Bouquinist

Das Hospiz / Robert Aickman

Marvin Keye schrieb in seinem Vorwort zur Anthologie „Masterpieces of Terror and the Supernatural“, die er herausgab, dass er zunächst zögerte, die Geschichte „The Hospice“ (dt. „Das Hospiz“) in die Sammlung aufzunehmen, weil er nicht herauszufinden im Stande war, was sie aussagen wolle.

Man liest die Geschichte sechs oder sieben Mal (vielleicht auch öfter), und kommt immer noch nicht dahinter. Das aber ist genau das, was sie beabsichtigt. Die besten Geschichten sind jene, die ins Unterbewusstsein kriechen und flüstern und rätselhaft bleiben. Sie führen uns in die Dunkelheit und lassen uns dort allein. Vielleicht finden wir wieder heraus, vielleicht auch nicht. Viele Geschichten von Kafka funktionieren so, viele von Cortàzar tun es ebenfalls – und natürlich die meisten von Aickman. Aber Aickman ist keineswegs ein Avantgardist, der krude Rätsel für seine Leser zusammenspinnt. Das Hospiz ist in einer einfachen Sprache gehalten, fast flach, mit einem Minimum an Erschütterung und Bewegung: Ein Reisender verirrt sich auf einer Straße irgendwo in den West Midlands, kommt durch eine Siedlung, die aussieht wie im 19. Jahrhundert, mit hohen Bäumen und einsamen Häusern, sieht das Hinweisschild, das gutes Essen und andere Annehmlichkeiten verspricht, außerdem hat er fast kein Benzin mehr. Zu allem Überfluss wird er auch noch von etwas, das eine Katze gewesen sein könnte, ins Bein gebissen, als er kurz aussteigt, um sich grob zu orientieren. Diese Biss, der sich vielleicht entzünden könnte, spielt im weiteren Verlauf nur die Rolle, dass er da ist und schmerzt. Das ist die erste Irreführung der Erwartungshaltung.

Im Hospiz wird er freundlich aufgenommen und kommt gerade richtig, um am Abendessen teilzunehmen. Die Schilderungen und Geschehnisse sind immer nur knapp neben einer gewohnten und erwarteten Reaktion, einer bekannten und nachvollziehbaren Szenerie, aber sie treffen niemals das Bekannte, das jemals Erlebte.

Ihm wird also das Essen in mehreren Gängen serviert, die exorbitant sind, gewaltig und unbezwingbar – und damit beginnt ein merkwürdiger Reigen, der sich zwar niemals ins Groteske zieht, aber einiges aus der Atmosphäre des Theater des Absurden schöpft.

Poeme

Kein Bach springt in den Krug

Ich habe vieles vergessen, von den Taten weiß ich nichts und immerfort zähme ich meine Erinnerung aus bunten Strukturen in einem gläsernen Gewand. Ich könnte nicht sagen, was es mir bedeutet, selbst vergessen zu sein, obwohl niemand je von mir gehört.

Alle Gefäße bleiben mir leer, kein Bach springt in den Krug. Niemand kam, um mich zu finden, also suchte ich die verworrenen Pfade für mich selbst.

An dieser Scheibe ein zürnendes Klopfen, aber ein lautloses Geräusch für alle anderen. Hatte meine Versuche wie Schuhe hinterlassen; standen da und stoben auseinander.

Der erste Strich könnte eine Legende sein, vom Drachen eventuell, von jemanden, der ihn erstach. Glaubst du nicht, dass nur Gespenster eine Geschichte zu erzählen haben? Sie warten, um sie an dich weiterzugeben.

Seien wir auf der Hut vor Fliegenkastellen. Lange nach der Geschichte gemäßigter Findelkinder, gekleidet in Laken, aus Zement und Asche geformt, aber mit Stoffresten an den Ausläufern. Die Hinterbliebenen sind des Sprechens müde geworden durch all die Wirrnisse aussortierter Erlebnisse. Ein Tablett mit verdorbenem Kuchen geht durch zauberhafte Hände, um am Ende auf dem Boden abgestellt zu werden. Da wird es nicht leichter, den Klöppel zu schwingen; nur ein dumpfes Geräusch, wenn der Zwerg sich übergibt und das eiserne Fabrikat um die Lenden herum enge wird. Ein Schlüssel hülfe, aber kein Schlüssel ins Sicht. Ein magischer Spruch könnte die Erscheinung beenden, aber wer spräche ihn aus? Wer zöge seine Lippen auseinander und bleckte die Zunge aus seinem rotierenden Maul?

Ich kann nicht wissen woran ich denke auf der Suche nach dem ultimativen Geheimnis hinter jedem Ding, vor allem aber hinter einem künstlerischen Ausdruck. Ein Weg ist so gut wie der andere und vielleicht ist ein anderer Weg auch immer derselbe, der einzige, der sich nicht spaltet oder der ein Hufeisen nachbildet und dann auf einer Parallele zurückführt; dann dreht sich noch etwas die Erde und dann haben wir es. Die Quelle ist ein einziges Ding, aber zu erfassen ist ein einziges Ding eher nicht, man möchte es sogleich zerreißen und die Marmelade schmecken, oder wie beim Wein: Asphalt, Brombeere, Rauch, Schweiß – obwohl es sich nur um zermalmte Trauben handelt. Füllen wir einen Gedanken in ein Glas, schwappt es nicht über. Man gibt Wasser hinzu und es schwappt solange nicht über, bis das Wasser den Rand erreicht, vom Gedanken ist nichts zu sehen, der bleibt in diesem Glas, bis wir ihn wieder herausdenken.

