Journal

Ein Fluch ohne Autor

In Teseo Albinesis Aufzeichnungen aus dem Jahr 1539 wird beschrieben, wie der Okkultist Ludovico Spoletano den Satan beschwor, weil er Fragen hatte, die ihm sonst niemand beantworten konnte. Ein Magier, der sehr von dem deutschen Gelehrten Johannes Trithemius beeinflusst zu sein schien, schrieb Werke wie das Steganographia, das alchemistische und magische Inhalte mit verschlüsselten Botschaften kombinierte, bis er an einen Punkt kam, wo er – ähnlich wie Doktor Faustus glaubte – alles bereits zu kennen, aber doch nichts zu wissen.

“Komm in meinen Körper, Majestät; ganz einfach, um den Stift in meiner Hand zu führen. Was sind diese verschollenen Wahrheiten, von denen ich vermute, dass es sie irgendwo geben muss? Was steht in den uralten Schriften, die ich nicht besitze?”

Der Teufel aber blieb diesmal unsichtbar. Womöglich hatte er seine vorrangige Garderobe gerade in der Wäsche, oder ihm fehlte ein Knopf an seinem feurigen Jackett.In Ludovicos Körper wollte er ebenfalls nicht fahren, um sich als menschliches Wesen über das Schreibpult zu beugen. Also schnappte er sich nur den Stift des Gelehrten, um als körperloser Autor zu fungieren.

Was der Teufel schrieb, war vielleicht nur von Ludovico zu entziffern: eine Reihe von diabolischen Kritzeleien, die von links nach rechts zu lesen sind. Nachdem der Text an mehrere gelehrte Männer weitergegeben wurde, ohne dass die Entschlüsselung gelang, verschwand er auf wundersame Weise in der Versenkung.

Selbstverständlich ist die Geschichte über Ludovico Spoletano eine Anekdote.

In einem bibliografischen Anhang zu Fortunato Castellanis „Tractatus contra hereticos” (Mantua, 1683) findet sich ein einziger, beiläufiger Vermerk über einen gewissen Ludovicus Spoletanus. Von ihm heißt es, er habe „mehr gewusst, als ihm erlaubt war”, und er sei „weder mit der Kirche noch mit dem Himmel versöhnt gestorben”. Die Bemerkung steht zwischen zwei Notizen über die Besitzverhältnisse einer lombardischen Reliquie und den Tod eines Benediktinerabts in sinistra fama – doch in ihr liegt ein Rätsel, das seither einige Leser beschäftigt.

Spoletano war, dessen scheinen wir gewiss zu sein, im Umfeld der römischen Kurie tätig. Allerdings nicht als offizieller Gelehrter oder Mönch, sondern als Mann, der Bücher kopierte und zugleich verbarg. Es heißt, er habe Handschriften aus Toledo, Avignon und dem zerstörten Scriptorium von Bobbio besessen, darunter auch eine italienische Teilübersetzung der sagenumwobenen Clavis Inferni.

Erschütternd ist jedoch der Bericht, der nur einmal überliefert ist – in einer anonymen Fußnote eines italienischen Grimoire-Drucks aus dem Jahr 1721 –, dem zufolge Ludovico Spoletano in der Nacht des 3. November 1666 eine Gestalt traf, die sich selbst nicht beim Namen nannte.

Er soll, nach dieser Quelle, drei Fragen erhalten haben:

„Wie viele Stufen führen zur Erkenntnis?“

„Was trennt das gesprochene Wort vom geschriebenen?“

„Wem gehört ein Gedanke, der vergessen wurde?“

Spoletano, so heißt es, tat sich mit der Beantwortung der ersten Frage nicht schwer, die zweite wusste er mit einem lateinischen Zitat zu umgehen – doch bei der dritten habe er geschwiegen. Die Gestalt habe daraufhin geantwortet: „Dann wirst du zwar sehen, aber das Gesehene nicht deuten können.“

