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Schlagwort: Stories

Auch nur ein Hund

Und die Ursel näht den Knopf an und die Ursel kann auch kochen. Königsberger Klopse. Das ist das Beste von ihr. Zunächst die Pellkartoffeln kochen. In der Zwischenzeit die Zwiebeln fein würfeln und in zehn Gramm Margarine glasig dünsten. Da huscht sie um den Tisch herum und ganz verstohlen blickt der Kurt auf seinen angenähten Knopf. Abgekühlt zum Hack geben. Das frische Hack hat der Herr Lekywizc selbst durch den großen Fleischwolf gedreht. Zuvor hat er selbst das Kalb entleibt. Davor hat er es selbst aus dem Uterus gerissen. Davor hat er es selbst gezeugt.

Das Hack mit dem Ei, Paniermehl, Pfeffer und Salz gut vermischen.

Jack (Arbeitstitel)

Als ich erwachte, wusste ich, dass es sich um denselben Albtraum gehandelt hatte, der mich bereits seit vielen Jahren nicht aus seinen Klauen ließ. Er begann bereits zu bröseln, kaum öffnete ich die Augen, blähte sich noch einmal auf und zerfiel schließlich in seine körperlosen Bestandteile. Zurück blieben wilde Farben und das klamme Herz in meiner Brust. Oft vergas ich in den ersten Sekunden eines neuen Tages zu atmen, wähnte mich nicht am Leben, bis mein Kopf den Druck des Sauerstoffmangels kaum mehr aushielt und den Mund öffnete, um den ersten Schritt zum Überleben in Betrieb zu nehmen. Erst dann setzte die Routine wieder ein. Ich keuchte und schwitzte und sprang viel zu schnell aus dem Bett. Der Fluchtgedanke war ein nicht zu kontrollierender Impuls, mein Kreislauf aber keine fünf Pfennige wert. Und so sackte ich jedes mal auf die Knie, um mich blind zu übergeben. Nach wenigen Minuten hatte sich mein Zustand wieder hergestellt. Ich fühlte mich miserabel. Dieses unfreiwillige Ritual sorgte für ein völliges Vergessen. Nie gelang es mir, Bedeutung, Sinn und Hergang des bösen Traums zu greifen. Wie ein Geschwür breitete er sich in mir aus, während ich wehrlos schlief. Livia hatte nicht unrecht, wenn sie auf einen Arztbesuch drängte. Vielleicht schob ich den Albtraum vor eine ernsthafte Erkrankung. Meiner Ansicht nach traten diese Anfälle zwar heftig, aber unregelmäßig auf. Wochen und Monate lang schlief ich wie ein Engel.

Es gab noch eine andere Theorie, die sich auf mein „böses Blut“ fokussierte und die ich vorsorglich für mich behielt. Ich war ein Erbe der okkulten Detektive, die viele für die Erfindung überspannter Literaten hielten. Das böse Blut hatte ich natürlich nicht von ihnen, wohl aber den Hang zur Sensibilität, ein empflindlich gestörtes Gemüt, das sich in unserer Familie durch mich bereits in der fünften Generation manifestierte. Geisteskrankeit ist ein zu starkes und unspezifisches Wort, deshalb möchte ich es an dieser Stelle nicht verwenden. Früher hatte man diesbezüglich weniger Skrupel, auch nicht hinsichtlich der Gerüchte, von denen eines andeutete, ich sei ein direkter Nachfahre jenes unbekannten Schreckens, der im Jahre 1888 ganz London in Atem gehalten hatte. Mein Verstand spricht von der Unmöglichkeit dieser Abkunft, aber mein Blut behauptet etwas anderes. geht man der Sache auf den Grund, so wird man leicht feststellen, dass mindestens eines der Opfer von Jack the Ripper zur Zeit ihrer Ermordung schwanger gewesen sein soll. Mary Jane Kelly war ihr Name. Sie war zwar nicht das letzte Opfer des Rippers, aber das letzte, das ihm zugeschrieben wurde. Von dieser Schwangerschaft kann ich nur berichten, dass Jack sie beendet hatte, doch auch das mag nur eine Legende sein. Nicht aber, dass sie im Jahre 1881 einen Sohn gebar, der zum Zeitpunkt ihres Todes sieben Jahre alt war. Sein Name verliert sich in der Dunkelheit, aber von Robert Kelly, der 1901 den Nebel der Welt erblickte, führt eine direkte Linie zu mir. Mein dunkles Blut ist ein Mythos der Geschichte und mehr als ein Fluch, der durch die Reihen meiner Familie schritt. Auf ein glaubhaftes Argument muss ich verzichten, wenn auch einer meiner ersten Träume mir zeigen wollte, wie sehr die Bande der Generationen gerade im Unglück geeinigt sind.