Dass ich den Tanz nicht mehr fürchte, nicht einmal die Treppen, die ihn unterbrechen – und Skelette sich an die Wände kauern; ein schlotterndes Rippchen nagt an ihrem Selbstvertrauen, der knochigen Gewissheit, einst Fleisch geteilt zu haben mit den hungernden Größen der Unterwelt. Doch nahmen sie alles; was bleibt ist hell erleuchtetes Elfenbein. Einmal muss man auf dem Arsch sitzen können und strampeln, die Luft aufwirbeln (vielleicht wirbelt auf etwas anderes mit). Im Keller ist nichts mehr, ich habe nachgeschaut. Sauberkeit hat hier eine Menge zerstört. Der nächste Staubintervall wird ein anderes Bild zeichnen und andere Dinge benetzen. Warum nicht einfach eine Lücke lassen für gewesene Dinge? Sie könnten wiederkehren, wenn ich nur den richtigen Schlüssel finde. Vor Kurzem sprach ich bereits den ersten Satz einer neuen Monarchie.

Manche Tage sind das Gewürm unserer Erzählungen.

Als ich dann anfing zu singen, dachte ich, dass ich singe, um Sänger zu werden, dass ich auf die Uhr fünf nach acht sah, das Morgenlied in der dritten Klasse, ein hohes Gezwitscher, fast wie Farinelli, der Kastrat, die Glocken noch nicht in Betrieb, aber dann sackte mir der Kehlkopf eine halbe Oktave ab, die Stimmlippen gedehnt & ich sang nicht mehr, ich gurgelte nur noch, bis ich meinen Bariton fand, natürlich den hohen Bariton. Man könnte doch Geisterhymnen singen, sang ich Geisterhymnen. Man könnte doch Moorleichen besingen, besang ich Moorleichen, denen man die Brustwarzen in Scheiben geschnitten hatte, auf dass sie keine Könige mehr seien, aber tanzten.

Zwar bekam ich das nicht, um ihnen die Prozession der toten Clowns zu singen, aber weit von der Vokation war ich nicht entfernt.

Der Phänomenbereich: Sprache als Struktur, nicht als Äußerung einer kommunikativen Handlung. Um die écriture nicht körperlos zu lassen, muss ich sprechen vor allem dann, wenn ich die kommunikative Sprache hinter mir lasse; da winde ich mich aus dem Wandler – das ist wie Geistsein, neue Substanz ohne mich, die Quelle, neuer Körper allüberall, Ton ist Berührung, Händeschütteln, mehr –

Poeme

Blutberberitze

zumindest heute wird das Saugen an externen Schulen gelehrt,
und ich glaube, man wäre verwundert, wie sehr diese
nachtaktiven Aktionen einen Kreis schließen, der vor
Jahrhunderten eröffnet wurde. Wer weiß schon, wie man
seine Zähne sachlich korrekt in einen Hals versenkt. In
der Vergangenheit kam es immer wieder zu größeren unglücklichen
Aktivitäten, die dann von einer Helsing’schen
Spezialeinheit unterbunden werden mussten. Es gab quasi keine
Garantie für ein Überleben im Urwald der Disharmonie. Nicht
einmal an einem dreizehnten Freitag konnte man sich sicher wähnen.
Wie dem auch sei, kaufen sich viele Angehörige mittlerweile
nur noch Aprikosengelee. Eine Entspannung ist dennoch nicht
in Sicht, weil es zu viele Unbekannte gibt, die lieber –
in scharfen Mull gekleidet – die vorbeiziehenden
Daunenbetten zählen, wo sie sich doch besser um ihr
kümmerliches Kleinvieh sorgen machen sollten, schließlich
sind nicht wenige Gespenster davon abhängig, deren
Gesichter zu tragen

kein Hungerkünstler wird sich hinsetzen und
von einem Gedicht träumen, das er in kühlen
Nächten in einer Art Rodeo mit dem Minotaurus
von einer abwesenden Dame um den Bauch
gebunden bekam : ein Stück Labyrinth, in dem
er bleibt, gerade weil die Wände sich verschieben.
Er kann sich nicht immer vom Fleisch der Gefallenen
ernähren, auch wenn diese ewig sind

ich bin nicht ein einziges Mal
in irgendeiner Form zu bewegen gewesen
nur im rückwärtigen Raum standen
die Antworten auf Regalen bereit

die nachtduftende Straße, ein Asfalt, der
sich abnutzt und der nicht genau lesen kann
was über ihm schwebt in schnellen Bewegungen
und der gefesselten Luft. Wahrscheinlich war die
Mitte nicht zu finden, die Geleise vielleicht?
Und weiter runter ist nichts mehr bevor alles
aufhört. Genau dort hat es einst ein
Gespräch gegeben, schon vergangen, schon verschwebt
ein anderes aufgenommen, ein Wunder du
und ich im selben Nichts

oft höre ich die Fragmente singen
und sie stehen auf einer Knochentribüne
gar nicht so richtig wahrgenommen
weil ihnen die gewohnten Teile fehlen
aber dadurch sind sie ein Ganzes
und gehören zusammen
ohne Schutz vor ihrem Zerbrechen
das man leicht herbeiführen kann
singen sie also auf ein Band
um sich zu schließen
sie haben mehrere Bänder besungen
aber nur eines war gleichzeitig zu hören
und man musste sie nicht sehen
um sie hören zu können oder vielmehr
das was sie sangen denn eigentlich
sprachen sie mehr, es ging nicht um eine
ausgeklügelte Methode von Noten schon gar
nicht um Harmonie