In den darauffolgenden Jahren schrieb Spoletano ein Werk mit dem Titel „De Umbris Pactis“, von dem nur drei Fragmente erhalten geblieben sein sollen: Eines befindet sich angeblich in der Bibliothek des Escorial, ein anderes in einem privaten Archiv in Mailand und das dritte ist auf dem Index der verlorenen Bücher von Borges’ imaginärer Biblioteca de Babel verzeichnet. Die Fragmente selbst bestehen aus Diagrammen, abgebrochenen Aphorismen und einer sich endlos wiederholenden Fußnote: „Der Pakt ist ein Spiegel. Wer hineinblickt, sieht nicht sich selbst, sondern das, was ihn sieht.“

Ob Spoletano tatsächlich den Teufel traf, sei dahingestellt. Vielleicht war es nur ein anderer Teil von ihm selbst, ein übermüdeter Kopist, der am Rand eines Pergaments mehr sah, als dort stand. Vielleicht hat er nie existiert, sondern wurde nur als Warnung erfunden – wie so viele andere, die von Wissen kosteten, das nicht getrunken werden wollte.

Doch in einer marginalen Anmerkung des Jesuiten Botero findet sich ein Satz, der uns zu denken geben sollte. Er schreibt: „Spoletano? Das ist lediglich ein Fluch ohne Autor.“

Journal

Esset nicht davon

Vom christlichen Satan über den islamischen Iblis und den hinduistischen Ravana bis hin zum zoroastrischen Angra Mainyu taucht die Idee eines singulären Wesens, dass das Böse repräsentiert, als kulturelle Allgegenwart immer wieder in den Annalen der Menschheit auf. Eine gegnerische Kraft, die sich im Kontext bestimmter Traditionen und Gesellschaften auf einzigartige Weise als Archetyp manifestiert.

Elizabeth Knapp starrt hinaus in die Dunkelheit, die nie so dunkel sein wird wie der Schatten des Codex Gigas, ein kollosales Ding von 75 Kilogramm, das in nur einer Nacht auf 160 Tierhäuten geschrieben wurde, das sie freilich überhaupt nicht kennt. Welche Magd hätte auch einen derart klugen Kopf besessen, hinter die Fassade der Furcht zu schauen. Es mag sein, dass die gefallenen Engel noch alles fest in ihren Krallen hatten und dass es dem Benediktinermönch Herman nur deshalb gelang, eingemauert im Kloster Podlaschitz den Teufel anzurufen. Gerufen hat wohl noch jeder, aber kam der Schwefelfürst denn auch? Hier wird es so gewesen sein müssen, denn die einheitliche Kalligraphie des Manuskripts, die sich durch den gesamten umfangreichen Inhalt zieht – darunter die gesamte lateinische Vulgata, medizinische Abhandlungen und magische Formeln -, lässt die Zeit von nur einer Nacht selbst für eine außergewöhnliche menschliche Willensanstrengung im Unmöglichen zurück. Was bedeutet es aber, etwas Unmögliches zu schaffen, wenn es doch unmöglich ist?

Die Schätzung gibt uns zumindest den Anhaltspunkt, dass ein Schreiber, der sich Tag und Nacht über das Papier beugt, in fünf Jahren einen letzten Punkt setzen könnte. Doch wer vermag so lange dem Schlaf zu entkommen? Und was, wenn doch die Aufgabe lautet, dieses Unding in nur einer Nacht zu schreiben, weil es sonst keinen Hals mehr geben würde, auf dem sich ein Kopf befindet, der die Finger anleitet, um zumindest fünf dieser Jahre durchzuschreiben, ohne auch nur ein einziges Mal abzusetzen?

Schließlich konnte der Mönch sein Gelübde nicht einhalten und steuerte seiner späteren harten Strafe bereits in den böhmischen Gassen einer sonderbaren Nacht entgegen, wo der weiße Schenkel einer Tochter Liliths ihn lockte. Wieder. Und wieder. Immer ein anderer Schenkel, aber immer der gleiche Lockruf.

Elizabeth Knapp hingegen fragt sich erneut: „Was wäre ich ohne den Teufel?“

Der Mönch, an den sie denkt, mag seit Jahrhunderten in der Tiefe der Erde ruhen, ein Pakt mit Luzifer mag ihn in jener Nacht vor der Verdammnis bewahrt haben, und es grenzt an ein Wunder, dass er sich durch das Schreiben der Teufelsbibel nicht noch tiefer in den Abgrund gestürzt hat. Er blieb eingemauert, aber lebendig. Und der teuflische Engel durfte sich sogar auf einer ganzen Seite selbst porträtieren, denn eine gewisse Eitelkeit kennt selbst die Pestblume, das Verderbnis unter schönem Schein. Für Elisabeth hatte der Teufel nur Böses im Sinn, aber das Versprechen von Reichtum, Jugend, und Freiheit bekam auch sie, bevor ihre Seele dann auf einer Kohlenrutsche nach unten fahren durfte, um im Heizraum der Hölle Kaffee zu kochen.