Natürlich würde das bedeuten, dass zumindest ein Teil meiner Herkunft in Irland zu verorten wäre, denn Mary Jane wurde in der Stadt Limerick, in der Provinz Munster geboren. Besonders scherzhaft war ihr Leben trotz ihrer Herkunft jedoch nicht. Aber welch Wunden lädt man sich im steten Flug durch die Jahrhunderte auf? Man würde wahnsinnig werden, wenn jede im Suff getroffene Entscheidung das Leben eines Nachkommen zerstören würde.

Spreche ich von mir als von einem okkulten Detektiv, so begann aufgrund der Gerüchte um meine Familiengeschichte mein Interesse an den Whitechapel-Morden. Ich bildete mir, wie viele andere ein, den wahren Jack entlarven zu können, durch nichts anderes als meine erstaunlich Intuition. Eine Annahme, die nichts anderes zeitigte als meine Albträume. Ich musste zu dem Schluss kommen, dass es diesen Mörder niemals gegeben hatte, dass er für alle Zeiten ein Phantom bleiben würde und nichts mit einem realen Menschen zu tun haben konnte. Es schien, als sei er nur die Personifikation einer gesellschaftlichen Tendenz gewesen, die im viktorianischen London gemeinsam mit dem Nebel durch die Stadt und das ganze Land wanderte.

Es sind stets die Phantome, die alles so interessant machen, die steten Ungewissheiten. Nichts ist je sicher, nicht für einen Moment. Eine Menge rätselhafter Raum liegt hinter uns – und vor uns vielleicht auch. Für die Geisterwelt mögen wir die Phantome sein. Während ich durch die vollgepackte Innenstadt von M. schlenderte, fühlte ich mich verfolgt. Das Gefühl hatte ich schon öfter gehabt, es verflog aber schneller als ich darüber nachdenken konnte. Schlafentzug, oder zumindest mehrere wirklich schlechte Nächte hintereinander, konnte durchaus Paranoia auslösen, aber man leidet nicht unter Verfolgungswahn, wenn man wirklich verfolgt wird. Unter all den Leuten, die ihren Geschäften nachgingen, wirkte das Gefühl völlig fehl am Platz. Als ob man unter all dem Höllenlärm einer Stadt einen Ton wahrnimmt, der eine ganz besondere Färbung besitzt, der gerade dadurch auffällt, weil man ihn nicht zuordnen kann. Die Gesichter, die mir begegnen, sind leer, es könnten geradewegs Attrappen sein, einzig dazu geschaffen, mich anzurempeln oder mich zu missachten. Aber unter all diesen Leuten musste es jemanden geben, der mich anstarrte. Die Nadel im Heuhaufen mit einem energiegeladenen Blick.

Die Gasse der sprechenden Häuser (Druckversion)

In meinem Zimmer gibt es keinen Tisch, an dem vier Stühle stehen könnten, in meinem Zimmer gibt es nichts. Das Zimmer ist nicht etwa leer, es ist vielmehr angefüllt mit allem, was nicht hier ist. Kein Tisch, kein Bett, kein Teller, kein Besteck. Es ist unmöglich, etwas hinein zu tun, etwa einen Stuhl, um darauf zu sitzen, solange ich hier bin. Um so mehr Dinge nämlich hereingebracht würden, desto mehr würde ich verschwinden, bis ich, wenn der Raum komplett ausgestattet wäre, mit allem, was man so braucht, mich völlig aufgelöst haben würde. Ich meine damit nicht etwa, dass man mich dann nicht mehr sehen könnte, dass ich unsichtbar wäre, nein, ich wäre ganz einfach nicht mehr da. Ausgelöscht. In diesem Zimmer hielt ich mich den ganzen Tag über auf und auch den überwiegenden Teil der Nacht. Ich verließ das Zimmer nur in den frühen Morgenstunden zwischen 2 und 3 Uhr, wenn mir die Existenz der Dinge am wenigsten Schaden zufügen konnte. Dann schlich ich düstere Wege entlang, verschwand mit den Schatten in Seitengassen oder durchwanderte die langgestreckte, unbeleuchtete Parkanlage. Der einzige andere Zeitvertreib war die Briefe zu lesen, die mir ein Unbekannter regelmäßig unter der Tür hindurch schob. Es war nie mein Bedürfnis, nachzusehen, wer mir die Briefe brachte. Ganz ruhig saß ich auf dem Boden und wartete auf die sich entfernenden Schritte. Erst dann ging ich hinüber, hob den Brief auf, der wie stets in einem strahlend weißen Kuvert, ohne Absender oder Adressat, geliefert wurde.