Du hast dieses gewisse Etwas als Spiel verharmlost, ohne die Konsequenzen
auch nur zum Teil zu bedenken. Und so wurden mürbe Knochen
nicht einfach wieder an ihre ursprüngliche Stelle transportiert,
sondern mit dem Keim der Angst vermischt,
nie wieder in einer öffentlichen Toilette
Ballett zu tanzen. Dein Schuh war dir von Geburt gegeben,
aber ob diese wahr oder nur in der Erinnerung stattfand,
bleibt dem Geist verschlossen, wenn er versucht,
ohne Quecksilber hinter das Geheimnis zu kommen.
Der Rohrschachtest schlug fehl, denn du
sahst immer nur Federn
wo es eigentlich ein Stahlgemenge zu sehen gab.
Nun labe dich an deiner Quelle der Sorgen
und beehre uns morgen wieder,
wenn der Hahn und die Henne ihre Rollen tauschen

er schreitet über die Wolken als wären sie aus Luft
(was sie auch sind)

Das Jetzt wird lange her sein
wenn ich beginne zu sprechen
von Dingen die waren Dingen
die nie sein werden aber im
Moment festgehalten werden von
den Gedanken den schönen wie
den lästigen sich wiegend wie
grüne Zweige entdeckt schon
von Vögeln und ihrem richtungsweisenden Flug

Er bevorzugte Inselromane, irgendwas Düsteres
in der Einsamkeit
(als ein Gedicht aufschnappte
zerrte er es mit seinem
Ledergürtel wieder fest)

Du hast diese Dinge ausprobiert
doch sie funktionieren nicht
Du probiertest diese Dinge aus
aber sie funktionierten nicht

Mitten im Spiel ändern sich die Regeln
und mit den Regeln verändert sich das Wetter.

Wenn ich nicht weiter wusste, ging ich spazieren;
wenn ich dann zurückkam, öffnete ich mir die Tür
und lud mich dazu ein, das Essen zu genießen.

Woher die Worte kommen / wir sind
ein Fragment des Wissens

es ist wenig dran am Versuch
schweigsam zu sein

Bouquinist

Smee / A. M. Burrage

Der Schriftsteller A. M. Burrage äußerte einst den Wunsch, seinen Lesern einen wohligen Schauer über den Rücken zu jagen, so dass sie nicht anders können, mit einer brennenden Kerze zu Bett gehen, ganz unerheblich, wie tapfer sie sich fühlen mögen. Doch seine Gespenstergeschichten, von denen eine Auswahl 2022 in einer opulenten Ausgabe der British Library erschien, bieten weit mehr als bloßen Grusel. Der in Middlesex geborene Burrage (1889-1956) begann bereits während seiner Schulzeit mit dem Schreiben von Geschichten, zunächst für Jugendmagazine. Doch erst nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg 1918 reifte er zu einem meisterhaften Autor übernatürlicher Geschichten heran. Seine besten Werke entstanden in den 1920er Jahren, einer Zeit, in der die Gespenstergeschichte eine ihrer zahlreichen Renaissancen erlebte. Dennoch ist sein Werk hierzulande weitgehend unbekannt: Eine deutsche Ausgabe seiner Erzählungen gibt es bis heute nicht.

Burrages Erzählungen sind von unterschiedlicher Qualität, sie reichen von sentimentalem Pathos bis zu purem Horror und phantastischen Alternativrealitäten. Die genaue Anzahl seiner Gespenstergeschichten ist nicht eindeutig belegt, es sollen aber weit über hundert sein. Material für eine deutsche Auswahl gäbe es also genug, aber freilich fehlen hierzulande die Leser.

Smee

Die Geschichte „Smee“ spielt an einem Weihnachtsabend und folgt der beliebten Tradition klassischer Spukgeschichten: Sie wird als Erzählung in einer Erzählung präsentiert. Tony Jackson sieht sich gezwungen, seinen Freunden zu erklären, warum er sich weigert, an ihrem Versteckspiel nach dem Abendessen teilzunehmen. Um sein Zögern zu begründen, erzählt er von einem unheimlichen Erlebnis in der Vergangenheit: einem Weihnachtsabend, an dem er mit elf Freunden das Spiel „Smee“ spielte. Dieses Spiel ähnelt dem klassischen Versteckspiel, hat aber eine raffinierte Variante. Der Name leitet sich von der phonetischen Ähnlichkeit zu „It’s me“ („Ich bin’s!“) ab.

Eine Person wird per Los zum „Smee“, wobei nur sie selbst um ihre Rolle weiß. Nach dem Erlöschen des Lichts versteckt sich „Smee“, während die anderen ihn oder sie suchen. Trifft ein Spieler auf einen anderen, fragt er: „Smee?“ Antwortet der andere mit „Smee!“, zieht der Fragende weiter. Der echte „Smee“ jedoch bleibt stumm, und wer ihn findet, verharrt ebenso schweigend bei ihm – bis alle Spieler beisammen sind. Der Letzte, der den Kreis erreicht, verliert das Spiel.