Dennoch möchte ich ein Wort zur Verteidigung der jungen Magd hervorbringen, die im 17. Jahrhundert in Groton, Massachusetts, als Hausangestellte dem örtlichen Reverend diente. Vielleicht war es ihre Gewöhnlichkeit, die sie ängstigte. Dabei hätte sie diese Eigenschaft als Segen auffassen sollen. Aber was wusste sie schon von der scheußlichen Welt, in der die Menschen hausen? Manchmal mag es nur ein kleines Ärgernis sein, das der Teufel registriert, ein widerspenstiges Streben, und sei es zu Beginn auch noch so harmlos. Das klingt vielleicht nicht nach einer Verteidigung, und doch: Im Alter von sechzehn Jahren begann Elisabeth, Symptome der Besessenheit zu zeigen. Es waren körperliche Schmerzen, die sie peinigten und deren Ursache sich nicht ermitteln ließ. Am heftigsten erschrak sie über die unnatürliche Stimme, die bei unpassenden Gelegenheiten aus ihrer Kehle kam. Aber kann es für dieses groteske Gebaren überhaupt eine passende Gelegenheit geben? Eine Besessenheit hört sich jedenfalls nicht nach der versprochenen Freiheit an, die ihr der Teufel bot. Vielmehr machte er sich selbst ans Werk, um ihre Hand gegen die Familie des Pfarrers zu erheben. Ihre Hand sollte mit Blut geschmückt werden, wie jetzt, da sie verloren im Wald umhertaumelt. Doch sie begann, sich zu weigern. Möglicherweise war sie nicht einverstanden mit einem zu frühen Betrug. Und also zögerte sie. Sie hielt mitten im Schwur inne, mitten im Fall – ein Augenblick der Weigerung, ein letztes Flackern menschlichen Widerstands. Und genau das, so sage ich, ist Grund genug, ihr zu vergeben – oder sie wenigstens anzuhören.

Reverend Samuel Willard dokumentierte die Ereignisse akribisch und zog Ärzte und Gelehrte zu Rate, um natürliche Ursachen auszuschließen. Erst nachdem er alle wissenschaftlichen Erklärungen ausgeschöpft hatte, schrieb er ihren Zustand tatsächlich einer dämonischen Besessenheit zu. Und Elisabeth trat als Zeugin ihrer selbst in den Ring. Sie gestand, dass der Satan sie in einen Pakt treiben wollte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu weigern, zur Mörderin zu werden, was zu einer Eskalation ihrer Anfälle führte. Der Reverend jedoch, dem wir diese Überlieferung zu verdanken haben, beendete seine Aufzeichnungen unbeschadet und Elisabeth Knapp entschwindet damit aus unserem Sichtfeld. Ich aber kann sie dort im Wald noch stehen sehen, und wie zu vermuten ist, wandert sie, mit einer kleinen Abfindung im Gepäck, die ihr der fromme Mann mitgegeben hat, in ein anderes Leben hinein.

Elisabeth ist außer Sicht. Ich vermute, sie wird ein Dorf gefunden haben und ihr Empfehlungsschreiben vorgelegt haben.

„Die Dame, die Ihnen das hier vorlegt, ist eine gute Christin. Stellen Sie sie ein.“

