Brouillon

Viehmarkt

In erster Linie mochte ich es gar nicht glauben. So leicht wäre es über die Jahre bereits gewesen, die Reiseschreibmaschinen gegen eine zünftige Büromaschine (ein Arbeitspferd) einzutauschen. Ich hätte wohl nicht eine derartige Leidensstrecke zurücklegen müssen. Die Monikas waren mir aufgrund ihrer Robustheit bereits mehr an die Finger gewachsen als die anderen, dennoch gab es Makel, über die ich immer wieder berichtete. Jetzt ist der Koloss Olympia SG vor Ort, eingeritten und für tragfähig befunden. Zudem habe ich, sollte einmal etwas im Argen liegen, einen Mechaniker dazugewonnen, der auch mein zukünftiges Schreiben mit der Maschine gewährleisten kann. Drama beendet? Es sieht leicht danach aus.

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Bouquinist

Das Portal zu einem alternativen Universum in „Stadt ohne Namen“

Vertraut ist dem Leser und Maniac des Kosmischen Grauens der Typus des Forschers, den Lovecraft uns vorausschickt, eine Welt zu erschließen, die gehörig an unserem inneren Wahrnehmungskosmos rüttelt. Eine, die nicht vom Menschen ausgeht. So lese ich zumeist. Die uns unser Dasein auf dem Erdball, unser Erleben und die Empfindungen, die wir daraus ableiten, mächtig dunkel einfärbt. Schon früh als „literarischer Kopernikus“ von seinen Schriftstellerkollegen eingestuft, gibt er uns den neugierigen, besonders empfänglichen Typus an die Hand. Der über so viel Wissen verfügt, dass ihm mindestens klar sein muss, oder spätestens während seiner Erkundungsodyssee absolut klar werden wird, dass er im Grunde nichts weiß. Dass er mehr und mehr erfährt, was ihm widerfährt, je weiter er sich wagt, während er die Zeit gewissermaßen hinabkriecht. Eine Figur aus sich, aus Lovecraft selbst genommen, die ihm als Schablone diente, sich seinen Yog-Sothoth-Mythenzyklus (oder, wie es dem Gros der Leser und Fans durch August Derleth, den man auch den Erdgucker schimpft, in den Mund gelegt wurde: Cthulhu-Mythos) zu erschreiben. Eine Figur, wie wir sie immer wieder in seinen Erzählungen finden. Der kosmische Archäologe. -Klar! Bedeutet ἀρχαῖος (archaios) zu deutsch nichts anderes als alt. Die Lehre vom Alten, den Altertümern. Oder: den “Großen Alten”. Also richtig alt. Fossiler als fossil. Urur sozusagen. The Beginning … vielleicht …

Stadt ohne Namen

Ohne dass wir in der Erzählung Stadt ohne Namen erfahren, wie es dazu kam, sind wir, wie auch der Ich-Erzähler, direkt konfrontiert mit einer Stadt ohne Namen, einer Stadt in der Arabischen Wüste, die er schaurig aus den Dünen ragen sieht, so, wie Leichenteile aus einem hastig geschaufelten Grab ragen mögen. Wir erfahren nur, dass er von ihr durch andere Wissende, die über sie am Feuer flüsterten, oder von greisen Frauen in den Zelten der Scheichs bereits gehört hatte. Wichtigster „Zeuge“, der ihm die Existenz dieser Stadt ohne Namen annehmen lässt, ist der wahnsinnige Dichter Abdul Alhazred, der von dieser in den Nächten träumte, ehe er seinen rätselvollen Zweizeiler sang:

That is not dead which can eternal lie, And with strange aeons even death may die.

Nicht weniger eine Erfindung Lovecrafts wie auch Arkham, die Miskatonic-University oder das Necronomicon, das von jenem wahnsinnigen Dichter Alhazred geschrieben wurde und das seinen eigenen Mythos erlangte.

Die Stadt selbst wird hier teilweise als Wesen begriffen, das sich in der unendlichen Weite der Wüste, dem Ich-Erzähler gegenüber Wahrnahme verschafft. In einer unwirtlichen Umgebung, die dem Menschen seit jeher, seit der Verweisung aus dem Paradiese, einiges abverlangt. Ihre wie aus einem Grab ragenden Leichenteile, das Aufkommen jener zu Sonnenunter- und -aufgang immer wiederkehrenden Windstöße (bzw. Sandstürme), die mit einem schaurigen Seufzen oder dämonischen Stöhnen einhergehen, all das lässt sie von ihr künden, ihrer Zeit, die sie einmal hatte, deren Blüte, wie im Text benannt, 10 Millionen Jahre andauerte. Noch ehe der Grundstein zu Memphis gelegt wurde, … als die Ziegel Babylons noch nicht gebrannt waren.

Doch wovon kündet sie? Oder besser: Was verkündet sie?

