soll.

Nurit hingegen wird ihre Erfahrungen als Schriftstellerin nutzen, um ihre Intuitionen und Erkenntnisse festzuhalten und sie mit den Lesern von El Tribuno zu teilen. Eine Non-Fiction-Geschichte in der Art, wie es Truman Capote mit „Kaltblütig“ machte. Sie trifft sich auch mit ihren Freundinnen und diskutiert über das Leben, die Liebe, das Vergehen der Zeit und kulturelle Ausdrucksformen wie Theater, Kino und Bücher.

Ausgehend vom Mord an Chazarretas Frau reflektieren sie über die große Zahl unaufgeklärter Verbrechen an Frauen, die sich im kollektiven Gedächtnis Argentiniens angesammelt haben. Norma Mirta Penjerek, Oriel Briant, Dr. Giubileo, María Soledad Morales, María Marta García Belsunce und viele andere. Der Roman bekräftigt, dass es keine unaufgeklärten Verbrechen an Männern, keine unaufgeklärten Morde an Männern gibt. Und auch wenn das nicht ganz richtig ist, fußt die Tendenz dennoch auf einer bitteren Wahrheit.

Die Morde im Roman gehen weiter und die Figuren entdecken, was hinter all diesen Todesfällen steckt. Im Laufe der Geschichte finden sie die Antworten auf die Frage, wer es getan hat und warum. Der erste Mord (an Chazarretas Frau), bleibt wie in der Realität: unaufgeklärt. Die anderen werden zwar aufgeklärt, aber der Roman zeigt uns das große Ganze, die Opfer, die Täter und, was uns die Realität immer verwehren wird: die wirklichen Ursachen.

Claudia Piñeiro setzt durch ihre Figuren – die Schriftstellerin und die Journalisten – das Puzzle zusammen. Sie verwendet Teile, die wir leider jeden Tag in den Medien sehen, aber sie zeigt uns auch die Dinge, die von Geld und Machtmonstern gekauft und später vertuscht werden, um jeglicher Strafe zu entgehen. Die Erzählung erfolgt in der dritten Person und mit Zugang zu den Gedanken der Hauptfiguren. Alle Charaktere, auch die Nebenfiguren, sind leicht zu erkennen, obwohl sie erzählerisch ineinandergleiten, so dass sie in einem Atemzug dargestellt werden. Auch die Beschreibung der Schauplätze ist präzise. Betibú wurde 2014, vier Jahre nach seinem Erscheinen, verfilmt. Ist aber nie bei uns erschienen und hat noch nicht einmal einen deutschen Untertitel, was natürlich Bände spricht.

Der Pfad / Megan Miranda

Megan Miranda Der Pfad

Vor zehn Jahren hat Abigail Lovett einen Job angenommen, den sie liebt: Sie leitet das Passage Inn, ein gemütliches, gehobenes Resort in dem kleinen Bergstädtchen Cutter’s Pass in North Carolina. Cutter’s Pass ist vor allem für seine Outdoor-Aktivitäten bekannt – Rafting, Wandern und der Zugang zum Appalachian Trail über einen beeindruckenden Wasserfall. Doch der Ort hat eine dunkle Vergangenheit. In den letzten 25 Jahren sind hier sieben Menschen spurlos verschwunden. Die ersten waren vier junge Männer, die jedes Jahr gemeinsam wanderten, bis sie eines Tages auf dem Trail verschwanden. Jahre später trennte sich eine junge Frau von ihrer Freundesgruppe, kehrte in die Stadt zurück und wurde nie wieder gesehen. Dann folgte ein Naturfotograf, der zuletzt nach dem Weg gefragt hatte. Der letzte Vermisste war der Journalist Landon West, der im Passage Inn übernachtete, um die mysteriösen Fälle zu recherchieren – und dann selbst verschwand.

Abby, die sich in Cutter’s Pass nie richtig zugehörig fühlte, wurde vor Jahren von der trauernden Besitzerin des Passage Inn eingestellt, die der Stadt erzählte, Abby sei ihre Nichte. Denn Fremde werden hier nicht mit offenen Armen empfangen. Als nun Landons Bruder Trey auftaucht, um nach Antworten zu suchen, spürt Abby, wie sich die Reihen der Stadtbewohner schließen. Auch nach einem Jahrzehnt gilt sie noch immer als Außenseiterin. Doch als sie auf belastende Beweise stößt, die der Journalist hinterlassen hat, beginnt sie, die Motive aller um sie herum zu hinterfragen – vom Sheriff über ihren Ex-Freund bis hin zu ihrer vermeintlichen Tante. Bald wird ihr bewusst, wie wenig sie über ihre Kollegen, Nachbarn und selbst die Menschen weiß, die ihr am nächsten stehen.

