Brouillon

Tarock der Läufer und Fänger

Im Titel stehts bereits, was ich sagen will. Aber das ist natürlich ne faule Aussage von mir. Das weiß ich. Ich bin weltfaul und der meisten meiner Artgenossen überdrüssig. Das wiederum lässt tief blicken. Stille psychoanalytische Fischrachenanalyse.

Zelfieblume

Ich entwerfe gerade ein Tarock für das, was bisher noch „Sandsteinburg“ heißt und irgendwo in Schubladen, unter Schränken und in meinem Schädel umherfledert. Genommen werden Figuren, Symbole und Szenen aus ihr. Das bedeutet zwangsläufig: Ich muss auch eine eigene Legende zu den Karten entwerfen. Ein absolut sinnloses Unterfangen, zu dem die Hochlebe-Luftpuppe der Kunst eine ihrer blonden Strähnen zwischen zwei ihrer Finger zwirbelt, um sie zwischen Nase und Oberlippe zu klemmen, sobald sie schweinsnaserümpfend ein Fischmaul mimt. Zimpel commonzenzes.

Das ist die Karte mit der es begann.

Bouquinist

Der polnische Boxer / Eduardo Halfon

„Der polnische Boxer“ ist eine kleine Sammlung miteinander verbundener Geschichten des guatemaltekischen Schriftstellers Eduardo Halfon. Diese Offenbarung erschien im Jahre 2014 fast unbemerkt im Hanser Verlag. Überraschend daran mag vor allem sein, dass es bereits Halfons zehntes Buch ist, aber das erste, das übersetzt wurde. Das Original erschien bereits 2008.

In dem vorliegenden kleinen Puzzle bewegen sich Halfons Fragmente mühelos von Antigua, Guatemala, einem kulturellen Transitpunkt Mittelamerikas, nach Durham, North Carolina, Belgrad und Póvoa do Varzim, Portugal. Erzählt wird das alles von dem Protagonisten „Eduardo Halfon“, einem jüdisch-guatemaltekischen Schriftsteller und Literaturprofessor (ein Zufall, diese Ähnlichkeit mit dem Autor). Die Geschichten kreisen unter anderem um Themen wie Kunst und Schrift, Identität, Auschwitz, sexuelle Ekstase und Zigeunermusik. Und sie trumpfen mit dieser ganz bestimmten Art erdiger lateinamerikanischer Intelligenz; beschäftigen sich mit der Suche nach Antworten und geheimen Schlüsseln zu den Rätseln von Leben und Familie, Geschichte und Heimat, Wahrheit und Leidenschaft.

Halfons Neugier auf die Erfahrungen seines Großvaters in einem Konzentrationslager zieht sich durch jedes Kapitel, von der subtilsten Ebene bis zur tiefsten Erkundung. Halfon weiß nur, dass es ein polnischer Boxer war, der seinen Großvater Oitze in Auschwitz gerettet hat, aber die Details bleiben ein Rätsel. Oitze zeigt Halfon selbst nur die grausigsten, aber verschwommensten mentalen Dias von Auschwitz. Dieses klaustrophobische Bild der dunklen, feuchten, mit Flüstereien gefüllten Zelle gibt den Ton für den Großteil des Romans vor. Für Halfon (den Protagonisten) ist die Idee eines Boxers, der Oitze rettet, ein Symbol, an dem er festhält, die Hoffnung, dass etwas oder jemand ihn retten wird.

Im dritten Teil „Epistrophy“, in dem der Erzähler Milan Rakic einem Halbzigeuner und serbischen Pianisten, der auf einem Kunstfestival in Antigua auftritt, begegnet, beginnt das Buch wirklich zu schweben. Es ist Rakic, „ein moderner Nomade, ein allegorischer Nomade“, der dieses Buch in zwei atemberaubende Kapitel führen wird. Das erste, „Postkarten“, ist eine Serie von rätselhaften Schnappschüssen über Jazz und obskure Zigeunerkünstler, die Rakic von seinen Tourneen rund um den Globus zu Halfon schickt, während der klassisch ausgebildete Musiker als wandernder Akkordeonist immer tiefer in das Geheimnis der Wurzeln seines Vaters hineingezogen wird. Und das zweite, „Die Pirouette“, beinhaltet Halfons außergewöhnliche Suche nach dem verlorenen Rakic, der in „seinem eigenen verdammten Mythos“ irgendwo in der rauchigen Zigeunerunterwelt des postkommunistischen Belgrads verschwunden ist.

Indem er sich selbst als Protagonisten darstellt, vermischt Halfon die Fiktion mit der Realität. Er spielt explizit allwissender Erzähler und den im Dunkel Tastenden. Er vermischt auffallend diese beiden Ebenen und sagt uns: „Literatur ist nicht mehr als ein guter Trick, den ein Magier oder eine Hexe ausführen kann, um die Realität als Ganzes erscheinen zu lassen und die Illusion zu schaffen, dass die Realität eine ganze Einheit ist“. Er wird selbst zu diesem Zauberer, wenn er nach Milan sucht und sich bemüht, eine Postkarte zu rekonstruieren, die er von ihm bekommen hat: „Es gibt immer mehr als eine Wahrheit in allem“.