Das erhofft sich der Ich-Erzähler durch ihre Architektur, ihre Relikte, die er in ihr zu finden vermutet, zu erfahren. Dass sie verflucht ist, weiß er sofort. Das erfahren wir schon im ersten Satz. Untermauert wird dies kurze Zeit später durch weitere Angaben: … eine unsichtbare Aura stieß mich ab und gebot mir, vor diesen uralten und unheildrohenden Geheimnissen zu fliehen, die kein Mensch je erschauen sollte, und die auch kein Mensch außer mir jemals zu erschauen wagte. – Etwas, das mich sehr an das Bilder- bzw. Abbildungsverbot vornehmlich monotheistischer Religionen erinnert:

Sollst dir kein Bild machen!

Und doch! Trotz all der Angst und Furcht, die ihn erfasst, tut er es, vom Stachel der Neugier getrieben, mit all seinen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen und dem Wissen, an dem er das Fremde / Unbekannte abzugleichen versucht. Was er vorfindet ist eine Architektur der Angst bzw. eine Urarchitektur der Urängste. Der Leser lernt mit ihm zu kriechen, sie sich mit ihm und durch ihn zu erschließen. Gebückt und geduckt durch wahnsinnig enge Räume, die, trotz der teilweise extrem erdrückenden Niedrigkeit der Decken, doch teilweise auch durch ihre Weite bestechen. Die er, entgegen aller inneren Gegenwehr, erforscht, ganz gleich wie dunkel es ist, oder ob ihm seine Fackel, die er bei sich trägt, erlischt. So kann er in den meisten der ‚Tempel‘ kaum aufrecht knien, muss kauern, ähnlich einem Embryo. Tunnel sind sie ihm, Schlünde, in die er hineinkriechen, vor allem aber hinabkriechen muss. Also fernab von dem, was wir uns unter dem Begriff ‚Tempel‘ vorstellen, in denen wir uns doch eher durch ein umgekehrtes Größenverhältnis, als es hier gegeben ist, verlieren, uns den Gottheiten, für die wir sie erbauten, gegenüber als klein empfinden. Aber auch hier ist es ein Sich-verlieren. Nur eben ein gewaltig massives. Da für den Protagonisten kaum mehr als nur die Hand vor Augen sichtbar ist. Tunnel für Tunnel ihre Ausdehnung, ihre Konstruktion von ihm erkundschaftet wird, die mich unweigerlich an die innere Struktur der Pyramiden der alten Ägypter denken lässt. Nichts für Menschen, die unter Raumangst leiden. Eigentlich für niemanden was, sich mutterseelenallein in diesen ‚Schächten‘ und Schlünden fortzubewegen. Zumal er das teilweise rücklings tun muss. Mit den Füßen voran, immer tiefer hinab. Keine Haltung, die man gerne und vertrauensselig einnehmen würde. Es ist eine, ganz gleich aus welcher Kultur wir stammen, in der wir uns ausgeliefert empfinden. Der von der Architektur absolut in die Mangel genommene Körper wird zum Psychosoma. Während die Räume und Schächte der Pyramiden darauf ausgelegt sind, dass die Seele nach dem Tode und der Einbalsamierung der Verstorbenen ihren Weg ins All finden kann, indem sie durch die Anordnung der Räume durch die Anlage gelotst wird und zum Schluss gen Himmel schießt, droht der Seele hier der ultimative Wahnsinn.

Altäre, sargähnliche, an den Wänden angebrachte, kleine Holzkästen mit verglaster Front findet er vor. In denen mumifizierte groteske Geschöpfe liegen, die er der reptilischen Gattung zuschreibt, da ihre Körperform ihn an Krokodile erinnert. Dann aber wieder an einen Seehund, häufiger jedoch an nichts, wovon der Zoologe wie auch der Paläontologe jemals gehört haben. So groß wie ein kleiner Mensch sind sie. … ihre Vorderbeine liefen in zartgliedrige und offenkundige Füße aus, die den menschlichen Händen und Fingern eigentümlich ähnelten. Doch am sonderbarsten von allem waren ihre Köpfe … – blitzartig schossen mir so verschiedenartige Vergleiche wie zur Katze, zur Bulldogge, zum sagenhaften Satyr und zum Menschen durch den Sinn. Sogar Jupiter selbst besaß keine solch mächtige, vorspringende Stirn, zugleich jedoch verwiesen die Hörner, die fehlenden Nasen und die alligatorartigen Kiefer diese Organismen jenseits aller anerkannten Kategorien. Er hegt den Verdacht, dass es sich bei diesen Geschöpfen um künstliche Götzenbilder handeln könnte, ist aber dann wieder von ihrer Echtheit überzeugt. Auch die Wandmalereien und Deckenfresken, die er findet, die die Geschichte dieser Geschöpfe abbilden, sie in ihren Städten und Gärten zeigen, ist er versucht zunächst als Allegorie zu lesen. Einzig eine Abschlussszene zeigt einen primitiv aussehenden Mann, vielleicht einen Pionier des vorzeitlichen Irem, der Stadt der Säulen, wie er von Angehörigen der älteren Rasse in Stücke gerissen wird. (Anm.: Irem, die im Koran erwähnte untergegangene Stadt, die gewissermaßen als Atlantis der Wüste / des Sandes gilt.) Und je mehr er entdeckt, je tiefer er in diese Räume / die Kultur dieser Wesen vordringt, dabei allein auf seine Sinne und Vorstellungskraft zurückgeworfen ist, umso mehr wird er durch ein Licht, eine Art Phosphoreszenz, die aus diesen Tiefen hervorgeht, denen er entgegenkrabbelt, obwohl es ihm wie ein Zurückkriechen in der Zeit ist, sehend. Im letzten ‚Raum‘, in den Lovecraft ihn schickt, wurde alles von den leuchtenden Schwaden verhüllt.