Mummenschanz in großen Hallen

Könnte doch jemand wie ich dich tragen ins Allerlei-Gespinst,
So schwer die Träne haftet an den Antlitzen der Statuen,
Gewöhnlicher war ich nie; und fand Novemberkälte
Und fand den Winterschmerz in den großen Hallen der Masken,
Die von einem zum andern wechseln, von der Scham keine Spur
Zwischen Riffeln und Reue, zwischen Schaum und Kontrast,
Der die Niederungen hebt wie ein stolzes Gebirg. Geklopft wird
Lange nicht mehr an die Tore des Mumpenzimmers,
An den Holzstock, der die Friese ersetzt. Die Schwelle,
Durch Raunen zum Stillstand gebracht,
Die Gesellschaft in Bewegung erfrorn.
Könnte doch jemand wie ich durch die Lustwiege schreiten,
Es wäre mir all meine Gesichter wert.

Endlich kam ich zu den großen Hallen, die das Verschwinden nicht nur markieren, sondern das Verschwundene auch beinhalten. Man erzählte sich, dass alles, was je verschwunden war, sich hier wieder einfand, in einer der unzähligen Kammern, die so angeordnet waren, dass sie – wie Hilberts Hotel –  in die Unendlichkeit ragten. Nie würde irgendjemand feststellen können, ob keine oder unendlich viele Gegenstände hier versammelt sind, oder gar unendlich mal unendlich viele. Allerdings könnten sich die verschwundenen Dinge verändert haben; was immer sie einmal darstellten, es könnte die Zeit oder der Eigensinn dafür gesorgt haben, daß man sie nicht mehr wiedererkannte. Ein verlorener Knopf, dessen Bestimmung es einst war, eine Strickjacke im Verbund mit anderen Knöpfen auf der Knopfleiste vorne auf der Brust zu verschließen, könnte in diesen großen Hallen zu einem komplexen Türschloß geworden sein, das einen geheimnisvollen Raum vor Zutritten schützt. Seine Aufgabe mag immer noch passiv sein, aber sein Stolz wird ihm auch nur die Erwähnung eines Knopfes in seiner Gegenwart verdrießlich erscheinen lassen, weshalb es völlig unangebracht wäre, den Schließmechanismus nach seiner etwaigen Vergangenheit zu fragen, um den Knopf, den es vielleicht nirgendwo anders mehr zu kaufen gibt, wiederzufinden.  

Wie würden sich verschwundene Wege oder Gelegenheiten darstellen? Möglicherweise könnte man sogar die Geschichte der drei verschwundenen Leuchtturmwärter von Eilean Mòr aus erster Hand erfahren, vorausgesetzt, daß sie nicht selbst bereits zu Leuchttürmen wurden, denn was ein Mensch ist, hängt auch davon ab, was er einmal werden könnte. Die großen Hallen vor mir werden wohl auch Inseln enthalten, die verschollenen Schiffen mit einem Signalfeuer dienlich sind.

Vielleicht standen die großen Hallen selbst schon in der Vergangenheit und entsprangen dem verschwundenen Paradies. So könnten die hohen Säulen, die ein Granitmassiv davon abhielten, in einen grandiosen und unbewegten See zu bröckeln, einst Teil der Obstbäume des Garten Edens gewesen sein. Ein erstes Verschwinden räumte ihnen die Aufgabe ein, den Betrachter an das Vergessen zu gemahnen, aus dem ein großer Teil der bekannten Welt besteht. Denn gäbe es das Vergessen nicht, warum sollte man sich dann erinnern wollen? 