Schließlich weiß auch sie nur zu gut, was zwanzig Jahre zuvor in Salem geschah, gar nicht weit von hier. Der Reverend konnte sie unter keinen Umständen kurieren, also konnte er sie auch nicht behalten, ohne um das Leben seiner Familie zu bangen. Die Kladde, die der Teufel ihr zeigte, verbindet uns mit einem weiteren Schriftstück, das bis zum heutigen Tage nicht übersetzt werden konnte, auch wenn das Blutbuch, in dem Elisabeth sich neben vielen anderen Frauen eintragen sollte, keine einzige Zeile von ihm selbst enthält. Einen Seelenschwur scheint auch er nicht fälschen zu können, aber seine Handschrift haben wir trotzdem bekommen,und damit eine Kalligraphie seiner Klaue, die möglicherweise sogar seine Kenntnisse des Amharischen verrät, jener göttlichen und unveränderbaren Sprache also, die man im Garten Eden hören hätte können, wenn man sich damals in der Nähe des Baumes der Erkenntnis aufgehalten hätte, als Eva sie zum ersten Mal erklingen ließ, und die in ihrer Reinform noch immer in der Provinz Amhara in Äthiopien gesprochen wird.

Ihre ersten Worte richtete Eva allerdings nicht an ihren Gemahl, sondern an die Schlange, als sie ihr auf die Frage ‘Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr von keinem Baum die Früchte essen dürft?‘ antwortete:

„Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!“

Sandsteinburg

Das Bild

… unter meinem Bild, unter deinem Bild – denn ich habe dir das Bild erzählt – liegt die Farbe, herausgelaufen aus dem Rahmen, der nicht mehr fasst, was in ihm hin und her schwappte, vor der Zeit den Pinsel tränkte, der dann nur noch aufgenommen werden –

der Pinsel, der dann, von Fingern aufgerappelt, über die Gebirgszüge fährt, Stufen und Gefälle einfügt und Lücken hinterlässt, Lücken wie diese.

Die Pinsel sind Lehm.

Die Pinsel sind Lehm.

Einst kannte ich mein Gesicht, nicht aber seinen Umfang, ich kannte auch die Farbe meiner Augen, insofern sei gesagt, dass ich durchaus einmal daran glaubte, die Welt sei erschaffen und sie beträte mich durch meine Po­ren, doch –

Brouillon

Zur Nacht

Zur Nacht – ich mag an einer bestimmten Stelle der Nacht Müdigkeit empfinden – aktiviert sich das Nachtgehirn, das sich ganz und gar von dem des Tages unterscheidet. Vielleicht tritt es gerade durch die Erschlaffung der körperlichen Funktion hervor. Ich ging auf und ab vor meiner Bücherwand; gehe ich nahe an sie heran, sind es viele, trete ich etwas zurück, bemerke ich vor allem das Fehlen jener Bücher, die noch nicht da sind. Dieses Fehlen fällt mir auf, weil noch Wand zu erkennen ist. Ich habe Mühe, die Nacht zu verschlafen – ein Traum ist ja nicht garantiert. Eine Nacht ohne Traum wäre allerdings vertan, also muss der Ersatz, der sichere Ersatz, die Lektüre sein. Nicht das lineare Zeilenfolgen, sondern das Fliegen durch auffällige Bände, die sich anbieten durch ihr leichtes Vorstehen, das Durchbrechen der sauberen Linie.

Brouillon

Von der Lebensgefahr beim Schreiben

Wer schreibt, liest. Das eine bedingt das andere: eine Binsenweisheit. Nur ist es nicht immer so, dass man das schreibt, was man liest. Der Leseprozess selbst ist ein Schreibprozess, zumindest dann, wenn man lesen kann. Was sich wie Provokation anhört, ist gar nicht so unerhört, denn beim Lesen entsteht ein Gedankenraum im Leser, der vom Autor gar nicht intendiert war, von dem er nie Kenntnis haben wird, denn der Autor wird nie Leser seines Buches sein, sondern immer nur der anderen. Der Autor ist also vom Lesen ausgenommen, auch wenn es sich bei dieser Blockade nur um seine Bücher handelt. Der Schreiber öffnet einen Gedankenraum, den er vom Lesen kennt, und dann taucht er seine Feder ein und zeichnet aufs Papier, was er beim reinen Lesen ohne seine Hand erkennt. Jeder spürt die Gefahr, die beim Schreiben vom ersten Augenblick da ist. Die meisten ignorieren sie, andere lassen sich von dieser Gefahr treiben. Diese Lebensgefahr wird sie zur Meisterschaft bringen.

Sandsteinburg

Jeder Spuk ein Manifest

Ich weiß nicht, ob es hier begann. Denke ich darüber nach, gibt es weder einen Anfang noch ein Ende, nur die sichere Entropie.