Was Jackson an jenem Weihnachtsabend jedoch erlebte, ging über ein harmloses Spiel hinaus: Ein Geist hatte sich unter die Mitspieler gemischt. Das Szenario ist perfekt für eine Spukgeschichte – ein weitläufiges, altes Haus mit unzähligen Zimmern und dunklen Gängen, dazu die Warnung des Gastgebers, bestimmte Bereiche aufgrund baulicher Eigenheiten besser zu meiden. In absoluter Dunkelheit verliert sich die Orientierung, und ein ungebetener Mitspieler bleibt unbemerkt, bis es zu spät ist.

„Smee“ spielt meisterhaft mit der Angst vor der Dunkelheit. Während Weihnachten gemeinhin mit heimeligen Lichtern verbunden wird, hat es in der angelsächsischen Tradition auch eine enge Verbindung zu Geistergeschichten. Doch während viele moderne Leser mit solchen Erzählungen wenig anfangen können, weil ihnen das Gespür für subtile Atmosphäre und literarische Raffinesse fehlt, entfalten sie für Kenner ihren vollen Zauber. Wer sich auf die düstere Eleganz solcher Geschichten einlassen kann, erlebt einen Genuss – ähnlich dem Weihnachtsfest selbst.

Journal

Ein Fluch ohne Autor

In Teseo Albinesis Aufzeichnungen aus dem Jahr 1539 wird beschrieben, wie der Okkultist Ludovico Spoletano den Satan beschwor, weil er Fragen hatte, die ihm sonst niemand beantworten konnte. Ein Magier, der sehr von dem deutschen Gelehrten Johannes Trithemius beeinflusst zu sein schien, schrieb Werke wie das Steganographia, das alchemistische und magische Inhalte mit verschlüsselten Botschaften kombinierte, bis er an einen Punkt kam, wo er – ähnlich wie Doktor Faustus glaubte – alles bereits zu kennen, aber doch nichts zu wissen.

„Komm in meinen Körper, Majestät; ganz einfach, um den Stift in meiner Hand zu führen. Was sind diese verschollenen Wahrheiten, von denen ich vermute, dass es sie irgendwo geben muss? Was steht in den uralten Schriften, die ich nicht besitze?“

Der Teufel aber blieb diesmal unsichtbar. Womöglich hatte er seine vorrangige Garderobe gerade in der Wäsche, oder ihm fehlte ein Knopf an seinem feurigen Jackett.In Ludovicos Körper wollte er ebenfalls nicht fahren, um sich als menschliches Wesen über das Schreibpult zu beugen. Also schnappte er sich nur den Stift des Gelehrten, um als körperloser Autor zu fungieren.

Was der Teufel schrieb, war vielleicht nur von Ludovico zu entziffern: eine Reihe von diabolischen Kritzeleien, die von links nach rechts zu lesen sind. Nachdem der Text an mehrere gelehrte Männer weitergegeben wurde, ohne dass die Entschlüsselung gelang, verschwand er auf wundersame Weise in der Versenkung.

Selbstverständlich ist die Geschichte über Ludovico Spoletano eine Anekdote.

In einem bibliografischen Anhang zu Fortunato Castellanis „Tractatus contra hereticos” (Mantua, 1683) findet sich ein einziger, beiläufiger Vermerk über einen gewissen Ludovicus Spoletanus. Von ihm heißt es, er habe „mehr gewusst, als ihm erlaubt war”, und er sei „weder mit der Kirche noch mit dem Himmel versöhnt gestorben”. Die Bemerkung steht zwischen zwei Notizen über die Besitzverhältnisse einer lombardischen Reliquie und den Tod eines Benediktinerabts in sinistra fama – doch in ihr liegt ein Rätsel, das seither einige Leser beschäftigt.

Spoletano war, dessen scheinen wir gewiss zu sein, im Umfeld der römischen Kurie tätig. Allerdings nicht als offizieller Gelehrter oder Mönch, sondern als Mann, der Bücher kopierte und zugleich verbarg. Es heißt, er habe Handschriften aus Toledo, Avignon und dem zerstörten Scriptorium von Bobbio besessen, darunter auch eine italienische Teilübersetzung der sagenumwobenen Clavis Inferni.

Erschütternd ist jedoch der Bericht, der nur einmal überliefert ist – in einer anonymen Fußnote eines italienischen Grimoire-Drucks aus dem Jahr 1721 –, dem zufolge Ludovico Spoletano in der Nacht des 3. November 1666 eine Gestalt traf, die sich selbst nicht beim Namen nannte.

Er soll, nach dieser Quelle, drei Fragen erhalten haben:

„Wie viele Stufen führen zur Erkenntnis?“

„Was trennt das gesprochene Wort vom geschriebenen?“

„Wem gehört ein Gedanke, der vergessen wurde?“

Spoletano, so heißt es, tat sich mit der Beantwortung der ersten Frage nicht schwer, die zweite wusste er mit einem lateinischen Zitat zu umgehen – doch bei der dritten habe er geschwiegen. Die Gestalt habe daraufhin geantwortet: „Dann wirst du zwar sehen, aber das Gesehene nicht deuten können.“

In den darauffolgenden Jahren schrieb Spoletano ein Werk mit dem Titel „De Umbris Pactis“, von dem nur drei Fragmente erhalten geblieben sein sollen: Eines befindet sich angeblich in der Bibliothek des Escorial, ein anderes in einem privaten Archiv in Mailand und das dritte ist auf dem Index der verlorenen Bücher von Borges’ imaginärer Biblioteca de Babel verzeichnet. Die Fragmente selbst bestehen aus Diagrammen, abgebrochenen Aphorismen und einer sich endlos wiederholenden Fußnote: „Der Pakt ist ein Spiegel. Wer hineinblickt, sieht nicht sich selbst, sondern das, was ihn sieht.“

Ob Spoletano tatsächlich den Teufel traf, sei dahingestellt. Vielleicht war es nur ein anderer Teil von ihm selbst, ein übermüdeter Kopist, der am Rand eines Pergaments mehr sah, als dort stand. Vielleicht hat er nie existiert, sondern wurde nur als Warnung erfunden – wie so viele andere, die von Wissen kosteten, das nicht getrunken werden wollte.