Das Bemerkenswerteste an Der Pfad ist seine Atmosphäre. Cutter’s Pass ist eine düstere Kleinstadt am Appalachian Trail, und die Erzählweise gibt dem Leser das Gefühl, selbst dort zu sein, in einer der Hütten zu wohnen und sich auf eine Wanderung in die Berge vorzubereiten. Der Appalachian Trail selbst, oft als einer der geheimnisvollsten Wanderwege der Welt bezeichnet, erstreckt sich über mehr als 3.500 Kilometer von Georgia bis Maine und führt durch dichte Wälder, zerklüftete Gebirgszüge und einsame Täler. Er ist nicht nur für seine atemberaubende Landschaft bekannt, sondern auch für seine anspruchsvollen Bedingungen, die Wanderer physisch und psychisch auf eine harte Probe stellen. Zahlreiche Mythen und unheimliche Geschichten ranken sich um diesen Weg – von spurlos verschwundenen Wanderern über rätselhafte Sichtungen bis hin zu unerforschten Nebenwegen, die ins Unbekannte führen. Diese geheimnisvolle Aura verleiht der Szenerie eine zusätzliche, beklemmende Dimension.

Der Roman lebt mehr von Spannung als von Überraschungen, aber eine späte Wendung sorgt für eine schockierende und erschütternde Erkenntnis. Trotz der stimmungsvollen Inszenierung gelingt es Megan Miranda nicht ganz, Abby eine tiefere Charakterzeichnung zu geben. Ihr Hintergrund bleibt eher vage: Ihre Mutter starb an Krebs, als sie 18 Jahre alt war, und ihren Vater hat sie nie kennengelernt, da er bereits in ihrer frühen Kindheit verstarb. Obwohl dies ein gewisser Hintergrund ist, fehlt es an emotionaler Tiefe und persönlichen Facetten, die sie greifbarer machen würden.

Dennoch ist Der Pfad ein empfehlenswerter Thriller, dessen Stärke eindeutig in der beklemmenden Atmosphäre und dem geheimnisvollen Schauplatz liegt. Wer eine langsam aufgebaute, atmosphärische Geschichte mit subtiler Spannung sucht, wird hier fündig.

Aus dem Englischen von Melike Karamustafa

Das Geheimnis der Appalachen

Die Appalachen

Die Appalachen, eine beeindruckende Gebirgskette, erstrecken sich über den Osten der Vereinigten Staaten. Die natürliche Schönheit der Wälder und Berge ist unbestreitbar, doch die düstere, mystische Atmosphäre macht sie zu einem besonderen Ort. In dieser Region gibt es eine Vielzahl von dunklen Geschichten. Sie warnen den Wanderer nicht nur vor natürlichen Gefahren, sondern auch vor den unerforschten, mystischen Elementen des Landes. Das Sprichwort „Schau nicht in die Bäume“ ist ein markantes Beispiel für diese düstere Weisheit. Es verweist auf die tief verwurzelte Angst und den Respekt, die die Menschen gegenüber der Wildnis der Appalachen empfinden.

Appalachen

Die Bäume und Wälder der Region sind dicht und unübersichtlich. Sie bergen viele Geheimnisse. Für die ersten Siedler, die in dieser rauen Umgebung lebten, war der Wald sowohl Quelle des Lebens als auch potentiell tödlicher Ort. Die Appalachen-Warnungen spiegeln eine tief verwurzelte psychologische Vorsicht wider, abgesehen von den natürlichen Gefahren wie giftigen Schlangen, wilden Tieren und extremen Wetterbedingungen.

Die Ermahnung „Schau nicht in die Bäume“ mag auf den ersten Blick wie primitiver Aberglaube erscheinen. Aber wenn wir tiefer in das Herz der Appalachen-Folklore blicken, erkennen wir ein Muster von warnenden Geschichten, die Menschen vor Gefahren schützen sollen. Die Wälder in diesen Bergen sind dicht und schattenreich, mit hoch aufragenden Bäumen und dichtem Gestrüpp, das Gefahren – ob natürliche oder übernatürliche – leicht verdecken kann.

Es gibt ein weiteres Sprichwort: „Wenn du hörst, wie dein Name im Wald gerufen wird, reagiere nicht darauf“. Auch hier wird an den menschlichen Instinkt appelliert, sich vor potenziellen Bedrohungen zu schützen. Die Legende besagt, dass, wenn man seinen Namen hört, es nicht wirklich jemand ist, der einen ruft, sondern dass es sich um einen Trick oder eine Illusion handelt. Solche Phänomene werden oft Geistern, bösartigen Kreaturen oder unbekannten Kräften zugeschrieben, die die Wälder durchstreifen.