Jeder Spuk ist, für sich genommen, ein Manifest der Aufzeichnung gewaltiger Gefühlsregungen, die im Augenblick des äußersten Schreckens eine unauslöschliche Spur hinterlassen. Aber auch die Zeugnisse, die nicht der Tragödie oder dem Grauen entspringen, sind noch vorhanden. Sie sind nur nicht dazu gedacht, wahrgenommen zu werden, damit die schwarzen Blüten selbst besser zur Geltung kommen. Doch diese Spielart der Ewigkeit ist nichts im Vergleich zu jenen Vorkommnissen, die keine andere Neigung zu haben scheinen, als die Tore ins Chaos zu bilden – hinaus und hinein. Diese Tore haben eine ähnliche Funktion wie das Filtersystem, das unser Bewusstsein vom Unterbewusstsein trennt. Es ist eine Sache, über die Möglichkeiten der Materie zu sprechen, aber es ist etwas völlig anderes, über die Möglichkeiten des ganzen Universums zu sinnieren. Möglichkeiten, die nirgendwo anders hinführen als in den Wahnsinn.

Sandsteinburg

Flüssiges Gemälde

Unter meinem Bild verschwimmt die Farbe. Ich habe dir von dem Bild erzählt, aus dem polimentvergoldeten Rahmen gelaufen, der nicht mehr fasst, was in ihm vor Kurzem noch hin und her geschwappt ist: Ein flüssiges Landschaftsbild, stets neu geschaffen, von der Erinnerung vergrault, aber auch bewahrt. Ich bin der Pinsel, der den locus amoenus nicht vom locus terribilis zu unterscheiden weiß; von Fingern aufgerappelt fahre ich über die Mittelgebirgszüge, füge Stufen und Gefälle ein, hinterlasse Lücken. Ich bin ein Pinsel aus Lehm. Im Schatten der Naturgewalten: Ein Antlitz ganz ohne Mund, hingeschmissen von Händen aus Staub, gezimmert aus Knochen, ohne ein Dach, auf das es regnen könnte. An den Wänden meines Hauses: Bildmetaphern ohne Mund. Doch die Mauern wurden einst von ihrem Geist geküsst. Nie hat ein Maler sie gemalt, nie hat ein Tänzer sie umschlungen, nie hat man sie bei Tag gesehn, nur dieser Mond schlug ihren Schatten auf ein flüssiges Gemälde.

Sandsteinburg

Morena

Morena erschien mir von unserer ersten Begegnung an als eine überirdische Schönheit, und es darf nicht verwundern, dass sie, die auf einen uralten Stammbaum zurückblicken konnte, im besten Alter für eine Frau, noch nicht geehelicht wurde. Merkwürdig waren die Geschichten, die man sich über ihre Schönheit erzählte, und erste ernstgemeinte Avancen kamen wohl aus Furcht nicht zustande, denn man wusste in den sie umgebenden Kreisen sehr wohl, dass man sich immer auch den Ahnen zu stellen hatte, die das Geschlecht einst groß gemacht. Wehe dem, der sich nicht als würdig erweisen sollte, der zögert, wenn es gilt, nach vorne zu stoßen, oder der, andersherum, voller Übermut eine ganze Bresche allein zu füllen versucht. Ich war weder von der einen noch von der anderen Sorte und wurde wohl von ihr angehört, weil ich weder stürmte und drängte, noch die übliche Furcht vor ihrer Aura zeigte. In ihrer Nähe wurde ich stets von einer Kraft erfasst, die mir ermöglichte, philosophische Höhen zu erklimmen und etwa über Jakob Böhme, der bei diesen Gesellschaften zu dieser Zeit gern diskutiert wurde, zu parlieren, als wäre ich je ein Studiosus gewesen und hätte die Aurora nicht nur gelesen, sondern verstanden. Morena bedachte mich dann mit Blicken, die mich aufforderten, nur weiter so kühn von der alchimistisch-poetischen Machart zu sprechen und gerade den Gedanken vom Widerspruch als ein notwendiges Moment weiter zu verfolgen. So sprach ich oft vor ihr und ahnte nicht, dass ich gerade das, wovor sich die meisten fürchteten, heraufbeschwor.