Die Geschichten sind geschickt und kunstvoll miteinander verbunden – eine amerikanische akademische Konferenz über Mark Twain (der zufällig 1866 durch Nicaragua reiste); ein literarisches Symposium in Portugal, wo Halfon über die leidige Beziehung zwischen Literatur und Realität nachdenkt; Nächte am Strand mit seiner Freundin Lía verbringt, die danach versucht, Ebbe und Flut ihrer Orgasmen auf Papier festzuhalten, als ob sie Wellen oder Träume skizzieren würde. Die Geschichte von Halfons Großvater, der von seinem Zellengenossen, einem Boxer aus der polnischen Stadt Lodz, vor Auschwitz gerettet wurde, weil er  ihn in einer lange Nacht auf eine Befragung durch die Nazis vorbereitet.

Im weiteren Verlauf des Romans wird der metafiktionale Farbton stärker und heller. Sein unergründlicher Wunsch, Milan zu finden und Oitzes Vergangenheit aufzudecken, wird als surreales Verlangen dargestellt. Seine Fantasie überschlägt sich, und in dem Versuch, ihre Geheimnisse zu lösen, umarmt er deren Geschichten als seine eigenen. Er vergleicht seine Besessenheit, mehr über ihr Leben zu erfahren, mit der Art und Weise, wie ein neugieriges, krankhaftes, leicht ängstliches Kind unter dem Bett nach Geistern sucht.

Tatsächlich ist es die begrabene Vergangenheit des Großvaters, die schließlich enthüllt wird, die das kraftvolle zentrale Bild des Buches liefert: die „fünf mysteriösen grünen Ziffern, die mir viel mehr auf einen Teil seiner Seele als auf seinen Unterarm tätowiert zu sein schienen“. Als Kind wurde Halfon gesagt, das Tattoo sei gemacht worden, damit sein Großvater seine Telefonnummer nicht vergessen würde. Nach dem Tod seines Großvaters im letzten Akt des Buches „Sonnenuntergänge“ schwingt sich Halfon von den in sein Fleisch eingebrannten Figuren über Lias Zeichnungen und Visionen zu Maya-Tempeln in der Abenddämmerung und sucht atemlos nach einem verbindenden Faden im Gewirr der Elemente des Buches: „Ich dachte an die fünf  blassgrünen Zahlen, die jetzt auf dem Unterarm meines Großvaters, unter der dicken schwarz und dunkelviolett karierten Decke, dabei waren, zu sterben. Ich dachte an Auschwitz. Ich dachte an Tätowierungen, Nummern, Zeichnungen, Tempel, Sonnenuntergänge.“

„Der polnische Boxer“ ist ein Buch der kleinen Wunder. Dabei erinnert Halfons Werk in gewisser Weise an andere Autoren, etwa an die Würzigkeit des Kubaners Pedro Juan Gutierrez oder auch an Henry Miller (von dem ein Zitat das Buch eröffnet) bis zu den eindringlichen Stimmen von John Berger und dem Argentinier Edgardo Cozarinsky. Auch die schiere erzählerische Dynamik und Faszination der Mischung aus Leben und Büchern, Sex und Kunst scheinen Echos des chilenischen Meisters Roberto Bolaño zu sein.

Bouquinist

Samanta Schweblin: Sieben leere Häuser

Im Grunde ist die ganze phantastische Literatur geprägt von der kurzen Form. Hier sind die eigentlichen Meisterwerke zu finden. Viele Literaturkritiker weltweit sind davon überzeugt, dass Samanta Schweblin zu diesen Meistern gehört. Man hat die Autorin bereits in eine Reihe mit Borges und Cortázar gestellt, hat David Lynch bemüht und – fast schon konsequent – Kafka. Sicher, diese ganzen Aussagen werden vom Feuilleton getroffen und entsprechen selten der Realität (was jedem klar sein muss); man möchte den Verlagen in erster Linie Futter für ihren Umschlagtext liefern, aber auf ein paar dieser kanonischen Meister hat Schweblin als Einfluss selbst hingewiesen.

Meiner Ansicht nach wäre es dennoch besser gewesen, Schweblins eigenen Ton herauszustellen, ihre Eigenheit, ihr Können, tatsächlich ihre Meisterschaft. Ihren Charakteren passieren Dinge, gegen die sie nichts tun können. Sie verstehen nicht, was um sie herum vor sich geht oder wie sie aus dieser Situation herauskommen, in der sie sich befinden, denn es gelingt ihnen fast nie. Schweblin zeigt in der Tat einen gewissen Pessimismus auf, was unsere Fähigkeit betrifft, unser eigenes Leben zu kontrollieren. Vielleicht ist das gemeint. Das und die präzise und klare Struktur ihrer Texte, die völlig ohne Verzierungen daherkommen. Was Schweblin wirklich tut, ist, das Seltsame und Unheimliche an menschlichen Beziehungen herauszuarbeiten. Hören wir uns an, was die Autorin selbst darüber zu sagen hat:

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Brouillon

Ein Leben als Apologet

Einst war ich der Apologet des Surrealismus, was zu Beginn der 90er Jahre schwierig war, hatte man diesen Ismus in Deutschland doch nie recht verstanden. Wie wäre denn das Unbewusste, das Magische, das Zufällige zu verteidigen gegen einen Zweckrationalismus, unter dessen Ergebnisse wir erst heute so richtg leiden? Der Surrealismus hat heute in der Weird Fiction überlebt, bei uns wagt man das – ich bin vielleicht eine der Ausnahmen – noch immer nicht. Das liegt aber nicht etwa daran, dass wir, die einstige Hochburg der Romantik und des Phantastischen – plötzlich rational geworden wären, die faust’sche Seele wandert noch immer durch unseren Volkskörper, sondern weil wir wie kein anderes Land des Westens um Gleichschaltung bemüht sind, auch wenn die Medien das Gegenteil verlauten lassen. Die Franzosen hatten, als der Surrealismus als Weltanschauung explodierte, den mit Abstand rationellsten Verstand vorzuweisen – und unsere Romantik konnte nur anhand des aufklärerischen Gebarens der sogenannten Goethezeit zur Blüte gelangen. Aber gegen den geistigen Brei, den wir heute erfahren, kann man kaum ankommen, weil das dumpfe Blubbern darin regiert. Trotzdem ist die Phantastik meine Rettung, und natürlich bin ich heute deren Apologet.

Journal

David Cronenbergs Crash

Crash

Der Druck auf meine rechte Körperseite, auf diese Extremitäten, die Knochen, die äußeren Flächen. Das Hervortreten der Schulterblätter. Die Unterbindung des Blutflusses der Beine. Das Gras berührt, die Wange den Boden. Das Klaffen der oberen Lippe. Die Beckenschaufel wieder und wieder in Erde bewegt. Die starkschnellen Schläge. Links, unter meiner Brust. Unter den Rippenbögen, die flache Atmung. Die Weite von vorn, von hinten Wärme. Die Haut deiner Hand. Das Blut schmeckt eisern.

„Maybe the next one. Maybe the next one.“

(Albera Anders)

Crash
©Jugendfilm Verleih GmbH

Vom Asphalt, dem großen geregelten Verkehr der einsamen Städter, in den Graben abkommen. Ins Gras. In die Berührung. In ein Detail. Herbeigeführt durch eine willentliche / künstliche Crashsituation. Warum? Um in einen Zustand zurückzufinden, den man noch erinnert, der sich aber offenbar nicht mehr so einfach einstellt. Extremer ausgedrückt: Es passiert einem ja sonst nichts.

Ist dir etwas passiert? 

Nein. Leider nicht!

Das Auto im Graben. Der Mensch: verletzt. Es folgt eine Bestandsaufnahme der wahrgenommenen Verletzungen, bzw. der eigenen vorgefundenen körperlichen Zustandssituation. Ein Zoom, Vereinzelungen, Details. Substantivierungen: Oder wie man im Dunkel(n) einer Werkstatt (s)ein Auto mit einem Handlicht nach potenziellen Schäden absuchen würde. Im schwärzesten Fall werden aus hervortretenden Schulterblättern Flügel.

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Brouillon

Mit Piglias „Letztem Leser“

So erstaunlich es sich anhört, habe ich eine irrationale Angst davor, Bücher könnte es eines Tages nicht mehr geben und diese Möglichkeit käme noch zu meinen Lebzeiten zum Tragen. Das mag vielleicht ein Grund für meine Besessenheit sein: kaum habe ich ein Buch in meine Sammlung integriert, fehlt mir ein anderes schmerzlich. Und das geht immer so fort. Als Leser hat man immer zu wenig Bücher, auch wenn man eines Tages so viel hat, sie nie und nimmer alle lesen zu können. Doch das spielt keine Rolle und kann nur der Einwand eines Nichtlesers sein, denn manchmal besteht die Aufgabe eines Lesers gerade darin, nur zwischen den Büchern zu verweilen und nicht zu lesen. Es gibt keine andere Möglichkeit, das Universum zu uns einzuladen; sobald wir in den Nachthimmel sehen, zieht es sich zurück. Nur in einer Bibliothek offenbart es sich, wie das Leben, das man sucht, aber nur noch in der Erinnerung findet, einer Erinnerung, die sich nicht zuletzt aus Gelesenem speist.

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Journal

The VVitch – Robert Eggers‘ großartiges Debüt

2015 erschien mit The VVitch das Spielfilmdebüt des US-amerikanischen Filmregisseurs, Drehbuchbuchautors, und Szenenbildners Robert Eggers, das im Englischen A New-England Folktale heißt und im Rahmen des Sundance Film Festivals seine Premiere feierte.

VVitch

The VVitch zeigt das fromme und gottesfürchtige Leben einer Puritanerfamilie um ca. 1630. Wir sehen William (gespielt von Ralph Ineson), der samt seiner Familie, gerade erst in Neuengland angekommen, aus der puritanischen Gemeinde verstoßen wird. Weshalb? Das erfahren wir nicht. Wir sehen nur, dass ihnen der Prozess gemacht wird. Gemeinsam mit seiner Frau Katherine (gespielt von Kate Dickie) und seinen 5 Kindern (Thomasin, Caleb, Mercy, Jonas und Samuel) lässt er sich mit samt dem Hab und Gut der Familie auf einem Acker nieder, der direkt an einen Wald grenzt. Ein Wald, der ihnen im Verlauf gehörig zusetzt, beginnend damit, dass wir miterleben, dass das jüngste Kind Samuel (ein Säugling) vor den Augen des ältesten Kindes, der Tochter Thomasin (gespielt von Anya Taylor-Joy), von einer Hexe gestohlen wird. Gestohlen in dem Moment, in dem Thomasin mit ihm ein „Versteck-Spiel“ spielt, in dem sie sich immer wieder die Augen zuhält, um ihn erneut zu entdecken, nimmt sie ihre Hände beiseite, ihre Augen zu öffnen.