Appalachen

In einer Region, die reich an spirituellem Wissen und einer Geschichte der Volksmagie ist, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass die Warnung aus Geschichten über Dinge herrührte, die in den Bäumen verborgen waren – ob es sich nun um Geister oder außerweltliche Kreaturen handelte, die gerade außer Sichtweite lauerten. Es ist eine Erinnerung daran, dass die Wälder kein Ort sind, den man leichtsinnig und unvorsichtig erforschen sollte.

Ähnlich wie das vorherige Sprichwort bezieht sich die Warnung vor nächtlichem Pfeifen auf die unheimliche Qualität der Geräusche in den Appalachen. Pfeifen, insbesondere nachts, wird seit langem mit übernatürlichen Aktivitäten in Verbindung gebracht. In vielen Kulturen wird das Pfeifen als Mittel angesehen, um Geister zu beschwören oder, schlimmer noch, um böse Wesen überhaupt erst anzulocken. In den Appalachen galt das nächtliche Pfeifen als Vorzeichen für Gefahr oder Unheil, oft in Verbindung mit den geheimnisvollen Kreaturen in den Wäldern.

Die Redewandung, dass man den Pfiff „nicht“ gehört hat, bedeutet, dass man ihn nicht anerkennt oder darauf reagiert, was man tunlichst vermeiden sollte. Er dient als Erinnerung daran, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Genau wie der Ruf des eigenen Namens könnte das Pfeifen eine Illusion sein, die den Wanderer in die Irre führen oder verwirren soll. Es könnte natürlich auch nur der Wind sein, aber eben auch das Geräusch eines Wesens, das sich durch die Bäume bewegt, oder auch nur die eigene Fantasie. Aber im Zusammenhang mit der Folklore dient es als eine weitere Warnung, vorsichtig zu sein und sich nicht von Neugier oder Angst zu weiteren Nachforschungen treiben zu lassen.

Diese Geschichten spiegeln alle auch etwas Tieferes wider – unser Bedürfnis, dem Unbekannten einen Sinn zu geben. Wenn Menschen in Abgeschiedenheit leben, umgeben von der unheimlichen Stille des Waldes, ist es nur natürlich, dass die Fantasie auf Reisen geht. Das Rascheln der Bäume, der Wind, das Knacken eines Zweigs – diese Geräusche könnten als das Werk von Geistern oder übernatürlichen Wesen interpretiert werden – und manchmal trifft das auch zu.

Der Appalachian Trail

In den tiefen, nebelverhangenen Wäldern entlang des Appalachian Trails ranken sich seit Jahrhunderten unheimliche Geschichten. Besonders in den abgelegenen Abschnitten des Trails, wo dichte Baumkronen das Tageslicht dämpfen und die Stille nur vom Knacken unbekannter Schritte durchbrochen wird, häufen sich Berichte über unerklärliche Phänomene. Die dichten Wälder, endlosen Berghänge und abgeschiedenen Täler schaffen eine Atmosphäre, die geradezu dazu einlädt, die Grenzen zwischen Realität und Mythos verschwimmen zu lassen.

Viele Mythen handeln von geheimnisvollen Wesen, die zwischen den Schatten lauern. Berüchtigt sind die „Flüsternden Schatten“, gesichtslose Gestalten, die sich im Nebel verbergen und Wanderer mit leisen, kaum verständlichen Stimmen tiefer in den Wald locken. Jene, die diesen Stimmen folgten, wurden nie wieder gesehen. Andere berichten von den Irrlichtern, einem mysteriösen Schein, der plötzlich zwischen den Bäumen auftaucht und ebenso rasch wieder verschwindet. Während Wissenschaftler diese Erscheinungen mit Reflexionen oder biolumineszenten Pilzen erklären, wissen die Einheimischen, dass es die Seelen verlorener Wanderer sind, die vergeblich einen Weg nach Hause suchen.

Ein bekanntes Wesen der Region ist der „Wood Booger“, eine Kreatur, die dem legendären Bigfoot ähnelt. Wanderer berichten von riesigen Fußabdrücken im Schlamm, von unerklärlichem Rascheln im Dickicht oder dem Gefühl, aus der Dunkelheit heraus beobachtet zu werden. Manche erzählen sogar von einem tiefen, durchdringenden Heulen, das in einsamen Nächten durch die Baumwipfel hallt. Ähnlich schaurig sind die Erzählungen über die „Schwarzen Hunde“, riesige, geisterhafte Kreaturen mit glühenden Augen, die plötzlich auf einsamen Pfaden auftauchen. Manche sehen sie als Warnung vor drohendem Unheil, andere als Vorboten des Todes. Ihr Auftreten wird oft von plötzlichen Wetterumschwüngen begleitet, als würde der Wald selbst auf ihre Ankunft reagieren.