Doch in einer marginalen Anmerkung des Jesuiten Botero findet sich ein Satz, der uns zu denken geben sollte. Er schreibt: „Spoletano? Das ist lediglich ein Fluch ohne Autor.“

Journal

Esset nicht davon

Vom christlichen Satan über den islamischen Iblis und den hinduistischen Ravana bis hin zum zoroastrischen Angra Mainyu taucht die Idee eines singulären Wesens, dass das Böse repräsentiert, als kulturelle Allgegenwart immer wieder in den Annalen der Menschheit auf. Eine gegnerische Kraft, die sich im Kontext bestimmter Traditionen und Gesellschaften auf einzigartige Weise als Archetyp manifestiert.

Elizabeth Knapp starrt hinaus in die Dunkelheit, die nie so dunkel sein wird wie der Schatten des Codex Gigas, ein kollosales Ding von 75 Kilogramm, das in nur einer Nacht auf 160 Tierhäuten geschrieben wurde, das sie freilich überhaupt nicht kennt. Welche Magd hätte auch einen derart klugen Kopf besessen, hinter die Fassade der Furcht zu schauen. Es mag sein, dass die gefallenen Engel noch alles fest in ihren Krallen hatten und dass es dem Benediktinermönch Herman nur deshalb gelang, eingemauert im Kloster Podlaschitz den Teufel anzurufen. Gerufen hat wohl noch jeder, aber kam der Schwefelfürst denn auch? Hier wird es so gewesen sein müssen, denn die einheitliche Kalligraphie des Manuskripts, die sich durch den gesamten umfangreichen Inhalt zieht – darunter die gesamte lateinische Vulgata, medizinische Abhandlungen und magische Formeln -, lässt die Zeit von nur einer Nacht selbst für eine außergewöhnliche menschliche Willensanstrengung im Unmöglichen zurück. Was bedeutet es aber, etwas Unmögliches zu schaffen, wenn es doch unmöglich ist?

Die Schätzung gibt uns zumindest den Anhaltspunkt, dass ein Schreiber, der sich Tag und Nacht über das Papier beugt, in fünf Jahren einen letzten Punkt setzen könnte. Doch wer vermag so lange dem Schlaf zu entkommen? Und was, wenn doch die Aufgabe lautet, dieses Unding in nur einer Nacht zu schreiben, weil es sonst keinen Hals mehr geben würde, auf dem sich ein Kopf befindet, der die Finger anleitet, um zumindest fünf dieser Jahre durchzuschreiben, ohne auch nur ein einziges Mal abzusetzen?

Schließlich konnte der Mönch sein Gelübde nicht einhalten und steuerte seiner späteren harten Strafe bereits in den böhmischen Gassen einer sonderbaren Nacht entgegen, wo der weiße Schenkel einer Tochter Liliths ihn lockte. Wieder. Und wieder. Immer ein anderer Schenkel, aber immer der gleiche Lockruf.

Elizabeth Knapp hingegen fragt sich erneut: „Was wäre ich ohne den Teufel?“

Der Mönch, an den sie denkt, mag seit Jahrhunderten in der Tiefe der Erde ruhen, ein Pakt mit Luzifer mag ihn in jener Nacht vor der Verdammnis bewahrt haben, und es grenzt an ein Wunder, dass er sich durch das Schreiben der Teufelsbibel nicht noch tiefer in den Abgrund gestürzt hat. Er blieb eingemauert, aber lebendig. Und der teuflische Engel durfte sich sogar auf einer ganzen Seite selbst porträtieren, denn eine gewisse Eitelkeit kennt selbst die Pestblume, das Verderbnis unter schönem Schein. Für Elisabeth hatte der Teufel nur Böses im Sinn, aber das Versprechen von Reichtum, Jugend, und Freiheit bekam auch sie, bevor ihre Seele dann auf einer Kohlenrutsche nach unten fahren durfte, um im Heizraum der Hölle Kaffee zu kochen.