Der See, den es in einem der bunten Kähne zu überqueren galt, lag ruhig vor den Hallen, aber auch er spiegelte nur das, was in der Vergangenheit lag, und so konnte ich auf seiner Oberfläche keinen Hinweis auf die drei großen Säulen entdecken. Sobald ich den Blick über seine silberne Fläche schickte, sah ich Gesichter, die sich einander zuwandten, und Szenen, die ich nicht kannte. Verloren, dachte ich. Welches Leben war in dieser Erinnerung verschwunden? Es wäre schön gewesen, einen Nachthimmel als Zeugen meiner Ankunft begrüßen zu dürfen, aber Gezeiten waren hier genauso fremd wie etwaige Wetterphänomene. Ich sah hinüber und wunderte mich über die Stille, gegen die ich nichts ausrichten konnte. Ein Leben lang hatte ich mich nach ihr gesehnt, obwohl ich wußte, daß sie in den Wahnsinn führte, wenn man ihr nur lang genug ausgesetzt war. Vorsorglich hatte ich Kork mitgenommen, den ich mir nun in die Ohren steckte, denn gegen diese vollkommene Lautlosigkeit half nur das Rauschen des eigenen Blutes und das schäumende Knarzen des Speichels, der über die Klippe der Kehle gepresst wird. Meine Aufmerksamkeit richtete sich hilfesuchend auf die inneren Laute und mein Puls beruhigte sich. Jetzt konnte ich aufbrechen. Vorsichtig löste ich das Seil eines der Boote, ein gelbes sollte mich zur Anlegestelle auf die andere Seite bringen. Ich wählte diese Farbe, weil sie mich an die schmutzige Sonnebarke erinnerte, die ich in Träumen sah. In ein schwarzes wagte ich mich aus abergläubischen Gründen nicht, obwohl ich keinen Gedanken daran verschwendete, ob denn diese Auswahl einen Einfluss auf meine Weiterreise haben könnte oder nicht. Möglicherweise fanden meine Schritte ihr Zeil ohne mein Zutun; wie hätte ich unter so vielen Kähnen den richtigen herausfinden können? Und führten sie nicht alle im Grunde über das Wasser, wie schließlich alle Möglichkeiten zum Ziel? 

Als ich aufgebrochen war, schälte sich der Sommer gerade aus seiner warmen Haut und ließ sich vom Herbstregen säubern. Die blinde Tat der Natur. Eine bessere Zeit, um auf reisen zu gehen, gab es nicht. Nur, wenn das stimmte, war der Herbst mein ständiger Begleiter. Nicht an einen einzigen Tag konnte ich mich erinnern, der nicht dem Verschwinden geweiht war. Als ich mein menschliches Bewußtsein erlangte, war das Erlebnis meiner Geburt nicht darin enthalten. Man mochte mir in aller Ausführlichkeit erzählen, wie ich in einem fremden Bauch herangereift war, entschlüpfte, um mit meinem noch gar nicht vorhandenen Ringmuskel die mir zustehende Milchproduktion zu fordern und zu fördern. Es war die erste Erzählung, die gleichzeitig das Verschwinden signalisierte. Und seitdem verschwand jeder Tag. Alles vermischte sich so lange, bis kaum mehr Wochen oder Monate vorhanden waren. Doch auch die Dinge selbst verschwanden. Ich beobachtete, wie sich Schlüssel, Bücher, die Figuren einer Sammlung wiederfanden, und kam zu dem Schluß, daß sie durchaus für kurze Zeit ganz und gar verschwunden waren – und nicht etwa nur verlegt –, daß die Suche nach diesen Gegenständen jedoch unmittelbar erfolgt war und somit die geistige Verzweiflung des Suchers dafür verantwortlich, daß diese Dinge wieder erschienen. Sozusagen folgten sie dem Ruf des Suchers und waren noch nicht lang genug Bestandteil der Mumpenzimmer in den großen Hallen. Der Transfer mochte einige Zeit in Anspruch nehmen, denn es galt, den Neuankömmlingen ihren Platz zuzuweisen. Ein Schlüssel, der nicht in einem natürlichen Verhältnis zu einem Schloß stehen kann, wird unweigerlich seine Aura als späteres Symbol verlieren, und kann aus diesem Grunde nur einer verlorenen Truhe, einem Schrank oder auch einem baren Mechanismus zugewiesen werden, Gegenstände also, die viel seltener verschwinden als er selbst. Dadurch entsteht ein Mißverhältnis im Gleichgewicht, und der verschwundene Gegenstand wird sich sofort verändern müssen, möglicherweise sogar in seine Bestandteile auflösen. 