Doch nicht nur Kreaturen sorgen für Gänsehaut. Auch die Geschichte des Trails birgt ihre eigenen Mysterien. Seit der Kolonialzeit gibt es Berichte über die „Verlorenen Seelen des Trails“ – geisterhafte Erscheinungen, die in altmodischer Kleidung durch den Nebel wandeln, nur um sich im nächsten Moment in Luft aufzulösen. Historiker vermuten, dass es sich um die Geister früherer Siedler oder um Überbleibsel alter Cherokee-Legenden handelt, doch keiner kann mit Gewissheit sagen, was es mit diesen Gestalten auf sich hat.

Neben diesen bekannten Legenden gibt es Berichte über ein noch unheimlicheres Phänomen: den sogenannten „Wächter des Waldes“. Während die meisten übernatürlichen Wesen des Trails eine physische Gestalt haben oder zumindest als Lichter oder Schatten erscheinen, ist der Wächter anders. Manche Wanderer berichten davon, dass sie sich beobachtet oder verfolgt fühlten, ohne jemals eine Spur eines Lebewesens zu entdecken. Sie sprachen von einer bedrückenden Präsenz, die sich wie ein unsichtbarer Schleier um sie legte. Wer sich umdrehte, sah nichts als die dunklen Bäume, doch das Gefühl der Bedrohung blieb bestehen.

Besonders beklemmend sind die Geschichten über die „Leeren Hütten“, verlassene Unterkünfte entlang des Trails, die ursprünglich als Schutzräume für Wanderer dienten. Viele dieser Hütten sind über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg dem Verfall überlassen worden, und manche gelten als verflucht. Wanderer, die dort übernachteten, berichteten von seltsamen Geräuschen in der Nacht – Kratzen an den Wänden, das Knarren unsichtbarer Schritte oder gar wispernde Stimmen, die aus der Dunkelheit drangen. Manche verließen diese Unterkünfte noch vor Morgengrauen, getrieben von einer plötzlichen, unerklärlichen Angst.

Der Appalachian Trail ist mehr als nur ein Wanderweg – er ist ein Ort, an dem die Natur und das Unbekannte miteinander verschmelzen. Ob Einbildung oder Realität, Legende oder Wahrheit – wer sich auf den Pfad begibt, sollte nicht nur auf die körperlichen Herausforderungen vorbereitet sein, sondern auch auf die Schatten, die zwischen den Bäumen lauern. Vielleicht sind es nur Geschichten, erzählt an flackernden Lagerfeuern, um die dunklen Nächte zu vertreiben. Oder vielleicht sind es Warnungen – Überlieferungen von jenen, die einst verschwanden und nie zurückkehrten.

Spurloses Verschwinden und mysteriöse Morde

Der Appalachian Trail, der sich über 2.190 Meilen durch diese wilde Landschaft windet, ist nicht nur für seine atemberaubende Schönheit bekannt, sondern auch für die Herausforderungen und Gefahren. Der Trail, der von den Abenteurern seit seiner Eröffnung im Jahr 1937 genutzt wird, hat nicht nur zahllose Geschichten von triumphalen Wanderungen hervorgebracht, sondern auch düstere Erzählungen von rätselhaften Vorfällen. Jedes Jahr verschwinden durchschnittlich sechs Wanderer, und seit 1974 wurden insgesamt 11 Morde registriert. Diese tragischen Ereignisse haben dem Trail eine unheimliche Aura verliehen, die ihn für viele zu einem geheimnisvollen, von Legenden durchzogenen Ort macht.

Ein besonders trauriger Fall in der Geschichte des Appalachian Trails ist das Verschwinden von Geraldine Largay im Jahr 2013. Die 66-jährige Wanderin verschwand während einer Wanderung in einem abgelegenen Teil von Maine. Trotz jahrelanger intensiver Suchaktionen wurde sie erst 2015 gefunden – zwei Jahre nach ihrem Verschwinden. Ihre Geschichte ist ein düsteres Beispiel für die Gefahren, denen Wanderer auf dem Trail ausgesetzt sind, und sie hat dazu beigetragen, das Sicherheitsbewusstsein unter den Wanderern zu schärfen. Largays tragisches Ende, das auf eine Orientierungslosigkeit zurückzuführen war, verdeutlicht die Herausforderungen, die der Trail bietet, insbesondere für jene, die unzureichend vorbereitet sind.