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Journal

Das Trickster-Phänomen in „Mein Name ist Nobody“

Viele, die den Film heute noch mögen, verbinden Kindheitserinnerungen damit. Ein späterer Einstieg ist logischerweise möglich, wird aber von einer ganz anderen Sehgewohnheit dominiert. Als Hybrid zwischen Komödie und melancholischen Abgesang auf das ganze Westerngenre ist „Nobody“ jedoch einzigartig und hat mehr Tiefgang, als man das oberflächlich betrachtet vielleicht vermutet.

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Bouquinist

H.P. Lovecraft: Die Ratten im Gemäuer

Zwischen Ende August und Anfang September 1923 soll Lovecraft diese Erzählung geschrieben haben, denn schon am vierten September vermerkt er, laut Joshi, in einem Brief ihre Fertigstellung. Die Erzählung selbst beginnt mit einem ähnlichen Datum, nämlich dem 16. Juli des Jahres 1923. Der Gegenwartsbezug, ein, wie sich später herausstellte, Markenzeichen des Autors. Es sei „[…] das historisch komplexeste und zugleich aktuellste erzählerische Werk […]; das Lovecraft zu diesem Zeitpunkt zu Papier gebracht hatte.“, schreibt sein treuester Experte in „H. P. Lovecraft – Leben und Werk“ des Weiteren, sie sei eine seiner „[…] Erzählungen, in der er am erfolgreichsten an die überlieferten Muster des Schauerromans anknüpft, wobei er allerdings dessen Standardmotive – das alte Schloss mit der verborgenen Kammer, die Spuklegende, die sich als wahr erweist – weiterentwickelt und modernisiert. Auf die grundlegende Prämisse der Erzählung – dass es möglich ist, den Gang der Evolution rückwärts zu durchschreiten – konnte letztlich nur jemand verfallen, dem die darwinsche Theorie in Fleisch und Blut übergegangen war.“

Ratten im Gemäuer der Exham Priory

Delapore lautet der Familienname des Ich-Erzählers, dessen Vornamen wir nicht erfahren. Ein in die Jahre gekommener Amerikaner britischer Abstammung, der sich zu genanntem Datum entschließt, das alte Anwesen seiner Vorfahren, eine Ruine namens Exham Priory, das er viele Jahre hatte aufwendig restaurieren lassen, zu beziehen, um dort seinen Lebensabend zu verbringen.

Architekten und Altertumsforscher waren vernarrt in dieses sonderbare Relikt vergessener Jahrhunderte, doch die Bauern der Gegend verabscheuten es. Sie hatten es vor vielen Hundert Jahren verabscheut, […], und sie verabscheuten es noch heute, da das Moos und der Moder der Einsamkeit es bedeckten.

Im Süden Englands ist dieses an einem Abgrund stehende Relikt gelegen, in der Nähe der (fiktiven) Stadt Anchester. Die mit dem Hause verbundene Familiengeschichte reicht bis in die Zeit vor der römischen Eroberung Britanniens zurück. Die Sagen um seine Vorfahren und das Anwesen sind ihm durchaus bekannt. Als verflucht gilt es, Mord und Hexerei und anderes wird seinen Ahnen vorgeworfen. Explizite Geschichten und Legenden werden von den lokalen Einwohnern zum Besten gegeben und am Leben erhalten, wie die der Ratten, die, nach einer Tragödie, die sich einst im Hause Exham Priory abgespielt hatte, aus dem Gemäuer wie Ungeziefer hervorgequollen sein sollen, mager und gierig soll diese Armee alles, was ihr in den Weg kam, gefressen haben: Schweine, Schafe, Hunde, Katzen, Hühner und sogar zwei Menschen. Trotz all dieser düsteren Legenden, die sich um seine Vorfahren ranken, nimmt Delapore die Schreibweise seines alten Familiennamens de la Poer wieder an. Er selbst, der sich durchaus für die Geschichte seiner Familie interessiert und dem einige Anekdoten über einzelne Verwandte, die sich schuldig gemacht haben sollen, bekannt sind, schenkt der schaurigen Folklore keine größere Beachtung. So gab es zwar die in die Zeit vor dem Sezessionskrieg zurückreichende Tradition, bei der der Gutsherr dem Sohn bei seinem Tode einen versiegelten Umschlag hinterließ, um ihn mit den näheren Vorgängen innerhalb der Familie vertraut zu machen, jedoch kam de la Poers Großvater bei einem Feuer um, bei dem auch der Umschlag verschwand. Familiengeheimnisse wurden nicht einfach offen von Generation zu Generation weitergegeben. Lange unbewohnt, gelangte das Anwesen in den Besitz der Familie Norrys. De la Poers Sohn, der sich 1917 im Krieg als Offizier der Luftstreitkräfte in England aufhielt, berichtet seinem Vater von den Legenden um Exham Priory, da er einen Sprössling der Familie Norrys, Captain Edward Norrys, von der Königlichen Luftwaffe kennengelernt hatte, der ihm die abergläubischen Geschichten der Bauern erzählte. Woraufhin die Eigentümer Delapore anbieten das Anwesen zurückkaufen zu können, Pläne und Anekdoten über das Bauwerk inklusive.