Das Unbekannte, das Fremde wird zum Unkennbaren. Zum absoluten Horror:

Fremd, fremder: Alien.

Ich bin gewillt zu schreiben: in der Hölle angekommen, ward ihm Licht. Eines, das ihm Kreaturen ins Pupillne wirft, die selbst Lucifer vielleicht erschrecken würden, bevor ihn die Dunkelheit endgültig schluckt:

Als ich mich umdrehte, sah ich … eine Albtraumhorde heranspringender Teufel; hassverzerrte, grotesk herausgeputzte, halb durchsichtige Teufel einer Rasse, die kein Mensch verwechseln kann – die kriechenden Reptilwesen der Stadt ohne Namen. Und als der Wind erstarb, wurden die Eingeweide der Erde um mich herum in ghoulische Finsternis getaucht; denn hinter der letzten der Kreaturen schlug die mächtige Messingtür mit einem ohrenbetäubenden Donnern metallischer Musik zu und ihr schallendes Echo dröhnte hinaus in die ferne Welt, um die aufgehende Morgensonne zu grüßen, so wie Memnon sie von den Ufern des Nils aus begrüßt.

Wir wissen nun also, dass es bereits Zwölf geschlagen hat, um meine eingangs gestellte Frage: was sie, die Stadt, verkündet, an dieser Stelle zu beantworten. Wir wissen jedoch nicht, ob es sich bei dieser Stadt ohne Namen, ihren Resten, um ein Zeugnis einer untergegangenen Kultur handelt, die es so auf diesem Erdball einmal gab, oder ob sie ein Portal darstellt, das den Ich-Erzähler in eine andere kosmische Dimension / Welt hinein nimmt, ihn sich einverleibt. Und es scheint mir, als hätten wir Erdenkinder, die den Blick auch immer wieder gen Himmel richten, eine zweite, nicht sichtbare Fontanelle, in die Dunkles strömt, die sich niemals schließt, solange wir noch einen Körper, Sinne haben.

Brouillon

Honey Baby

Von der Backfront : noch gestern (dunkel war’s, kein Mond schien helle) in den Herbstduft gestiegen, mich hingetastet (obwohl ich doch ein Elektrokleingerät zum Kneten) an den perfekten Honigbatzen, von dreien zwei nach Rachen=Erkenntnis genuß=gut, für die nächsten hellen Tage : noch mehr Honig, noch mehr Zimmet, etwas weniger Nelkenpulver; ach : und Hirschhornsalz fehlte auch diesmal. (Ob ich da mal selbst im Wald?)

Brouillon

Durch die Rabenscheiße ins Glück

Zwischen dem Wort „Toilette“ und dem Wort „Leute“ gibt es eine ungemeine Verwechslungsgefahr. Doch der ähnliche Klang kommt nicht von ungefähr. Immer, wenn ich „auf die Toilette muss“, dann mache ich das, was Raben tun, wenn sie „auf die Leute …“, nämlich: scheißen.
„Ich muss mal kurz auf die Leute“, ist dann das Ergebnis einer gepflegt realistischen Wortwahl.

Hexenwerch

Faunlaub & Löwenstöckel

Es ist Montag, der neunundzwanzigste August. Der Tag, an dem der Turm sich, der sich uns beiden weissagte, durch unser Aufeinandertreffen in Mannheim, den Lüften zu durch Erde brach. Monate, seit Mitte 2015, hatten wir unzählige Worte, so viele lange Briefe aus dem Wasser der Mondin geschöpft. Uns ausgiebig ausgegossen. Oil mit einem Krug. Waterlily mit einem Krug. Aus einer Pfütze entstand ein Rinnsal : aus einem Rinnsal ein Bach : aus einem Bach ein Fluss : aus einem Fluss ein reißender Strom, der unaufhaltsam das Land unter unseren Füßen abtrug, Meer zu werden. Wir strömten uns zu, tasteten bald in allen Elementen nach uns. Wir siezten, duzten, kollidierten und fusionierten … kollidierten wieder, ließen ab, stoben auseinander, hoben wieder an …, wir gaben uns Namen. Nannten unsere Kinder bei den ihren. Sie spielten uns durch (wie wir sie durchspielten), entdeckten und blößten uns. Bangten bis zu diesem Tag:

Noch früher Morgen, wir telefonieren miteinander, soeben erst aus den Federn gestiegen, fühle ich mich pelzig von dem Zwölfstundendienst, der nun hinter mir liegt. Du hast dich bereits vom Nacken bis zu den Fußknöcheln in dein Weinlaub geworfen (da Kempten, wie du mir erzählst, offenbar eine Stadt ist, die ohne gelbe Hemden auszukommen gedenkt). Ich begleite dich zur Tür hinaus, gen Bahnhof zu gehen, die Tschu Tschu zu nehmen, in der ein Junge sitzen wird, der dich die ganze Fahrt zu mir hin unterhält. Ich springe unter die Dusche, weiß noch nicht, was ich anziehen werde, entscheide mich für mein braunes Wollklaid, packe meinen Rucksack, packe meine Tasche, und noch eine, habe viel zu viel dabei. Schwer beladen in beeschfarbenen Samtpömps, vergesse ich den olfaktorischen Handkuss nicht, tauche meine Finger der rechten Hand noch ins Becken meiner Nymphe und versuche von nun ab als linkshändige Packeselin durchzukommen. Ich stöckele los, mit offener Mähne. Denke an mein Sternbild, dass ich an einem meiner letzten Arbeitstage, vor dem Kuckucksnest gefunden hatte als ich, mit einer Kollegin sprechend, zu Boden blickte, und weiß noch nicht, dass der ausgemachte Handkuss der Umarmung eines Wesens weichen wird, auf das ich keinen Einfluss habe.

Brouillon

Befreiung von Zweck

„Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegendes auszudrücken. Es müsste ihm die Sprache der Geister zu Gebote stehen …“ (Goethe)

Als ich ansetzen wollte zu einem Hohelied der Geistersprache, gerate ich an Heinz Schlaffers ebenso benanntes Buch, 2012 bei Hanser, gerate dann wieder in die Situation, erst einmal widersprechen zu wollen, mäßige mich aber, weil dem Lyriker bewusst sein muss, dass er sich einer archaischen und vollkommen autonomen Form anheimgibt, indem er auf Kommunikation mit seiner Umwelt pfeift und pfeifen muss, indem er davon profitiert, was ein jahrhundertelanger Kampf war, Herr (und Dame) über sein Kunstwerk zu sein, zum ersten Mal wirklich frei (nun jetzt schon etwas länger), aber auch nicht zu lang, wo messen wir schließlich, wir messen 1 am Kosmos, wir messen 2 dann erst am pille-palle-existierenden Menschen(ge)schlecht. & wenn die Götter das hören, werden sie dachsteufelslustig, denn sie haben’s ja schon immer gesagt, wo sind denn ihre Schamanen hin, ihr Joghurtesser und Baumhöhlenbewohner, wo sind die denn hin in ihren Betongsiedlungen. & wem hören sie da zu. & wollen zu allem Abfluss auch noch gelesen werden. Das Sangesfeuer ist die Inspiration, Begeisterung hört sich da nicht schön an, Besessenheit ist besser, herausgefallen aus dem Geniekult, der aber im Kleinen weiterschlüpft, herausschlüpft aus dem Kescher, dämonisches Werden, ganz anders sein, weil da zu trennen ist zwischen dem wie ich sein könnte und dem wie ich werde. Befreiung von Zweck, aufatmen : sooooog; ausatmen : faaaach!

Brouillon

Wir preschen die Spuren

Nur die Lyrik ist dazu imstande, uns zu befreien. Dass wir überhaupt befreit werden müssen, daran ist ein Phänomen schuld, das wir „modern“ nennen. In Wirklichkeit meinen wir jedes Mal, wenn wir dieses Wort benutzen „Entfremdung“, und doch lässt sich mit dieser Entfremdung hervorragend arbeiten, vor allem, wenn wir akzeptieren, dass wir niemals irgendwohin zurückkehren können. Wir alle sind den Orten unserer Vergangenheit fremd. Indem wir über Vergangenes nachdenken, verfremden wir die Vergangenheit, bedienen uns eines Stilmittels, das im Gedicht sein Königreich erfährt. Das ist ein Vorgang der Evokation, unser Gedächtnis ist ein Schuttgedächtnis, und wir rufen uns in Erinnerung, was wir längst nicht mehr parat haben, das aber unsere Träume beeinflusst, die wiederum ein Gefühl in uns zurücklassen, als hätten wir etwas Bedeutsames vergessen. Wir erinnern uns an die Lücken des Gewesenen, treffen also mit der Gabel nie das Fleisch, das uns stets entwischt, obwohl der Teller endlich scheint. Natürlich: auch das ist immer nur Schein. Wir preschen in die Spuren, die wir selbst nicht angelegt haben.