Ein anderer mysteriöser Vorfall, der den Appalachian Trail in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte, war das Verschwinden von Thelma Marks im Jahr 1981. Ihre Überreste wurden erst Jahre später in einer Schlucht gefunden. Die genauen Umstände ihres Todes bleiben bis heute ungeklärt, was zu Spekulationen über die Risiken des Trails beiträgt. Der Fall von Marks, zusammen mit anderen ungelösten Verschwinden und Morden, wirft einen Schatten auf die sonst so friedliche Wandererfahrung und befeuert die Debatten über die Sicherheit auf dem Trail.

Ein besonders grausames Verbrechen war der Mord an Lollie Winans und Julianne Williams im Jahr 1996. Die beiden Frauen, die eine Wanderung auf dem Trail unternahmen, wurden brutal ermordet. Jahre später wurde der Serienmörder Richard Evonitz als Verdächtiger identifiziert, aber auch dieser Fall wirft Fragen über die Sicherheit und den Schutz der Wanderer auf, vor allem in abgelegenen Gebieten, in denen Verbrechen unentdeckt bleiben können.

Die Geschichten und Vorfälle rund um den Appalachian Trail, ob übernatürlicher oder menschlicher Natur, zeigen uns, dass die Natur nicht nur eine Quelle der Schönheit und des Staunens ist, sondern auch ein Ort, an dem Gefahr und Unsicherheit lauern können. Sie erinnern uns an die Notwendigkeit, vorsichtig und respektvoll mit der Wildnis umzugehen, die gleichzeitig friedlich und gefährlich sein kann. Diese Mischung aus Abenteuer und Gefahr ist es, die den Appalachian Trail zu einem solch schönen, aber auch geheimnisvollen Ort macht – ein Ort, an dem Legenden geboren werden und Abenteuer immer wieder auf das Unbekannte treffen.

Hexenstunde, Geisterstunde, Teufelsstunde

Im zarten Tanz zwischen Nacht und Tag gibt es einen flüchtigen Moment, der von Legenden und Überlieferungen durchdrungen ist – eine Zeit, in der die Grenzen zwischen dem Physischen und dem Metaphysischen verschwimmen. Dieses flüchtige Intervall ist als Geisterstunde bekannt, ehemals als aber als Hexenstunde. Ein Begriff, der manchmal sowohl Angst als auch Staunen hervorruft. Die Geisterstunde wird gemeinhin als die Zeit zwischen Mitternacht und 3 Uhr morgens definiert, eine Zeit, von der man annimmt, dass übernatürliche Aktivitäten auf ihrem Höhepunkt sind.

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Das Rätsel der Overtoun Bridge: Mysteriöse Hundesprünge, Geister und Tragödien

Die Overtoun Bridge, ein eindrucksvolles gotisches Steinbauwerk nahe Dumbarton in Schottland, zieht seit über sechs Jahrzehnten nicht nur Spaziergänger und Touristen an, sondern birgt ein düsteres Geheimnis. Diese Brücke, die sich über eine schmale Schlucht erstreckt und zum Overtoun House führt, ist Schauplatz eines seltsamen und traurigen Phänomens: Zwischen 300 und 600 Hunde sollen hier in die Tiefe gesprungen sein – viele davon in den Tod. Dieses Ereignis hat weltweit Aufmerksamkeit erregt, inspiriert zu wissenschaftlichen Untersuchungen, urbanen Legenden und kulturellen Diskussionen über das Unheimliche.

Overtoun Bridge © Copyright Lairich Rig

Ein tragischer Trend: Die Chronologie der Vorfälle

Seit den 1950er Jahren berichten Einheimische und Touristen von Hunden, die plötzlich und unerwartet von der Overtoun Bridge springen. Die Zahl der Vorfälle ist erschreckend: Etwa 50 Tiere haben den Sprung nicht überlebt (bis heute dürfte diese Zahl weiter angewachsen sein), während Hunderte weitere schwer verletzt wurden. Besonders verstörend ist, dass manche Hunde, nachdem sie den Sturz überlebt hatten, erneut versucht haben von der Brücke zu springen. Das Phänomen geschieht fast immer an derselben Stelle der Brücke und betrifft hauptsächlich langnasige Hunde wie Collies, Labradors und Spaniels – und besonders an sonnigen Tagen.

Die wiederkehrenden Berichte haben der Brücke den bezeichnenden Spitznamen „Dog Suicide Bridge“ eingebracht. Die renommierte New York Times widmete dem Phänomen sogar eine eingehende Untersuchung und sprach mit Experten, Einheimischen und Augenzeugen, um mögliche Erklärungen zu finden.