Ich beobachtete das Verschwinden und Wiederauftauchen so lange, bis eines Tages mein Gesicht verschwunden war. Selbstverständlich bemerkte ich dessen Fehlen vor einem Spiegel. Nun dachte ich zu dieser Zeit noch, daß man nur verlieren konnte, was man nicht achtete. Jede gute Erziehung rühmt sich dieser Aussage. Doch auf mein Gesicht hatte ich stets achtgegeben. Ich wusch und cremte, mehr war in jungen Jahren nicht zu tun, und dennoch war es plötzlich nicht mehr da, was nicht bedeutete, daß auch meine Sinne verloren waren. Jedoch lagen meine Augen tief in ihren Höhlen, meine Nase war nur noch ein kleiner Knorpelschaft vor einer größeren Öffnung, die direkt in meinen Kopf führte, und meinem Mund mangelte es an der Lippenfülle, die ich an mir mochte. Als wäre mein Schädel mit einer dünnen Gummischicht überzogen oder einem Leim, der an der Luft getrocknet war, gab es kein charakteristisches Mienenspiel mehr. Das machte mich zwar durchaus zu einer wiedererkennbaren Gestalt, aber mein persönliches Empfinden zeichnete sich darin so wenig ab wie auf einer Schaufensterpuppe der Schmerz des Gebrauchsgegenstands. Es ist nahezu unmöglich, sich ohne Gesicht durch die Welt zu bewegen. Dieser Gedanke war meine einzige Reaktion. Welche Welt?, war mein zweiter. Wer mich so zu sehen bekam, mußte mich für ein Opfer von Flammen halten, aber vielleicht war das Fehlen meines Gesichts gleichzeitig das Fehlen aller Gesichter. 

Als ich mir mein weiteres Vorgehen überlegen wollte, bemerkte ich, wie hinter meiner maskenhaften Haut eine gewisse Hektik herrschte. Meine Wangen begannen ebensosehr wie meine Stirn zu glühen, mein Mund brannte regelrecht. Da ich mich noch vor dem Spiegel befand, konnte ich beobachten, wie sich neue Gesichtszüge formten, erst teigig und unbestimmt, dann mit immer stärker werdender Kontur. Innerhalb kürzester Zeit war ich zweimal ein Fremder geworden. Ich sah nicht mehr aus wie jemand, den ich kannte. Viel drohender wirkte mein Blick, viel stämmiger war mein Kinn geworden. War das ein Gesicht, das es schon einmal gegeben hatte? Eines, das es gegenwärtig noch gab? Eine naheliegende Frage aus der Ethik der Organtransplantation kam mir in den Sinn, nämlich die nach dem Wesen. Bleibt man durch ein fremdes Organ derselbe oder nimmt im Laufe der Zeit die Marotten des Spenders an? Da das Gesicht aus mir selbst herausgebrochen war, beschloß ich, erst einmal abzuwarten. Was hätte ich auch anderes tun sollen?

Auf der ganzen Welt verschwand täglich jede erdenkliche Form mindestens einmal, ob belebt oder nicht, ob komplex wie ein Säugetier oder nutzlos wie eine alte Blechdose.

Erst nach tagelangem Ringen, als ein spontanes Wiederauftauchen meines eigenen Gesichts nicht mehr im Bereich des Möglichen lag, bereitete ich mich darauf vor, die Mumpenzimmer aufzusuchen, um die Frage zu klären, warum ich als jemand erscheinen sollte, den niemand kannte.

Die Schwärme unmöglicher Vögel

Der Mond war längst gefallen, aber in Wahrheit hatte er sich in die Nacht zurückgezogen. Niemand sah sein tröstendes Licht je wieder.

Die letzten Schwärme unmöglicher Vögel waren über einem Steinbruch gesehen worden, der vor Ratten wimmelte und genauso gemieden wurde wie alles, was außerhalb des Areals lag. Es gab keine konkreten Hinweise darauf, dass das Land tatsächlich Seelen fraß, und die morbiden Geräusche, die aus den sterbenden Wäldern drangen, lieferten nur ein weiteres Indiz für einen unheimlichen Vorgang, den wir uns nicht erklären konnten. Von einer wirklichen Gefahr zu sprechen wäre jedoch verfrüht gewesen. Welche altehrwürdige Stadt führt nicht mindestens einen Ort an, der aufgrund seiner ehemaligen Funktion dem Nüchternen einen dunklen Glanz verleiht? Es mag sich meist um Galgenhügel und Richtstätten handeln, die im Grunde nicht imposanter sind als geplünderte Friedhöfe, um die sich seit Jahrhunderten niemand mehr kümmert. Ein Teil der Geschichte, der nicht erzählt wird, hält sich natürlich dennoch tief in der Erde fest, die diesen Ort ausmacht. Von dort aus errichtet sie eine Aura des Unbekannten und Ähnlichen, kaum sind die einzelnen Schicksale in all ihrer Dramatik erfasst; die Dorfchronik erwähnt nur sachlich deren Namen. Aber das Gehörte von Anderswo wird in die kollektive Vorstellung integriert, so dass sich eine kollektive Identität des Leidens eines vergangenen Zeitalters zeigt, von dem niemand genau sagen kann, wann es denn eigentlich stattgefunden hat.