Bouquinist

Elizabeth Kostova: Der Historiker

Dracula

Der in Schäßburg (wo man heute noch sein Geburtshaus besichtigen kann) geborene Vlad Tepes war bereits zu seinen Lebzeiten eine Legende. Über seine Grausamkeiten kursieren im Westen die unterschiedlichsten Geschichten (während im Osten ganz andere Variationen kursieren), und nicht zuletzt lieferte er einen Teil der Blaupause zu Bram Stokers “Dracula”. Aufzeichnungen vermuten sein erstes Grab in der Kirche des Klosters einer Insel im Snagov-See. Als man es öffnete, fand man es allerdings leer. Das passt als Grundlage für den Vampirmythos recht gut ins Bild, denn wenn er nicht in seinem Grab liegt, könnte das durchaus bedeuten, dass er noch lebt. In Elizabeth Kostovas vielgerühmten Roman tut er das tatsächlich.

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Brouillon

Vashti Bunyan: Train Song

Tatsächlich ist die Frühe ein Schauspiel Eiter-entzündlicher Wolken, tiefliegender Bewässerung, die gestern begann und mit einem rasanten Trommelfeuer eisiger Kleinbrocken die Straße kurz in einen Bach verwandelte. Nichts gegenüber den überschwemmten Tälern, die es im Sommer in anderen Regionen gab, aber ich dachte kurz an meine Bücher im Keller. Der ist über der Waschküche jedoch höher gelegen, ungefährlich, so lange nicht das völlige Szenario einer Kapitalisten=(statt „Sint=“)Flut ausbricht. Der Sommer, der dieses Jahr ekelhaft war, neigt sich dem Ende, das ist bereits anhand von Kleinigkeiten zu spüren. Kein Freund der klimatischen Massenunterhaltung bin ich. Wollte mir um 6 nur das Wasser abschlagen, da war Albera schon auf die Gleise konzentriert -gen Klondike in der Falz – Goldmeuble abzuholen. Blieb dann aber wach, nachdem ich gestern vor lauter Hitzemigräne nicht an die Sandsteinburg konnte. Nun, es wird spät in den letzten Wochen, spät wie jahrelang nicht (ich bin doch meist zwischen 8 und 9 gestartet; jetzt wird es öfter auch 10 oder 11 weil nachts 2 oder 3). Nachher aber Flohmarkt (und Paket vom DHL, der gestern wieder mal nur einen Zettel hinterließ … ich brauche dem Post=Diener wohl zu lange, bis ich aus meiner Kemenate heruntergestiegen komme).
Zum Sandsteinburg-Soundtrack:

Die Kraft einer an sich einfachen Aussage, die ihre Wucht durch die Repetitio bekommt, wie sie ja in solchen Beispielen nicht gerade selten ist. Der Text aber wäre banal, wenn ihn nicht dieser ferne Gesang zu einem atmosphärischen Ungeheuer machen würde, ihm einen emotionalen Schub verpassen würde. Der Vortrag gibt perfekt das wieder, was der Text bedeutet, und zwar in seiner nackten Vollendung.

Travelling north, travelling north to find you
Train wheels beating, the wind in my eyes
Don’t even know what I’ll say when I find you
Call out your name, love, don’t be surprised

It’s so many miles and so long since I’ve met you
Don’t even know what I’ll find when I get to you
But suddenly now, I know where I belong
It’s many hundred miles and it won’t be long

Nothing at all in my head, to say to you
Only the beat of the train I’m on
Nothing I’ve learned all my life on my way to you
One day our love it’s over and gone

It’s so many miles and so long since I’ve met you
Don’t even know what I’ll find when I get to you
But suddenly now, I know where I belong
It’s many hundred miles and it won’t be long

Brouillon

Unübersehn

O Umzug. O nein. (Es musste so kommen.)

So kam es. Und nun ist es soweit. Weiß ich doch seit Wochen. Mit der Tschu Tschu geht’s in die Pfalz. Mit nem großen grünen Stegosaurier zurück. Den Stego vermute ich mal, da ich nur die ‚kleinen‘ Busse kenne, von dem, der ihn mir zur Verfügung stellt und wohl auch fährt. Obwohl ich das auch machen würde. Ich fahre ja hin und wieder der Arbeit wegen einen Bus. Hey Busfahrerin! Aber eben einen ‚kleinen‘, der maximal 10-15 Personen fasst. Das wollte ich mal zu meinem Beruf machen. Ist noch gar nicht so lange her, da stand das zur Debatte.

Hab‘ uns heute auf dem Viehmarkt nen 2-kg-Sack Zwetschgen gekauft. Zum Frühstück gab’s Debreziner mit Kaisersemmeln und Senf. Die Zwetschgen brauchen noch, sind noch recht fest und sauer. Bis sie zart und süß sind, bin ich wieder da. Mit Fahrrad. Um in irgendeiner Weise wieder mobil zu sein. Das Fahrrad, mit dem ich, bevor ich zu dir kam, die letzten Tage zu meiner alten Arbeitsstelle geradelt bin, vorbei an Felder, Felder und noch mehr Felder. Du hast mich zu dir geholt. Bist Tschu Tschu gefahrn. Kamst an auf Gleis 2. Mich am Ohr.