Auf dem aus der Wand gewölbten Spiegel stand die Rechtfertigung gegenüber meines Verdachts, den ich vielleicht erst etwas später hätte äußern sollen.

»Ich habe nie …« Dabei war dieser Gedanke nie ausgesprochen worden, meine hängende Mundpartie hätte sich gar nicht um die vorgesehenen Worte wölben können. Also schwieg ich.

Ich hatte sie im Raubvogelgehege stehen lassen, konnte mich nicht dazu entschließen, auf sie zuzugehen, beobachtete sie dabei, wie sie einen verbrannten Engel küsste. Aber das war es nicht, was mich veranlasste, ihr zuzusehen und mich dabei hinter einem gefiederten Baum zu verstecken. Meine Augen wären ihr dabei vielleicht nicht willkommen, und wenn nicht meine Augen, dann vielleicht ihr Blick.

Es waren ihre bandagierten Arme, die mich neugierig machten (den Engel erkannte ich, um die Wahrheit zu sagen, auch erst viel später), und nicht zuletzt ihr Atemgerät, das ihr aus dem Gesicht ragte wie eine Radarfalle. Da kannte ich sie noch nicht.

Später traf ich sie noch einmal, sie fiel mir durch ihr verräterisches Kleid auf. Ihre Maske hatte sie nicht mehr bei sich und auch ihre Arme waren ohne Wunden, die eine Verhüllung erforderlich gemacht hätten. Nur ihr Kleid und die Brandflecken darauf. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Teller mit in Öl zerlassenen, kleinen Fischen – Sprotten, um es genau zu sagen. Der Ausgang war nicht weit, aber man wurde stets durch ein Schnellrestaurant geschleust, bevor man nach draußen kam. Die Tür öffnete sich erst, wenn man etwas verzehrt hatte (oder wenn man etwas zu Verzehrendes gekauft hatte; ob man es dann liegen ließ oder in den Papierkorb warf – es war pures Kalkül, dass es nur einen Papierkorb gab, so wurde an das moralische Empfinden appelliert – blieb der eigenen Strategie überlassen).

Ich sprach sie natürlich nicht an, aber ich schlenderte hinüber zu ihrem Tisch und grapschte nach jener Brust, die auf meiner Seite lag. Hätte sie die Maske noch getragen, hätte ich es nicht gewagt.

Ihr Teller zerbarst auf dem kargen Boden und die Fische schlitterten über die Fließen, als hätten sie es eilig, wieder zurück ins Meer zu finden. Aber sie fanden es nicht, verteilten nur das Öl und blieben liegen, wo sie waren.

Ich kann nicht genau sagen, was dann geschah. Erst jetzt erinnere ich mich an die krümeligen Reste ihrer Wimpern, die sie im Waschbecken hinterließ, an eine gesalzene Seezunge im Kühlschrank. Ich schaue mir ihre Handschrift auf dem Spiegel noch einmal an: »Ich habe nie …«
Was wollte ich sie fragen?

Sandsteinburg

Langsame Vorbeifahrt

Alles rinnt mit der Zeit den kosmischen Bach hinunter. Das gilt ganz besonders für ein lumpiges Leben.

Eigentlich wäre die Dame fast ersoffen, wenn nicht ein Lastwagen sie herausgezogen hätte, als schon der Sumpf derart nach ihr gierte und demzufolge um sich griff, um sich das lebendige warme Fleisch zu greifen. Feuer und Hunde in weißem Taft, wenn man die Augen schließt, Plüschbalkone ringsherum.

Als ob sie den Gesang studierten, schrien die Pärchen, die sich dort sonnten, ihre formanten Töne ineinander, erschufen Klangquadrate und Sinuskurven voller Zauber.

An den Händen, die aus dem dickflüssigen Meer ragten, erkannten sie sich wieder. Die Hände, mit denen sie sich besprochen hatten unter dem Einfluss der deformierten Sekunden, die wie Seifenblasen laut schmolzen, Speichel zurück ließen, kenterten.

Die Sätze wachsen wasserlos, sind Waisen ohne Quelle; morgen sagt sie ein anderer, jetzt aber konzentriert sich der Insekteninstinkt auf die Beute. Schmerz des Hungers, Wahn der Lust.