Einheimische Geschichten und die „Weiße Dame von Overtoun“

Während Wissenschaftler nach rationalen Gründen für die Sprünge suchen, glauben viele Menschen in Dumbarton an eine übernatürliche Erklärung. Die Region ist bekannt für ihre Geistererscheinungen, und die Overtoun Bridge wird oft mit einer legendären Figur in Verbindung gebracht: der „Weißen Dame von Overtoun“.

Overtoun House © Copyright Lairich Rig

Nach lokaler Überlieferung handelt es sich bei der Weißen Dame um den Geist der Witwe des ersten Barons Overtoun. Sie soll 30 Jahre lang um ihren verstorbenen Mann getrauert haben, bevor sie selbst starb. Seitdem, so heißt es, wandelt ihr Geist unruhig über das Gelände und die Brücke. Die Weiße Dame wurde in Fenstern des Herrenhauses gesichtet und soll auf den umliegenden Wegen umhergestreift sein.

Einige Einheimische sind überzeugt, dass sie die Ursache für das Verhalten der Hunde ist. Marion Murray, eine Bewohnerin Dumbartons, erklärte der Times: „Ihr Geist treibt sich seither hier herum. Sie wurde in Fenstern gesichtet und ist auf dem Gelände herumgelaufen.“

Augenzeugenberichte: Eine seltsame Energie

Lottie Mackinnon, eine Hundebesitzerin, erlebte das Phänomen aus nächster Nähe. Sie berichtete von einem erschreckenden Vorfall vor drei Jahren: „Etwas überkam meinen Hund, sobald wir uns der Brücke näherten. Zuerst war er wie erstarrt, aber dann wurde er von einer seltsamen Energie erfasst rannte los und sprang direkt von der Brüstung.“

Diese Erlebnisse passen in das Bild, das viele Einheimische zeichnen. Alastair Dutton, ein weiterer Bewohner Dumbartons, fasste es gegenüber der Times zusammen: „Die Leute hier sind sehr offen für das Übernatürliche, weil sie schon alle Geister gesehen oder gespürt haben.“

Übernatürliche Erklärungen: Der Geist als Ursache?

Paul Owens, ein Philosophieprofessor und Experte für lokale Geistergeschichten, hat 11 Jahre lang das Phänomen untersucht und ein Buch darüber geschrieben. Er ist ebenfalls davon überzeugt, dass die Weiße Dame für die Ereignisse verantwortlich ist. „Nach all meiner Forschung bin ich sicher, dass ein Geist dahintersteckt“, sagte er der New York Times.

Overtoun Bridge © Copyright Lairich Rig

Die Theorie, dass ein Geist die Hunde beeinflusst, mag für Dogmatiker spekulativ erscheinen, doch sie spiegelt die tiefe Verbindung zwischen den Bewohnern Dumbartons und ihrer mystischen Geschichte wider. Schottland ist reich an Mythen über „dünne Orte“ – also solche Orte, an denen die Grenze zwischen der physischen und der spirituellen Welt besonders durchlässig ist. Für viele ist die Overtoun Bridge ein solcher Ort.

Wissenschaftliche Untersuchungen: Was könnte Hunde anziehen?

Wissenschaftler haben ebenfalls versucht, das Verhalten der Hunde zu erklären. Im Jahr 2005 führten der Hundepsychologe Dr. David Sands und der Lebensraum-Experte David Sexton eine Untersuchung im Auftrag der Scottish Society for the Prevention of Cruelty to Animals (SSPCA) durch. Sie analysierten die visuellen, akustischen und olfaktorischen Reize in der Umgebung der Brücke und kamen zu einer etwas hilflosen Hypothese: Der Geruch von Nerzen sollte angeblich die Hunde anlocken.

Männliche Nerze hinterlassen einen starken Uringeruch, der für Hunde unwiderstehlich ist und ihren Jagdinstinkt auslösen könnte. Diese Theorie würde zwar erklären, warum besonders langnasige Hunde betroffen sind – sie besitzen einen besonders ausgeprägten Geruchssinn, aber die Sache hat einen Haken: es gibt in der Region überhaupt keine Nerze.

Eine weitere Möglichkeit, die Forscher in Betracht gezogen haben, ist, dass hochfrequente Geräusche die Tiere verwirren könnten. Quellen solcher Geräusche könnten nahegelegene Telefonmasten, ein Kernkraftwerk oder sogar das Mauerwerk der Brücke selbst sein. Doch bisher wurde kein eindeutiger akustischer Auslöser gefunden.