Dennoch möchte ich ein Wort zur Verteidigung der jungen Magd hervorbringen, die im 17. Jahrhundert in Groton, Massachusetts, als Hausangestellte dem örtlichen Reverend diente. Vielleicht war es ihre Gewöhnlichkeit, die sie ängstigte. Dabei hätte sie diese Eigenschaft als Segen auffassen sollen. Aber was wusste sie schon von der scheußlichen Welt, in der die Menschen hausen? Manchmal mag es nur ein kleines Ärgernis sein, das der Teufel registriert, ein widerspenstiges Streben, und sei es zu Beginn auch noch so harmlos. Das klingt vielleicht nicht nach einer Verteidigung, und doch: Im Alter von sechzehn Jahren begann Elisabeth, Symptome der Besessenheit zu zeigen. Es waren körperliche Schmerzen, die sie peinigten und deren Ursache sich nicht ermitteln ließ. Am heftigsten erschrak sie über die unnatürliche Stimme, die bei unpassenden Gelegenheiten aus ihrer Kehle kam. Aber kann es für dieses groteske Gebaren überhaupt eine passende Gelegenheit geben? Eine Besessenheit hört sich jedenfalls nicht nach der versprochenen Freiheit an, die ihr der Teufel bot. Vielmehr machte er sich selbst ans Werk, um ihre Hand gegen die Familie des Pfarrers zu erheben. Ihre Hand sollte mit Blut geschmückt werden, wie jetzt, da sie verloren im Wald umhertaumelt. Doch sie begann, sich zu weigern. Möglicherweise war sie nicht einverstanden mit einem zu frühen Betrug. Und also zögerte sie. Sie hielt mitten im Schwur inne, mitten im Fall – ein Augenblick der Weigerung, ein letztes Flackern menschlichen Widerstands. Und genau das, so sage ich, ist Grund genug, ihr zu vergeben – oder sie wenigstens anzuhören.

Reverend Samuel Willard dokumentierte die Ereignisse akribisch und zog Ärzte und Gelehrte zu Rate, um natürliche Ursachen auszuschließen. Erst nachdem er alle wissenschaftlichen Erklärungen ausgeschöpft hatte, schrieb er ihren Zustand tatsächlich einer dämonischen Besessenheit zu. Und Elisabeth trat als Zeugin ihrer selbst in den Ring. Sie gestand, dass der Satan sie in einen Pakt treiben wollte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu weigern, zur Mörderin zu werden, was zu einer Eskalation ihrer Anfälle führte. Der Reverend jedoch, dem wir diese Überlieferung zu verdanken haben, beendete seine Aufzeichnungen unbeschadet und Elisabeth Knapp entschwindet damit aus unserem Sichtfeld. Ich aber kann sie dort im Wald noch stehen sehen, und wie zu vermuten ist, wandert sie, mit einer kleinen Abfindung im Gepäck, die ihr der fromme Mann mitgegeben hat, in ein anderes Leben hinein.

Elisabeth ist außer Sicht. Ich vermute, sie wird ein Dorf gefunden haben und ihr Empfehlungsschreiben vorgelegt haben.

„Die Dame, die Ihnen das hier vorlegt, ist eine gute Christin. Stellen Sie sie ein.“

Schließlich weiß auch sie nur zu gut, was zwanzig Jahre zuvor in Salem geschah, gar nicht weit von hier. Der Reverend konnte sie unter keinen Umständen kurieren, also konnte er sie auch nicht behalten, ohne um das Leben seiner Familie zu bangen. Die Kladde, die der Teufel ihr zeigte, verbindet uns mit einem weiteren Schriftstück, das bis zum heutigen Tage nicht übersetzt werden konnte, auch wenn das Blutbuch, in dem Elisabeth sich neben vielen anderen Frauen eintragen sollte, keine einzige Zeile von ihm selbst enthält. Einen Seelenschwur scheint auch er nicht fälschen zu können, aber seine Handschrift haben wir trotzdem bekommen,und damit eine Kalligraphie seiner Klaue, die möglicherweise sogar seine Kenntnisse des Amharischen verrät, jener göttlichen und unveränderbaren Sprache also, die man im Garten Eden hören hätte können, wenn man sich damals in der Nähe des Baumes der Erkenntnis aufgehalten hätte, als Eva sie zum ersten Mal erklingen ließ, und die in ihrer Reinform noch immer in der Provinz Amhara in Äthiopien gesprochen wird.

Ihre ersten Worte richtete Eva allerdings nicht an ihren Gemahl, sondern an die Schlange, als sie ihr auf die Frage ‚Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr von keinem Baum die Früchte essen dürft?‚ antwortete:

„Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!“

Sandsteinburg

Das Bild

… unter meinem Bild, unter deinem Bild – denn ich habe dir das Bild erzählt – liegt die Farbe, herausgelaufen aus dem Rahmen, der nicht mehr fasst, was in ihm hin und her schwappte, vor der Zeit den Pinsel tränkte, der dann nur noch aufgenommen werden –

der Pinsel, der dann, von Fingern aufgerappelt, über die Gebirgszüge fährt, Stufen und Gefälle einfügt und Lücken hinterlässt, Lücken wie diese.

Die Pinsel sind Lehm.

Die Pinsel sind Lehm.

Einst kannte ich mein Gesicht, nicht aber seinen Umfang, ich kannte auch die Farbe meiner Augen, insofern sei gesagt, dass ich durchaus einmal daran glaubte, die Welt sei erschaffen und sie beträte mich durch meine Po­ren, doch –

Brouillon

Zur Nacht

Zur Nacht – ich mag an einer bestimmten Stelle der Nacht Müdigkeit empfinden – aktiviert sich das Nachtgehirn, das sich ganz und gar von dem des Tages unterscheidet. Vielleicht tritt es gerade durch die Erschlaffung der körperlichen Funktion hervor. Ich ging auf und ab vor meiner Bücherwand; gehe ich nahe an sie heran, sind es viele, trete ich etwas zurück, bemerke ich vor allem das Fehlen jener Bücher, die noch nicht da sind. Dieses Fehlen fällt mir auf, weil noch Wand zu erkennen ist. Ich habe Mühe, die Nacht zu verschlafen – ein Traum ist ja nicht garantiert. Eine Nacht ohne Traum wäre allerdings vertan, also muss der Ersatz, der sichere Ersatz, die Lektüre sein. Nicht das lineare Zeilenfolgen, sondern das Fliegen durch auffällige Bände, die sich anbieten durch ihr leichtes Vorstehen, das Durchbrechen der sauberen Linie.