Es ist nicht einerlei, was das Spinnentier sagt. Die Kleider klebten an ihr und durch ihre Poren drückten sich Moose, Schleimsand, Kraut, die Augen riesengroß, schwarz, rund: oxidierte Schädeldecke; ihre dünnen Stelzen bohrten sich in die Erde, mit halber Kraft voraus.

Der Lastwagen beschleunigte sauerstoffgegräßig, sie fasste die Anhängerkupplung; voller Schmiere das starke steife Stück. Zwischen ihren Fingern glibschte das Maschinenöl, spritzte ihr Reste ins Gesicht, der Auspuff föhnte ihr Haar zu einer ehernen Skulptur nach hinten.

Als sie dann auf der Straße lag, keuchte das dunkle, fordernde Loch mitten in ihrem Gesicht. Autos hupten in langsamer Vorbeifahrt. Sie gehörte niemandem, sie gehörte jetzt niemandem mehr.

Brouillon

Das kosmische Konzept der Aufzeichnung


Es gibt vermutlich nicht viele Dichter, die behaupten, bei ihrer Zeugung anwesend gewesen zu sein. Das ist keine Aussage, die man bewusst und ohne den Willen, das Publikum an der Nase herumzuführen, tätigen sollte. Es gibt aber einen Grund, warum man es dann eben doch tun sollte: den der Mystifikation. Mir vorzustellen, Ende August in einem Hotel in Düsseldorf in die Planungsphase des Lebens einzutreten, hatte stets etwas von einer Legendenbildung, obwohl es meiner gesicherten Wahrheit entspricht. Mir vorzustellen, wie meine Mutter aus dem Fichtelgebirge (sie muss in Selb in den Zug gestiegen sein) an einem Freitagabend hinauf zu meinem baldigen Vater fährt, der dort als Maschinenschlosser arbeitet, um ein romantisches Wochenende mit ihm zu verbringen, gelingt mir nur durch die Inanspruchnahme meines eigenen Verzehrens. Dieser Tag ist mir um vieles mehr wert als mein Geburtstag (insofern man sich selbst in Ehren hält), denn mein Schicksal zog seine Kreise und konnte (in meiner Vorstellung) noch gar nicht festgelegt sein. Wie viele Seelen mochten um den Körper meiner Mutter gerungen haben? Oder gab es gar kein Ringen und ich stand bereits als Sieger fest? Ich glaube, wir alle gestalten uns aus Träumen heraus, den guten und den schlechten. Objektiv gesehen gibt es keine Ewigkeit, sehr wohl aber spreche ich von Zuständen, die eine Art Stillstand erfahren. Es bedarf einer künftigen Wissenschaft, um zu erfahren, aus was sie bestehen. Wenn wir unsere Konserven nutzen, mit Film, Ton und Schrift, die wir zu archivieren suchen, dann bedienen wir uns im Kleinen eines kosmischen Konzepts der Aufzeichnung.

Hundertprosa

Die Ankunft des Genies

Wild kam der Mond um die Ecke gerudert, eine farbige Wolkenbank dazu nutzend, nicht in die schattigen Giebel der Häuser zu donnern. Er war eindeutig zu schnell, das Himmelzelt glatt um diese Zeit. Dann aber fing er sich, zunächst in den Ästen der alten Ulme, die, unsichtbar, weil unter der Erde, mit ihrem Wurzelwerk den Fluss vorwärts trieb, und trat dann, Halt gefunden habend, seinen abendlichen Dienst an. Der gute Nachtwächter, ein verlässlicher Kumpan der leeren Räume da oben, entdeckt so manch frivoles Geschehen, aber er schweigt als Lampe und als Geheimnisträger. Cornelius dient er als Grund dafür, wach zu liegen.

einst fror
ein Stein mit seiner Brut
und log
das Alter an, will mich
zur Feuerstelle quälen
ein Tropfen
Flammenhaar