Wir übernachteten im Mannheimer Maritim-Hotel, in dessen Korridore wir uns immer wieder verliefen, das uns stark an das Overlook-Hotel erinnerte. Es schien auch genauso leer, wir beide waren um kurz vor Mitternacht die einzigen, die noch die Bar aufsuchten. Es war uns ein Haus mit einem ganz eigenem Willen, das einen vergessen macht, in welcher Stadt man ist, zu welcher Jahreszeit, zu welcher Zeit überhaupt. Solche Häuser wirken auf mich wie Uterushäuser. Die Welt herum versinkt ins Dunkel, ist nicht mehr existent, wandelt man durch solche Gänge, schläft und isst in ihnen. Abnabelung durch eine totale In-sich-Aufnahme. Wir spürten, dass wir absorbiert wurden. Waren wie in einer dickwandig ausgekleideten Blase, die die Welt nur als ein Innen kennt. Keine Sinne der Gewohnheit. Es war mir als ob ich ständig meinen eigenen Puls schlagen hörte. Meine Ohren waren wie nach innen gestülpt. Die Farben teilten sich in einer ganz anderen somatischen Sprache mit. Die Klänge hatten etwas Gedämpftes. Ähnlich: sich in eine Badewanne zu legen und die Ohren unter Wasser zu halten. Noch immer hört man etwas, aber es scheint ein Klang, eine Akkustik einer anderen Welt zu sein. Und wie Wasser mir hierfür ein Medium ist, war es auch dieses Haus, das wir beide vielleicht irgendwann in der Zukunft noch einmal besuchen werden. Doch dann mit einer Kamera.

Brouillon

Manusprickt

Noch habe ich den Katarrh und bin im Verzug mit den Sandsteinburg-Lesungen, das Manusprickt bearbeite ich jedoch ausgiebig. Der Beiname „Possenspiel“ ist jetzt das offizielle Element dieser multiplen Dampframme. Ich muss gestehen, dass ich die Sandsteinburg nie fertig zu machen beabsichtigt hätte, wenn nicht Albera seit einem Jahr die Weichen stellte. Oft hatte ich den Text in seine nahezu 1000 Einzelteile zerlegt, selbst überzeugt von der Unmöglichkeit dieses „absoluten Buches“, manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich an einen idealen Leser dachte, überhaupt an Leser, was ich mir jedoch erfolgreich wieder austreiben konnte. Es geht um Kunst und nicht um Leser. Zwei Begriffe also, die sich beißen. Man darf nicht feige sein, wenn man sein Leben ausschließlich der Literatur widmet, wenn man selbst ein Kunstwerk ist und man jegliche Grenzen schon vor Jahrzehnten überschritten hat. Aber es ist die Eger mein Rubikon. Und es ist die Sandsteinburg meine Nemesis.

Bouquinist

Der blonde Eckbert / Ludwig Tieck

Wir sollten sie kennen, die erste deutsche Horrorgeschichte, sollten verstehen, warum sie es ist, und weshalb sie viele andere Autoren und ihre Geschichten, die folgten, beeinflusste. Wir sollten wissen, was an diesem urdeutschen Horror das Eigene und Unheimliche ist, um was für ein Gespür es sich handelt, das sich im Laufe der Jahrhunderte hierzulande innerhalb der schreibenden Zunft weitestgehend verflüchtigt hat. Es ist ein Bewusstsein, das die Denk- und Arbeitsweise von C. G. Jung und Sigmund Freud wesentlich mitbestimmte, ein Bewusstsein, das wieder erwachen will, im Gedenken einer vergangenen Kultur, die ihre mystische Natur lobpreiste, die, anstelle von Verstand und Logik, das Gefühl, die Sehnsucht und die Liebe des Menschen in den Vordergrund stellte.

Bereits 1796 in „Märchen aus dem Phantasus“ zum ersten Mal veröffentlicht, erschien Der blonde Eckbert nur ein Jahr später in der von Ludwig Tieck selbst herausgegebenen Sammlung „Volksmährchen“ erneut. Wie viele der Geschichten, die bereits im „Phantasus“ erschienen waren und von ihm überarbeitet wurden. Tieck, der sich, neben dem Berliner und Heidelberger Kreis, auch dem Jenaer Kreis der Frühromantiker anschloss, agierte damals noch unter dem Pseudonym Peter Leberecht. Als Kunstmärchen wird es uns vorgestellt und nicht selten sogar als das Werk gehandelt, das den Beginn der Romantik einläutete.