Die Psychologie der Hundesprünge

Tierpsychologen sind sich einig, dass Hunde instinktiv handeln und keinen Selbstmord begehen können, was natürlich nur eine weitere anthropozentrische Ansicht ist. Das bedeutet, dass die Sprünge auf eine Kombination von Umweltreizen und instinktivem Verhalten zurückzuführen sind. Hunde besitzen ein außergewöhnliches Geruchs- und Hörvermögen, sind jedoch visuell eingeschränkt. Die massive Steinbrüstung der Brücke könnte ihre Sicht behindern und sie daran hindern, die Tiefe der Schlucht zu erkennen.

Schutzmaßnahmen und Warnungen

Angesichts der wiederholten Vorfälle haben die Behörden Maßnahmen ergriffen, um weitere Tragödien zu verhindern. Ein Schild an der Brücke warnt Hundebesitzer: „Gefährliche Brücke – Führen Sie Ihren Hund an der Leine.“ Trotz dieser Warnungen bleibt die Brücke ein beliebtes Ziel für Spaziergänger und Touristen, die von der düsteren Mystik des Ortes angezogen werden.

Ein weiteres ungelöstes Rätsel

Die Overtoun Bridge bleibt ein weiters Mysterium unter Abertausend. Ob durch die Weiße Dame, einen unnatürlichen Reiz oder eine Kombination aus natürlichen und übernatürlichen Faktoren – die Ursache für die Hundesprünge ist bis heute ungeklärt. Doch die Legende der Brücke lebt weiter, als Mahnung und als Inspiration für all jene, die sich von den Grenzen zwischen Wissenschaft und Mythos angezogen fühlen.

Das Jahr der Spukhäuser

Jedes Haus wird heimgesucht. Die Frage ist, wovon?

Sobald man ein Haus betritt, weiß man es. Manche fühlen sich gut an, andere nicht. Und wie ein guter Wein sind ältere Häuser komplexer.

Im Sommer 20xx wurde ich nach Irland geschickt, um als Mitglied der Stonecoast MFA an einem Creative Writing-Programm teilzunehmen. Ich war dankbar für die Chance, herumzureisen und ungeduldig, diese Erfahrung zu machen, muss allerdings gestehen, dass Irland vor meiner Ankunft nicht auf meiner Liste stand. War Wales nicht malerischer? Und von London aus nicht besser zu erreichen?

Doch innerhalb von nur einer Stunde war ich von Dublin besessen. Ich wurde von einem überwältigenden Gefühl verschlungen, ja, von etwas, das dort in der Luft lag. Das Land verband sich mit mir. Ich sollte hier sein. Also überkam mich ein tiefes Bedauern, als ich Dublin am nächste Tag verlassen musste, um nach Galway zu reisen.

Aber das Gefühl kehrte zurück, genauso stark. Galway: das Kopfsteinpflaster, das Meer, die Gardinen, und der klimatisierte Bus. Ja.

Und dann ab nach Dingle, mein Zuhause für eine Woche, leben und arbeiten in einem Gästehaus, an der Seeseite gelegen, mit meinen zehn Studenten und dem Personal. Und das Gefühl wuchs. Da war so ein Ziehen, eine Sehnsucht, und so begann ich damit, mir die Möglichkeit zu durchdenken, wie ich hier leben könnte, wenn meine Tochter erst das College beendet hatte und ich dadurch dann San Diego verlassen könnte. Ich war verblüfft, wie sehr ich Irland liebte. In gewisser Weise hatte ich Irland in mich eingelassen. Und das veränderte mich als Schriftstellerin zutiefst. Es brachte mich soweit, zu akzeptieren, dass meine Zeit begrenzt war, und dass ich das Buch schreiben sollte, das mir wichtig war – das Buch meines Herzens.

So schnell wie mir der Gedanke kam, wusste ich auch gleich, dass das Buch meines Herzens ein Roman über ein Spukhaus sein würde.

Ich wusste allerdings nicht, warum.

Meine Studenten vermuteten, dass meine Entscheidung von den weit verbreiteten irischen Gespenstererzählungen und Legenden beeinflusst war. Das erste Buch, das ich mir in Irland gekauft hatte, war The Asylum, ein neogotischer Roman des Australischen Schriftstellers John Harwood. Ich hielt einen Vortrag über das Unheimliche in der Irischen Literatur, und ich sprach über Kobolde, Selchies und Pookas in Verbindung mit Wechselbälgern und Geistern.

Trotzdem wurde 20xx „mein Jahr der Spukhäuser.“ Ich würde ein Tagebuch über all die Spukhausgeschichten, die ich gelesen hatte, führen, und damit beginnen, meine eigenen Ideen zu skizzieren. Ich erstand ein wunderschönes verschließbares Notizbuch im örtlichen Buchladen in der Green Street und machte mich an die Arbeit. Und natürlich betrieb ich Recherchen.