[…] seine Architektur bestand aus gotischen Türmen, die auf einem Unterbau aus angelsächsischer oder romanischer Zeit errichtet waren. Das Fundament des Unterbaus wiederum ließ sich einem noch älteren Stil oder Stilvermischungen zuordnen – römisch und sogar druidisch oder kymrisch, so die Legenden denn wahr sind.

Die ersten Tage verbringt de la Poer in seinem neuen Zuhause mit der Recherche über seine Ahnen. Er lebt dort mit neun Katzen, unter ihnen „Nigger-Man“, sein ältestes Tier, und sieben Bediensteten. Doch schon bald ereignen sich sonderbare Dinge, die vor allem die Katzen in Aufruhr versetzen, die wild im Haus umherlaufen und an den Wänden und Vorhängen kratzen und schnuppern. Und auch del la Poer bemerkt, dass sich in den Wänden etwas tut. Es scharrt in ihnen, Teppiche heben sich von den Wänden ab als würden sie durch die sich dahinter tummelnden Scharen lebendig. Aufgeschreckt von diesem Umstand beschließt er gemeinsam mit seinem Nachbarn Norrys eine Nacht im Keller des Hauses zu verbringen, da er dort den Ursprung der Plage vermutet. Schon Im Keller finden sie alte Inschriften wie diese: DIV … OPS … MAGNAMAT … P. GETAE. PROP … TEMP … DONA … […] … ATYS. Anders als de la Poer und sein Kater aber, vernimmt Norrys keinerlei Geräusche, wie auch schon die Bediensteten nicht. Unter einem Altar entdecken die beiden jedoch eine Pforte bzw. einen Abstieg in ein tieferes, unter dem Keller liegendes Gefilde. Beide beraten sich und vereinbaren für diese Expedition ein Team aus Experten hinzuzuziehen, das sie bei ihrer Erkundung unterstützen soll. Zwischenzeitlich wird de la Poer immer wieder von einem Albtraum geplagt:

Ich schien von einer immensen Höhe auf eine Grotte im Dämmerlicht hinabzublicken, die kniehoch mit Dreck gefüllt war und wo ein dämonischer Schweinehirt mit weißem Bart mit seinem Stock eine Herde schimmelüberwucherter, aufgedunsener Biester um sich scharte, deren Erscheinung mich mit unaussprechlichem Ekel erfüllte. Dann, als der Schweinehirt innehielt und über seiner Aufgabe einnickte, ergoss sich ein gewaltiger Schwarm Ratten in den stinkenden Abgrund und machte sich über die Schweine und den Mann her.

Bereits die stark abgenutzten Treppen, die ins Ungewisse hinabführen, sind mit menschlichen oder halb menschlichen Knochen übersät. Erhaltene Skelette zeigen sich in ihrer Haltung vor entsetzlicher Furcht erstarrt. Primitiv und affenmenschähnlich erscheinen sie del la Poer. Alle Knochen weisen Abschabungen von Nagetierzähnen auf. Auf dem Weg weiter hinab, stellt einer der Forscher fest, dass der Durchgang, durch den sie gehen, gemäß der Richtung der Meißelschläge von unten nach oben gehauen worden war. Gefiltertes Tagesslicht dringt durch die Felsspalten zu ihnen hindurch. Was sie finden, ist eine enorm weite und hohe Grotte, die sich wie eine eigene Welt vor ihnen erstreckt:

[…] eine unterirdische Welt grenzenloser Rätsel und entsetzlicher Andeutungen. Da standen Gebäude und andere architektonische Überreste – mit einem entsetzten Blick sah ich eine sonderbare Reihe von Hügelgräbern, einen wilden Kreis von Monolithen, eine römische Ruine mit niedrigem Kuppeldach, einen großen angelsächsischen Bauernhof und eine frühenglische Holzhütte -, doch all das verblasste neben der ghoulischen Szene, die uns die Oberfläche des Bodens darbot. Vor den Stufen erstreckte sich Meter um Meter hinweg ein wahnsinniges Gewirr menschlicher Knochen – oder besser gesagt, Knochen, die zumindest so weit menschlich waren wie jene auf der Treppe. Wie ein schäumendes Meer dehnte sich diese Knochenhalde vor uns aus, manche Gebeine zerfallen, andere ganz oder teilweise als Skelette erhalten; Letztere lagen meist in Verrenkungen höllischer Panik, als hätten sie etwas abgewehrt, manche grapschten in kannibalischer Absicht nach den anderen.

Die gestandenen Männer straucheln, halten den Anblick, der sich ihnen darbietet, kaum aus. Einer der Forscher, ein Anthropologe, datiert einige der Schädel noch vor dem Piltdown-Menschen, eine entartete Mischung seien sie, andere wiederum stammten von hoch und vernünftig entwickelten Arten. Des Weiteren gibt der Menschenforscher an, dass sich einige von ihnen wohl auf allen Vieren fortbewegt haben müssen. Zwischen all diesen Gebeinen Rattengerippe.