»Wörpünnich?« Was; mein Maul wie zugenäht?! Wie Honig, der die Waben hält, das Kupferleuchten: Wachs-nichts-als-Wachs! Dann aber hülft ein kleiner Spotze=Strudel, schon gehtʼs besser: Wer also … »bin ich?«
Ich sehʼ doch, wie du da im Kessel rumwalkst; antworte mir!
Die Ankunft des Genies: 3 Tage focht man um das Kind, das ganz blau von Atemnot ins Jammertal des Lebens kroch – und wirklich kann man von kriechen sprechen – ›Ich hab ein Kind gekriecht‹ –, sozusagen; oder auch: ›Das Kind – ein Krieg!‹
Asphyxisches Wunder in der unhygienischen Wochenstube, in der die Schneeschlappen trocknend herumlagen, was bist du ein garschtʼges Leben! Willst neues Leben willkommieren und statt warmholder Paradiesik istʼs, als gebäre man im Scheißhaus des ganzen Universums. Aber: ein Genie! – man siehtʼs schon an den schwarzen Augen!
Die Physiognomie der Böhmen, die Gestalt großer, unbeirrbarer Bäume; ein Egerländer auf altfränkischm Bodn. Der Vater: Damenschneider der Franzosen, so dass der Bub das Dämelgen ›Grippe‹ (Gripine von Lyon) beinahe einmal nackert zu sehen bekam.
Das Verbotene hangt an uns wie eine ewige Versuchung. Und wenn wir uns gegen das Elysium nicht wehren, baden wir alsbald im Wein.
Wenn das Schöne die Verdammnis ist, dann bin ich gern der Heizer der Höllengestade! Mein Sinn geht nach Wärme und den schmackigen Schenkeln, aber freilich werd ich mein Zimmer in einem Herzen nehmen, verantwortlich sein für das rosane Blut in den Lippen der schwellenden Jungfrau, der ich beiwohne. Wann ich nur erst Alchymist geworden!

Journal

Die späte Mrs. Radcliffe

Um das spätere Leben von Mrs. Radcliffe ranken sich einige Phantasien. Während die Jahre schweigend vergingen, machten verschiedene Gerüchte die Runde. Es wurde behauptet, sie sei in Italien, um Material für eine neue Romanze zu sammeln. … Ein anderer hartnäckiger Bericht besagte, dass sie von ihren eigenen geisterhaften Schöpfungen in den Wahnsinn getrieben und in eine Anstalt eingewiesen worden sei. Ein unbedeutender Dichter jener Zeit brachte in aller Eile eine ‘Ode an Mrs. Radcliffe über ihren Wahnsinn’ in Druck. Oft wurde öffentlich behauptet, sie sei tot, und in einigen Zeitungen erschienen Nachrufe auf sie. Das Lustige an der Sache ist, dass sie selbst sich nicht die Mühe machte, mehr als eine der irreführenden Meldungen zu widerlegen. In einer erstaunlichen Anekdote, die von Aline Grant, der Biografin von Mrs. Radcliffe, erzählt wird, wandte sich Robert Will, ein Schreiberling, nach einer Meldung über den Tod der Schriftstellerin an den Verleger Cadell und bot ihm eine Romanze – The Grave – unter dem Namen “The late Mrs. Radcliffe” an. Daraufhin erschienen Anzeigen in den Zeitungen.

Amüsiert über diese lächerliche Nachricht kam Mrs. Radcliffe eines Abends am Soho Square an und stieg lautlos die steilen Stufen zum Dachboden von Robert Will hinauf. Sie öffnete geräuschlos die Tür und trat in eine kleine, schwarz verhangene Kammer, die mit Totenköpfen, Knochen und anderen Friedhofsutensilien geschmückt war. Eine Sanduhr stand auf einem Sarg, und ein Beistelltisch war mit gekreuzten Schwertern und einem Dolch geschmückt. Ein junger Mann in Mönchskutte arbeitete fieberhaft mit seinem Federkiel im Schein einer Kerze.

Mrs. Radcliffe setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und flüsterte: “Robert Will, was tust du hier?”
Dem jungen Mann standen vor Schreck die Haare zu Berge, als er die bleiche Erscheinung betrachtete, die im flackernden Licht grässlich wirkte. Ihre dünne, weiße Hand streckte sich langsam aus, ergriff das Manuskript und hielt es über die Kerzenflammen. Als es zu Asche zerfallen war, verließ die Besucherin den Raum so lautlos, wie sie ihn betreten hatte. Am nächsten Tag beeilte sich der verängstigte Robert Will, den Verleger zu informieren, dass der Geist von Mrs. Radcliffe das Manuskript verbrannt hatte.