Hier ist einiges von dem, was ich über Spukhäuser in Erfahrung bringen konnte:

Der früheste Bericht über ein Spukhaus ist uns aus einem Brief überliefert, geschrieben von Plinius dem Jüngeren (61-ca. 112).  Darin beschreibt er eine Villa in Athen, die von einem männlichen Geist in Ketten drangsaliert wird; die Knochen des Phantoms wurden ausgegraben und in einem ordentlichen Grab beigelegt, von da an ließ sich der Geist nicht mehr blicken. Es gibt auch weitere Geschichten über Spukhäuser in den Erzählungen aus Tausend und einer Nacht.

Die vorromantischen Dichter der „Gräberpoesie“ legten den Grundstein für die gotische und romantische Periode, die uns von Dickens‘ Große Erwartungen bis zu Shirley Jacksons Spuk in Hill House, Stephen Kings Shining, Susan Hills Die Frau in Schwarz, und zu Der Besucher von Sarah Waters führt. Es gibt Hunderte von Romanen über Spukhäuser. Und Kurzgeschichten. Und Filme.

Manche von uns werben um Geister. Wir wollen leben, wo sie sich aufhalten. Die forensische Psychologin und Geisterjägerin Katherine Ramsland schlief in jenen Räumen, wo Lizzy Borden ihre Morde beging, und auch im Fall River House in Massachusetts; die Mitglieder des Haunted Mansion Retreat in Nordkalifornien haben ihre Erfahrungen in einer Reihe von Büchern niedergeschrieben; und Horrorautor und Herausgeber R. J. Cavender bietet Rückzugsmöglichkeiten für Schreibende im Stanley Hotel in Colorado an, wo Stephen King seine ersten Entwürfe zu The Shining verfasste.

Michele Hanks untersuchte das Phänomen des „Geistertourismus“ in Großbritannien in ihrem Buch Haunted Heritage: The Cultural Politics of Ghost Tourism, Populism, and the Past. Es gibt sogenannte Ghostcams, die von allen erdenklichen Spukorten der Welt streamen.

„Schreckensspezialistin“ Dr. Margee Kerr, die als Soziologin zum Personal des Scare House in Pittsburgh gehört, sagt, dass manche Leute Spukorte mögen, weil sie das Ausschütten des Dopamins genießen, das eine Angstreaktion begleitet. Es ist eine wohlkalkulierte Angst: es gibt zwischen 3.500 und 5.000 kommerziell genutzte Spukhäuser, die an Halloween besucht werden, und ebenso unzählige „Höllenhäuser“, die auf dem christlichen Glauben der Verdammnis beruhen, um ihre Gemeindemitglieder vor einer Verirrung zu warnen.

Mir kommt es etwas komisch vor, dass das Buch meines Herzens ein Roman über ein Spukhaus ist, merkwürdiger sogar als mein Gefühl „in Irland sein zu müssen“. Obwohl ich eine Horror-Autorin bin, meide ich die meisten Horrorfilme. Sie sind einfach zu schrecklich. Ich muss sie mir sorgfältig auswählen, oder ich kann sie nicht bis zum Ende sehen (ich bin mehrmals an Paranormal Activity gescheitert, und vor zwei Nächten habe ich Babadook aufgegeben).

Befinde ich mich allein zu Hause, bebe ich förmlich bei dem Gedanken an Szenen aus Die Frau in Schwarz oder Spuk in Hill House. Ich würde lieber durch Glas springen als mich freiwillig einem Spukhotel, Hospital, oder einer Spukfahrt anzuschließen. Ich möchte die Angstreaktion nicht herausfordern.

Aber ich möchte meine Ängste überwinden. Als ich sehr jung war, war ich erfüllt von einer krankhaften Angst vor der Dunkelheit. Ich litt unter schrecklichen Schlafstörungen (natürlich hatte ich nachts das Licht an). Eines nachts, als ich gerade die Treppen meines Hauses hinab ging, bemerkte ich etwas, das hinter mir her kroch, ich wirbelte herum und schrie: „Ich bin dessen Königin!“ In diesem Augenblick wurde eine Horror-Autorin geboren – jemand, der die Monster niederstarrt, wenn er sie schon nicht vertreiben kann. Ist es das, wonach ich in meinem Spukhaus-Roman suche?

Ich glaube, es steckt etwas mehr dahinter. Etwas wie meine unerklärliche Liebe zu Irland.

Aber das Buch wurde geschrieben, und ich schreibe bereits an einem anderen.

Diese zweifache Besessenheit bleibt.