Ein Entsetzen löste das nächste ab, als wir anfingen, die architektonischen Überreste zu erforschen. Die vierbeinigen Wesen waren – gelegentlich fanden wir auch Zweibeiner – in steinernen Pferchen gehalten worden, aus denen sie in ihrem letzten Hungerwahn oder aus Furcht vor den Ratten ausgebrochen sein mussten. Es hatte große Horden von ihnen gegeben, die man offenbar mit dem derben Gemüse gemästet hatte, dessen Überreste man als giftige Silage am Boden der gewaltigen Steinsilos finden konnte, die älter als Rom waren. Nun wusste ich, warum meine Ahnen so ausgedehnte Gärten angelegt hatten – ich bete, ich könnte es vergessen – und nach dem Sinn und Zweck der Horden will ich lieber nicht fragen.

Sie erforschen die verschiedenen Hütten, Gräber und Ruinen. Finden eine Fleischerei, Geschirr und Gekritzel an den Wänden, das bis ins Jahr 1610 zurückreicht, ebenso Gebeine, die in verschiedenen Sprachen bekritzelt worden waren: Latein, Griechisch und der Sprache Phrygiens. Auch de la Poer wagt es in eines der Häuser zu gehen und entdeckt dort in einer der steinernen Zellen ein Skelett der höher entwickelten Klasse, an dessen Zeigefinger ein Siegelring mit seinem Familienwappen blinkt. Einer der Forscher übersetzt den anderen Anwesenden ein altes Ritual und berichtet über den vorsintflutlichen Kult, den die Priester der Kybele mit dem ihren vermengt hatten, und über die Art ihrer Ernährung.

De la Poer beobachtet wie sein Kater „Nigger-Man“ durch all das Grauen unbeirrt hindurchschleicht, er wundert sich über seine Seelenruhe, sieht ihn einmal auf einem Berg von Knochen thronen, und fragt sich, welches Geheimnis sich hinter seinen gelben Augen verbirgt. Beinahe in einen Abgrund gestürzt, verfällt er dem Wahnsinn, er sieht seinen alten schwarzen Kater wie einen geflügelten ägyptischen Gott an sich vorbeischießen, geradewegs in den unendlichen Abgrund hinab ins Unbekannte. Er vermeint, die Ratten kommen, um ihn in einen der Schächte zu stoßen: wo der verrückte, gesichtslose Gott Nyarlathotep blind in der Finsternis zur Musik von zwei idiotischen Flötenspielern vor sich hinheult. Seine Lampe erlischt, de la Poer fällt dem Wahnsinn anheim:

Ich hörte Stimmen … Gejohle … hörte Echos … doch vor allem dieses gottlose, heimtückische Trippeln, es erhob sich langsam, langsam, wie eine steife, aufgeblähte Leiche aus einem öligen Fluss, der unter endlosen Onyxbrücken hindurch in ein schwarzes, fauliges Meer strömt. Etwas berührte mich – etwas Weiches und Fleischiges. Es müssen die Ratten gewesen sein; dieses bösartige, schwabbelige, gierige Heer, das die Toten und die Lebenden frisst … Weshalb sollten Ratten nicht einen de la Poer fressen, so wie ein de la Poer Verbotenes frisst? […] Nein, nein, ich schwöre euch, ich bin nicht der dämonische Schweinehirt aus der Zwielichtgrotte! Es war nicht Edward Norrys‘ fettes Gesicht auf jenem pilzigen, schwammigen Ding! Wer sagt, ich sei ein de la Poer? Er hat überlebt, aber mein armer Junge ist tot! … Soll denn ein Norrys die Ländereien eines de la Poer bekommen? … Es ist Voodoo, sage ich euch … die gestreifte Schlange … Sei verflucht, Thornton, ich werde dich lehren, in Ohnmacht zu fallen, bei dem, was meine Familie tut! … Beim Blut, du Stinktier, ich will dir zeigen, dass es dir schmeckt … […] Magna Mater! Magna Mater! … Atys … Dia ad aghaids ’s ad aodaun … agus bas dunach ort! Dhonas’s dholas ort, agus leat-sa! … Ungl … ungl … rrlh … chchch …

Drei Stunden später finden sie de la Poer kauernd in der Dunkelheit über dem halb aufgefressenen Körper von Captain Norrys. Er wird in eine Zelle in Hanwell gesperrt, Exham Priory wird gesprengt, seine Katzen werden ihm genommen. Man tuschelt über seine Erbanlagen, will, seiner Meinung nach, die Wahrheit über die Geschichte dieses Anwesens vertuschen.

Sie müssen erfahren, dass es die Ratten waren, diese wuselnden, scharrenden Ratten, deren Huschen mich nie wieder schlafen lassen wird; diese dämonischen Ratten, sie flitzen hinter den gepolsterten Wänden dieses Raumes hin und her, sie rufen mich hinab ins größte Grauen, die Ratten, die sie einfach nicht hören, die Ratten, die Ratten im Gemäuer.

Bezüge zu anderen Werken

Weder Hoffmann noch Huysmans hätten eine solch unglaubliche, abstoßende Szenerie ersinnen können oder eine schaurigere Groteske als die, durch die wir sieben taumelten […], schreibt Lovecraft selbst in seine Geschichte hinein, lässt de la Poer als belesenen Kenner der Horrorliteratur erscheinen und lobt zugleich sich selbst, eine solche entworfen zu haben. Insbesondere mit Huysmans nimmt er Bezug auf dessen Roman „Tief unten“, in dem ein dekadenter und lebensmüder Literat zur Zeit des Fin de Siècle sich mit dem Satanismus beschäftigt, um dem vorherrschenden Zeitgeist, den er ablehnt, zu entfliehen.