Der Gehenkte

(Am 25. Januar 1855 erhängte sich der heute weltberühmte Dichter Gérard de Nerval in Paris an einem Straßentor der Rue de la Vieille-Lanterne, einer Sackgasse, die es heute nicht mehr gibt. Bei sich trug er das Manuskript der Aurelia.)

Die ausgelassene Stimmung verpuffte jäh mit dem ersten Glockenschlag. Nicht die Mitternachtsstunde, in der die Geister früherer Zeiten tobten, ist die ungemütlichste der ganzen Nacht, es ist die Spanne zwischen drei Uhr morgens und dem Sonnenaufgang, die für die meisten Todesfälle sorgt. Zu diesem Zeitpunkt steht die absolute Schwärze in ihrem Zenit und jeder positive Gedanke ist nur ein hilfloses Konstrukt innerhalb der unüberwindbaren kosmischen Kälte.

Abstieg in den lichten Schatten

Geschrieben von W. H. Pugmire

Ich erwachte in meinem fensterlosen Turm, in dem es nach alten Büchern und Würmern roch, die sie befallen hatten, und fegte die bleichen, geflügelten Viecher aus meinen gelockten Haaren, wo sie sich eingenistet hatten. Ich schüttelte die seidigen Körper von mir, stand auf und starrte auf die weiße Kugel aus sanftem Licht, die knapp über meinem länglichen Schatten schwebte – die Kugel, die von jeher mein Begleiter war. Durch ihr Licht konnte ich die Worte aus den alten Büchern verschlingen, Silben, die ich schmecken konnte, sobald sie gesprochen wurden. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie ich die Kunst des Lesens erlernt habe, aber ich kann mich schwach an die Frau erinnern, die in meinen Träumen tanzte und immer ein weißes Buch in der Hand hielt, die mir die leuchtenden Blätter zeigte und vorsichtig ihre stummen Lippen bewegte, damit ich die Worte verstehen konnte, die sie bildeten.

Salz

Geschrieben von Emily Anderson Ula

Mein Mann schreibt die Namen seiner neun Dämonen auf Post-it-Zettel und verbrennt sie in der Küchenspüle. Er isst nur Äpfel.

Ein Apfel pro Tag wird sie fernhalten.

Da spricht der Arzt, erinnere ich ihn.

Es ist alles das Gleiche.

Morgen wird der Sonnenuntergang blau sein

Geschrieben von Jeremy Szal

„Komm schon!“ Benns Stimme dröhnt in meinem Helm und es hört sich an, als befände er sich direkt neben mir, obwohl ich zwanzig Meter hinter ihm liege. Ich war noch nie gut im Laufen. Jetzt, bei niedriger Schwerkraft, bin ich noch schlechter. Regelrecht lahm.

Normalerweise würde ich ihm sagen, er soll die Klappe halten und sich gefälligst meinem Tempo anpassen. Wie jeden Abend werden wir den Sonnenuntergang von Dzilt erleben, der sich in einem sanften Blau vom silbernen Horizont des Planeten abhebt. Aber da ich weiß, was ich weiß, lege ich einen Zahn zu. Der große Kerl grinst hinter seinem Visierhelm, als ich den Hügel erreiche, atemlos und verschwitzt in meinem hautengen Anzug. Meine Brust hebt sich. „Du hast gewonnen“, schnaufe ich.

Die Leute im Schloss

Geschrieben von John Langan

Die Burg stand auf einem steilen Hügel oberhalb der Stadt. Um den Fuß des Hügels verlief die äußere Burgmauer mit einem massiven Tor, und innerhalb dieses Tores befand sich das Haus des Arztes. Die Leute konnten sich dem Schloss nur nähern, indem sie durch die Tür seiner Praxis hineingingen, durch die Gartentür hinausgingen und hundert Stufen hinaufstiegen; aber niemand machte sich die Mühe, dies zu tun, weil es im Schloss angeblich spukte, und wer will schon hingehen und ein leeres altes Haus sehen, das in Trümmer fällt? Soll der Doktor doch selbst herumspazieren, wenn er will.