Der blonde Eckbert

Wir lesen von einem kinderlosen Paar, das zurückgezogen im Harz lebt. Wir lesen vom Ritter Eckbert und seiner Frau Bertha. Von Zweien, die nur gelegentlich Besuch von Walther erhalten, seinerseits ein Ritter, mit dem Eckbert eng befreundet ist. Eines Abends, als dieser wieder einmal in ihrem kleinen Schloss zu Gast ist, fordert Eckbert seine Frau auf, ihm die Geschichte ihrer Jugend zu erzählen. Eckbert vermutet, es würde eine Freundschaft noch mehr festigen, lege man sich offen, enthülle man all seine Geheimnisse. Bertha folgt dieser Aufforderung und beginnt am Feuer des Kamins ihre Geschichte mit den Worten:

… haltet meine Erzählung für kein Märchen, so sonderbar sie auch klingen mag.

Es folgt eine Binnenerzählung, die Schilderung von Berthas Jugend. Sie erzählt, wie sie ihren Eltern zu nichts nutze war, da sie über keinerlei Fertigkeiten verfügte, die ihrer bettelarmen Familie Geld ins Haus gebracht hätten. Wie ihr Vater, ein Hirte, sie dafür tadelte und bestrafte. Weshalb sie es eines Tages nicht mehr aushielt und im Alter von acht Jahren in die Welt floh, durch Wälder, felsige Landschaften und Dörfer, bis sie in einen Wald gelangte, in dem sie einer alten Frau mit Krückstock begegnet, die sie mit in ihre Hütte nimmt, in der sie mit einem Hund und einem Vogel zusammenlebt. Die Alte unterweist sie im Führen des Haushalts, der Versorgung der Tiere und im Spinnen. Auch lehrt sie Bertha das Lesen. Zwar kommt sie Bertha immer wieder sonderbar vor, doch es geht ihr gut bei ihr. Und auch ihr wunderschöner Vogel ist ein seltener, da er Eier legen, in denen sich Perlen oder Edelsteine befinden, und ein Lied singen kann, das wie folgt lautet:

Waldeinsamkeit, Die mich erfreut, So morgen wie heut In ewger Zeit, O wie mich freut Waldeinsamkeit.

Tag um Tag, Jahr um Jahr vergeht in dieser trauten Einsamkeit des kleinen Familienzirkels. Die Alte, die immer häufiger tagelang unterwegs ist, nennt sie mittlerweile Tochter oder Kind. Von der Fremde in den Büchern angestachelt, keimt in dem Mädchen der Wunsch, sich die Perlen und Edelsteine zu nehmen und in die Welt zu ziehen, obgleich sie sich glücklich unter diesem Dach vorfindet. Auch phantasiert sie von einem schönen Ritter, den sie sich als den ihren erträumt. Ihre Quasimutter warnte sie noch mit den Worten: „Du bist brav, mein Kind! … wenn du so fortfährst, wird es dir auch immer gut gehn: aber nie gedeiht es, wenn man von der rechten Bahn abweicht, die Strafe folgt nach, wenn auch noch so spät.“ Doch es hilft nichts, Bertha bindet den Hund fest, nimmt sich ein paar der Edelsteine, wie auch den Käfig samt Vogel und verlässt, sechs Jahre später, das Haus. Sie irrt durch Wälder, lässt Berge hinter sich, leidet Hunger und reut, gelangt jedoch nach einiger Zeit in ihr altes Dorf. Freudig will sie ihren einstigen Eltern nun den Reichtum bringen, den sie erbeutet hat, jedoch wird ihr mitgeteilt, dass diese bereits gestorben sind. Traurig darüber kauft sie sich in einer Stadt ein kleines Haus mit Garten und eine Bedienstete. Mehr und mehr vergisst sie die Alte und auch der Name des Hundes, den sie so oft gerufen hatte, will ihr überhaupt nicht mehr einfallen. Als der Vogel jedoch eines Tages wieder anhebt zu singen, ist es das Lied von einst, allerdings verändert:

Waldeinsamkeit Wie liegst du weit! O dich gereut Einst mit der Zeit. – Ach einzge Freud Waldeinsamkeit!

Bertha reut ihre Entscheidung, weggegangen zu sein, endgültig. Die Gegenwart des Vogels ängstigt sie nun, da er auch sein Köpfchen immer zu ihr dreht, und so drückt sie ihm kurzerhand die Kehle zu und begräbt ihn im Garten. Aber auch die Aufwärterin wird ihr nun verdächtig, sie fürchtet, sie könne sie irgendwann ausrauben und ermorden. Bertha heiratet einen Ritter, den sie schon einige Zeit kennt. Es ist Eckbert.