Aber auch von anderen Werken, schreibt Joshi, ist diese Erzählung möglicherweise befruchtet. So könnte die „Legende von den Ratten“ wohl aus S. Baring-Goulds „Curious Myths of the Middle Ages“ (1869) entsprungen sein, ein Buch, das Lovecraft in seinem Werk „Das übernatürliche Grauen in der Literatur“ erwähnt und würdigt. Sicher ist sich Joshi allerdings hierbei: „Die gälischen Satzfetzen, die de la Poer am Ende der Erzählung ausstößt, sind wörtlich aus Fiona Macleods „The Sin-Eater“ entnommen, einer Erzählung, die Lovecraft in der von Joseph Lewis French herausgegebenen Anthologie „Best Psychic Stories“ gelesen hatte.“ Jedoch auch Irvin S. Cobbs Erzählung „The Unbroken Chain“, die in COSMOPOLITAN im September 1923 erschien, lässt er nicht außer Acht, da er sie ebenso in seinem Großessay erwähnt und auch in einem Brief berichtet, sie gelesen zu haben. Sie erzählt von einem Franzosen, der sich einem seiner Ahnen erinnert, ein Negersklave, der 1819 aus Afrika in die USA gebracht worden ist und von einem Zug überfahren wird. Der Franzose durchlebt seine durchschlagenden Ängste, irgendein Atavismus, ein Trieb, ein Primitivismus: wie z.B. die afrikanische Sprache, könne bei ihm durchbrechen und seine Blutlinie verraten. Eine durchaus rassistische Erzählung, geprägt von Angst, Abscheu und Ignoranz.

Darüber hinaus soll Lovecraft in einem seiner Briefe aus dem Jahre 1936 erwähnt haben, dass er zu „Ratten im Gemäuer“ von „einem äußerst alltäglichen Ereignis angeregt wurde – dem nächtlichen Rascheln einer Tapete und der daraus resultierenden Kette von Phantasiebildern“. Und auch ein Eintrag im  „Commonplace Book“ lässt an Exham Priory denken: „Schreckliches Geheimnis in der Gruft eines alten Schlosses – entdeckt von Bewohner.“ Vielleicht beeinflusst von seiner Lektüre „The Lair of the White Worm“ von Bram Stoker.

Alte, noch ältere und äußere Götter

Neben Nyarlathotep werden hier mit dem Kybele- und Attiskult auch irdische Gottheiten von Lovecraft mit ins Boot genommen. Kybele, die Göttermutter vom Berg (kurz: Magna Mater), die bis in die Spätantike im gesamten Römischen Reich gemeinsam mit Attis verehrt wurde, dient hier mit ihrem Geliebten einem geheimen und besonders pervertierten Kult, der mit der Ausübung des ursprünglichen kaum mehr etwas zu tun haben dürfte. Interessant, dass Lovecraft sich gerade für diesen entschieden hat, ihn funktionalisert, um einem Zirkel, dessen Blutlinie Jahrhunderte überdauerte, ein religiöses Motiv zu geben. Inwiefern mit diesem Kult die Mitglieder ihr Handeln jedoch als legitimiert betrachten, bleibt unklar. Fraglich ist auch, wie weit dieser von de la Poer vorgefundene Kult in die Zeit zurückreicht, wann er seinen Ursprung hat, denn es werden auch Schädel von Menschen gefunden, die aufgrund ihres Aussehens noch vor den Piltdown-Menschen von einem der Forscher datiert werden. Wie wir aber seit 1953 wissen, ist der Schädel des sog. Piltdown-Menschen als Fälschung entlarvt worden. Eine Tatsache, von der Lovecraft nichts wissen konnte, starb er doch etliche Jahre zuvor. All das kulminiert für de la Poer in Nyarlathotep, auch bekannt als das „kriechende Chaos“ oder das „personifizierte Böse“ (da er auch physische Gestalten annehmen kann). Älter als die Zeit selbst sei er, hungrig unter den Menschen Wissen zu verbreiten (häufig als Gelehrter). Unseren alten Göttern noch ältere und mächtigere voranzustellen, ist ein allgemein bekannter aber sehr interessanter Kniff Lovecrafts, bei dem er zeigt, wie verderbt und entartet die unsrigen durch sie sind. Wie zwischengeschaltete Medien erscheinen sie, durch die die älteren Gottheiten wirken. „Nigger-Man“, der wie eine geflügelte ägyptische Gottheit in den Abgrund schießt, scheint Zugang zu dieser dem Menschen fremden Welt zu haben. Dafür spricht zum einen, dass er und die anderen Katzen, zuerst auf die Ratten im Gemäuer reagierten, wie auch de la Poer recht bald (aufgrund seiner Blutlinie), während die Bediensteten nichts hörten und ausmachen konnten. Und zum anderen, das Verhalten des Katers während der Expedition der Forscher: seelenruhig thront er auf den Knochen, unberührt von all dem Grauen. Katzen wurden im alten Ägypten verehrt, als Haus- und Nutztier gehalten, mumifiziert, und als Gottheit (Bastet) angebetet. Und auch heute noch spricht man ihnen zu, Verbindung mit jenseitigen Welten zu haben. Lovecraft, der tatsächlich mit einem Kater namens „Nigger-Man“ zusammenlebte, wird um diese Sensibilität seines Samtpfoters gewusst haben und widmet ihm und seiner Art, nebst einem Essay, die Kurzgeschichte „Die Katzen von Ulthar“.