Brouillon

Von der Lebensgefahr beim Schreiben

Wer schreibt, liest. Das eine bedingt das andere: eine Binsenweisheit. Nur ist es nicht immer so, dass man das schreibt, was man liest. Der Leseprozess selbst ist ein Schreibprozess, zumindest dann, wenn man lesen kann. Was sich wie Provokation anhört, ist gar nicht so unerhört, denn beim Lesen entsteht ein Gedankenraum im Leser, der vom Autor gar nicht intendiert war, von dem er nie Kenntnis haben wird, denn der Autor wird nie Leser seines Buches sein, sondern immer nur der anderen. Der Autor ist also vom Lesen ausgenommen, auch wenn es sich bei dieser Blockade nur um seine Bücher handelt. Der Schreiber öffnet einen Gedankenraum, den er vom Lesen kennt, und dann taucht er seine Feder ein und zeichnet aufs Papier, was er beim reinen Lesen ohne seine Hand erkennt. Jeder spürt die Gefahr, die beim Schreiben vom ersten Augenblick da ist. Die meisten ignorieren sie, andere lassen sich von dieser Gefahr treiben. Diese Lebensgefahr wird sie zur Meisterschaft bringen.

Sandsteinburg

Jeder Spuk ein Manifest

Ich weiß nicht, ob es hier begann. Denke ich darüber nach, gibt es weder einen Anfang noch ein Ende, nur die sichere Entropie.

Jeder Spuk ist, für sich genommen, ein Manifest der Aufzeichnung gewaltiger Gefühlsregungen, die im Augenblick des äußersten Schreckens eine unauslöschliche Spur hinterlassen. Aber auch die Zeugnisse, die nicht der Tragödie oder dem Grauen entspringen, sind noch vorhanden. Sie sind nur nicht dazu gedacht, wahrgenommen zu werden, damit die schwarzen Blüten selbst besser zur Geltung kommen. Doch diese Spielart der Ewigkeit ist nichts im Vergleich zu jenen Vorkommnissen, die keine andere Neigung zu haben scheinen, als die Tore ins Chaos zu bilden – hinaus und hinein. Diese Tore haben eine ähnliche Funktion wie das Filtersystem, das unser Bewusstsein vom Unterbewusstsein trennt. Es ist eine Sache, über die Möglichkeiten der Materie zu sprechen, aber es ist etwas völlig anderes, über die Möglichkeiten des ganzen Universums zu sinnieren. Möglichkeiten, die nirgendwo anders hinführen als in den Wahnsinn.

Sandsteinburg

Flüssiges Gemälde

Unter meinem Bild verschwimmt die Farbe. Ich habe dir von dem Bild erzählt, aus dem polimentvergoldeten Rahmen gelaufen, der nicht mehr fasst, was in ihm vor Kurzem noch hin und her geschwappt ist: Ein flüssiges Landschaftsbild, stets neu geschaffen, von der Erinnerung vergrault, aber auch bewahrt. Ich bin der Pinsel, der den locus amoenus nicht vom locus terribilis zu unterscheiden weiß; von Fingern aufgerappelt fahre ich über die Mittelgebirgszüge, füge Stufen und Gefälle ein, hinterlasse Lücken. Ich bin ein Pinsel aus Lehm. Im Schatten der Naturgewalten: Ein Antlitz ganz ohne Mund, hingeschmissen von Händen aus Staub, gezimmert aus Knochen, ohne ein Dach, auf das es regnen könnte. An den Wänden meines Hauses: Bildmetaphern ohne Mund. Doch die Mauern wurden einst von ihrem Geist geküsst. Nie hat ein Maler sie gemalt, nie hat ein Tänzer sie umschlungen, nie hat man sie bei Tag gesehn, nur dieser Mond schlug ihren Schatten auf ein flüssiges Gemälde.

Sandsteinburg

Morena

Morena erschien mir von unserer ersten Begegnung an als eine überirdische Schönheit, und es darf nicht verwundern, dass sie, die auf einen uralten Stammbaum zurückblicken konnte, im besten Alter für eine Frau, noch nicht geehelicht wurde. Merkwürdig waren die Geschichten, die man sich über ihre Schönheit erzählte, und erste ernstgemeinte Avancen kamen wohl aus Furcht nicht zustande, denn man wusste in den sie umgebenden Kreisen sehr wohl, dass man sich immer auch den Ahnen zu stellen hatte, die das Geschlecht einst groß gemacht. Wehe dem, der sich nicht als würdig erweisen sollte, der zögert, wenn es gilt, nach vorne zu stoßen, oder der, andersherum, voller Übermut eine ganze Bresche allein zu füllen versucht. Ich war weder von der einen noch von der anderen Sorte und wurde wohl von ihr angehört, weil ich weder stürmte und drängte, noch die übliche Furcht vor ihrer Aura zeigte. In ihrer Nähe wurde ich stets von einer Kraft erfasst, die mir ermöglichte, philosophische Höhen zu erklimmen und etwa über Jakob Böhme, der bei diesen Gesellschaften zu dieser Zeit gern diskutiert wurde, zu parlieren, als wäre ich je ein Studiosus gewesen und hätte die Aurora nicht nur gelesen, sondern verstanden. Morena bedachte mich dann mit Blicken, die mich aufforderten, nur weiter so kühn von der alchimistisch-poetischen Machart zu sprechen und gerade den Gedanken vom Widerspruch als ein notwendiges Moment weiter zu verfolgen. So sprach ich oft vor ihr und ahnte nicht, dass ich gerade das, wovor sich die meisten fürchteten, heraufbeschwor.