Die anthropologische Geschichte einer epochenüberdauernden Enklave und der Fluch eines genetischen Codes

Mit dem Fund des Forscherteams um de la Poer gelingt es Lovecraft seine Protagonisten enorm weit in die vergangene Zeit blicken zu lassen. Doch auch schon die Legenden der Bauern, wie auch der weit zurückreichende Stammbaum der Familie de la Poer und die teilweise bekannten Details ihrer Geschichte, reichern die Atmosphäre derartig an, dass wir früh spüren, wie es unter den Geschichten und der vermeintlichen Bauernfolklore schwelt. Die Architektur und Anatomie Exham Priorys trägt zudem wesentlich dazu bei, handelt es sich bei diesem Anwesen doch selbst um ein Relikt diverser, längst vergangener Zeiten. Die Geschichte dieser geheim gehaltenen Enklave wird an der Blutlinie der de la Poers und ihrem grausigen Erbe nachvollzogen. Entartung und Primitivismus sind die Schreckensbilder, mit denen Lovecraft arbeitet. Er beschreibt nicht nur einfach die Angst des Ich-Erzählers: durch seine genetischen Anlagen zu diesen Vorfahren zu gehören, die diesen brutalen Kult zelebriert haben, er lässt ihn dieses Erbe antreten, da de la Poer am Ende kauernd vor dem halb aufgefressenen Körper Captain Norrys‘ gefunden wird. Er räumt damit, neben den Großen Alten, auch dem genetischen „Programm“ des Menschen eine große Wirkmacht ein, er versteht es in diesem erzählerischen Kontext gar erst als ein – sobald es durch etwas aktiviert wurde – unwillkürlich ablaufendes. Ein absolut fataler Gedanke, denn das heißt nichts anderes, als dass Moral, Ethik und Vernunft nichts als Seifenblasen in einem solchen Kosmos sind. Als Fluch wird dieses Erbe von den Bauern gesehen. Ein Fluch, der auf die solche Gottheiten wie Nyarlathotep zurückgehen mag. Der Fluch des genetischen Codes wird stark von Bildern des Ekels begleitet, wofür zunächst einmal die Ratten und ihre Darstellungsweise sprechen, die seit Menschengedenken als Plagegeister und Todbringer (fälschlicherweise hielt man sie im Mittelalter für die Überträger der Pest) gelten. Ihre Kulturgeschichte ist eine lange und grausame. Und so dienen sie auch Lovecraft als symbolkräftige Tiere, die sich dort aufhalten, wo Grausames passiert, oder: sie fungieren selbst als Boten des Grauens, angelockt von Nyarlathotep und seinen zwei Flötenspielern. Wer denkt da nicht auch an den „Rattenfänger von Hameln“. Jedoch besonders das Bild vom Schweinehirt in der Grotte, das de la Poer als immer wiederkehrender Albtraum plagt, birgt den Ekel par excellence in sich. Schimmelüberwuchert und aufgedunsen sind die Schweine, die samt ihrem Hirten von einem Rattenheer gefressen werden. Der Hirte und seine Schweine stehen dabei für die de la Poers und alle, ebenso die Opfer, an dem Kult Beteiligten. Das Motiv des „Guten Hirten“ als nicht minder pervertiertes, das zeigt, zu was für einem Pfuhl diese Kultstätte verkommen ist. Lovecraft misst dem Traum damit eine große Bedeutung bei, versteht ihn als einen weissagenden Translator, und belegt damit die Existenz der Großen Alten.

Journal

Lost Highway – funny how secrets travel

Ich bin verwirrt / zerzaust / in Unordnung / höchst durcheinander,

©Senator Filmverleih Gmbh

singt Bowie, der in diesem Song das Steuer einer Blondine überlässt … Es ist der erste Song des Soundtracks. Das erste Lied, das wir im Film zu hören bekommen, der damit beginnt, dass wir bei Nacht eine Straße entlang fahren, von der wir nicht wissen, wohin sie führt. Wir sehen nur die gelben Streifen, die Fahrbahnmarkierung, sonst nichts. Wir sehen nur, was der Lichtkegel der Scheinwerfer uns sehen lässt. Wir sitzen in einem Auto, von dem wir nicht das Gefühl haben, dass wir es sind, die es steuern. Wir wissen auch nicht, wieso wir darin sitzen. Es ist, als fahre es von selbst. Und das tut es, das kann ich Ihnen jetzt schon verraten, auch wenn wir später sehen, dass es Fred ist, der am Steuer sitzt. Es scheint, als hätte sich David Lynch diesen Song zum Anlass genommen, die Geschichte eines Mannes mit dem Namen Fred Madison (grandios gespielt von Bill Pullman und seinem Sax) zu erzählen, der einen Horror erlebt, den ich für den ultimativen Horror halte, der in den beiden Geschlechtern Mann und Frau keimt, seit sie sich ihrer bewusst wurden. Seitdem sie ihre Augen, ihre Sinne füreinander öffneten.

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