Auf dem aus der Wand gewölbten Spiegel stand die Rechtfertigung gegenüber meines Verdachts, den ich vielleicht erst etwas später hätte äußern sollen.

»Ich habe nie …« Dabei war dieser Gedanke nie ausgesprochen worden, meine hängende Mundpartie hätte sich gar nicht um die vorgesehenen Worte wölben können. Also schwieg ich.

Ich hatte sie im Raubvogelgehege stehen lassen, konnte mich nicht dazu entschließen, auf sie zuzugehen, beobachtete sie dabei, wie sie einen verbrannten Engel küsste. Aber das war es nicht, was mich veranlasste, ihr zuzusehen und mich dabei hinter einem gefiederten Baum zu verstecken. Meine Augen wären ihr dabei vielleicht nicht willkommen, und wenn nicht meine Augen, dann vielleicht ihr Blick.

Es waren ihre bandagierten Arme, die mich neugierig machten (den Engel erkannte ich, um die Wahrheit zu sagen, auch erst viel später), und nicht zuletzt ihr Atemgerät, das ihr aus dem Gesicht ragte wie eine Radarfalle. Da kannte ich sie noch nicht.

Später traf ich sie noch einmal, sie fiel mir durch ihr verräterisches Kleid auf. Ihre Maske hatte sie nicht mehr bei sich und auch ihre Arme waren ohne Wunden, die eine Verhüllung erforderlich gemacht hätten. Nur ihr Kleid und die Brandflecken darauf. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Teller mit in Öl zerlassenen, kleinen Fischen – Sprotten, um es genau zu sagen. Der Ausgang war nicht weit, aber man wurde stets durch ein Schnellrestaurant geschleust, bevor man nach draußen kam. Die Tür öffnete sich erst, wenn man etwas verzehrt hatte (oder wenn man etwas zu Verzehrendes gekauft hatte; ob man es dann liegen ließ oder in den Papierkorb warf – es war pures Kalkül, dass es nur einen Papierkorb gab, so wurde an das moralische Empfinden appelliert – blieb der eigenen Strategie überlassen).

Ich sprach sie natürlich nicht an, aber ich schlenderte hinüber zu ihrem Tisch und grapschte nach jener Brust, die auf meiner Seite lag. Hätte sie die Maske noch getragen, hätte ich es nicht gewagt.

Ihr Teller zerbarst auf dem kargen Boden und die Fische schlitterten über die Fließen, als hätten sie es eilig, wieder zurück ins Meer zu finden. Aber sie fanden es nicht, verteilten nur das Öl und blieben liegen, wo sie waren.

Ich kann nicht genau sagen, was dann geschah. Erst jetzt erinnere ich mich an die krümeligen Reste ihrer Wimpern, die sie im Waschbecken hinterließ, an eine gesalzene Seezunge im Kühlschrank. Ich schaue mir ihre Handschrift auf dem Spiegel noch einmal an: »Ich habe nie …«
Was wollte ich sie fragen?

Übersetzungen

Yuggoth 36 – Fortbestand

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

Es hält sich in bestimmten alten Dingen die Spur
Eines schummrigen Wesen – mehr als Form oder Gewicht;
Ein dünner Äther, unbestimmt,
Und doch mit allen Gesetzen von Zeit und Raum verbunden.
Ein zartes, verschleiertes Zeichen des Fortbestands,
Den der Blick von außen nie ganz erkennen kann;
Von verschlossenen Dimensionen, in denen Jahre vergangen sind
Und erreichbar nur für jene, die verborgene Schlüssel tragen.

Es bewegt mich am meisten, wenn schräge Sonnenstrahlen
Auf den alten Farmgebäuden glühen, die sich gegen einen Hügel drängen,
Und des Lebens Konturen sich darauf abzeichnen, wie es
Vor Jahrhunderten war, ein noch schwächerer Traum als der uns bekannte.
In diesem seltsamen Licht habe ich das Gefühl, dass ich nicht weit
Von der Manifestation entfernt bin, deren Flanken das Alter selbst sind.

Übersetzungen

Yuggoth 35 – Abendstern

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

Ich sah es von jenem verborgenen, stillen Ort aus,
Wo der alte Wald die Aue fast umschließt.
Es strahlte durch die ganze Pracht des Sonnenuntergangs –
Anfangs spärlich, aber mit einem langsam aufhellenden Gesicht.
Die Nacht kam, und dieses einsame, bernsteinfarbene Leuchtfeuer
Pulsierte bei meinem Anblick wie nie zuvor;
Der Abendstern aber war durch Stille und Einsamkeit
Noch tausendmal gespenstischer geworden.

Er zeichnete seltsame Bilder in die bebenden Luft –
Unvollständige Erinnerungen, die meine Augen schon immer vor sich sahen –
Riesige Türme und Gärten; seltsame Meere und Himmel
Eines düsteren Lebens – ich konnte nie sagen, woher.
Aber nun wusste ich, dass dieses Strahlen durch die kosmische Kuppel
Aus meiner fernen, verlorenen Heimat nach mir rief.