Walther bedankt sich für diese Geschichte und merkt an, dass er sich Bertha mit dem seltsamen Vogel gut vorstellen könne und wie sie den kleinen Strohmian füttert. Beide gehen zu Bett. Nur Eckbert geht in seinem Zimmer auf und ab, und fragt sich, ob sein Freund sie nun verachtet. Jede Handlung, jeder Ausdruck Walthers, der am nächsten Tag das Schloss verlässt, ist ihm von diesem Zeitpunkt an suspekt. Bertha, die seit der Nacht krank im Bett liegt, bestätigt ihren Mann in seinen Zweifeln, indem sie ihn darauf hinweist, dass Walther den Namen des Hundes wusste, der ihr längst nicht mehr einfiel. Woraufhin Eckbert, von seinem Wahn geplagt, seinem Freund einige Zeit später im Wald beim Sammeln von Moos begegnet und ihn mit einer Armbrust erschießt. Als er zum Schloss zurückkehrt, ist seine Frau bereits verstorben. Vor lauter Einsamkeit, die ihn erwartet, bereut Eckbert seine Tat und versucht sich durch Besuche von Festen ein wenig abzulenken. So lernt er den Ritter Hugo kennen, mit dem er bald eine enge Freundschaft pflegt, wie er sie auch mit Walther hatte. Wieder verspürt er das Gefühl, sich seinem Freund öffnen zu müssen. Und er tut es, obwohl ihm unwohl dabei ist. Er erzählt ihm die ganze Geschichte, von Bertha und von Walther, und dass er ihn getötet hat. Hugo spricht ihm zu, doch Eckbert fühlt sich an Walther erinnert, erkennt von da ab auch in Hugos Verhalten das ablehnende und hämische seines ehemaligen Freundes. Wut und Entsetzen packen ihn, weshalb er flieht und nach vielen Irrwegen wieder nach Hause findet. Halb wahnsinnig und von entsetzlichen Gedanken geplagt, die ihm das Rätsel der Geschehnisse nicht enthüllen, beschließt er zu Pferd eine Reise zu machen, um sich wieder ordnen zu können. Ziellos irrt er durch die Lande, findet sich in einem Gewinde von Felsen wieder, bis er endlich einen alten Bauern trifft, der ihm einen Weg hinaus zeigt. Und auch bei diesem bildet sich Eckbert ein, es könne Walther gewesen sein, da er seine Münzen, die er ihm zum Dank geben wollte, ausschlug. Durch Wiesen und Wälder reitet er sein Pferd zugrunde, setzt seinen Weg zu Fuß fort, bis er träumend einen Hügel hinaufsteigt, von dem aus er ein Bellen vernimmt, wie auch ein Säuseln der Birken. Ein Lied mit wunderlichen Tönen dringt an sein Ohr:

Waldeinsamkeit Mich wieder freut, Mir geschieht kein Leid, Hier wohnt kein Neid, Von neuem mich freut Waldeinsamkeit.

Eckbert glaubt sich nun endgültig wahnsinnig. Er weiß nicht ob er träumt oder wacht, kann das Rätsel nicht lösen. Gibt es Bertha überhaupt? Seine Erinnerungen sind keine zuverlässige Quelle mehr. Hustend schleicht die Alte mit ihrer Krücke dem Hügel entgegen. „Bringst du mir meinen Vogel? Meine Perlen? Meinen Hund?“, schreit sie Eckbert entgegen. „Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst: Niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo.“ Der Ritter erkennt seine entsetzliche Einsamkeit. Die alte Hexe fügt hinzu: „Und Bertha war deine Schwester. Warum verließ sie mich tückisch? Sonst hätte sich alles gut und schön geendet, ihre Probezeit war ja schon vorüber. Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ, die Tochter deines Vaters.“ Eckbert liegt am Boden, ruft: „Warum hab ich diesen schrecklichen Gedanken immer geahndet?“ „Weil du in früher Jugend deinen Vater einst davon erzählen hörtest; er durfte seiner Frau wegen diese Tochter nicht bei sich erziehn lassen, denn sie war von einem andern Weibe“, gibt sie ihm zur Antwort. Eckbert stirbt unter den Worten der Alten, dem Bellen des Hundes, während der Vogel sein Lied wiederholt.

Tieck, der Wald und die Waldeinsamkeit

Tieck, der als junger Mann noch unter den Fahnen der Aufklärung schrieb, versuchte bald, als Ergebnis eines inneren Aufbruchs, sein Werk unter dem Anspruch eines neuen hohen Ideals keimen und entstehen zu lassen. Und wie wir wissen, gelang es ihm. Von allen gelesen, beeinflusste er vehement das Denken und Schreiben, ganz allgemein die Kunst seiner Kollegen. Durch seine Bearbeitung der alten deutschen Volksbücher und -märchen (etwas, das den Aufklärern nicht im geringsten einfiel, da sie diese dem irrationalen Aberglauben zuordneten) versuchte er nicht nur Gedächtnisse von Jahrhunderten zu bewahren, sondern mehrte auch sein Wissen über die Lebensweisen der damaligen Zeiten.

Mit Der blonde Eckbert präsentiert er typische Motive der Romantik. Die Sehnsucht, das Geheimnisvolle, der Abgrund und das Grauen sind allgegenwärtig in diesem Kunstmärchen. Der Wald, der in seinen Werken den wichtigstigsten Akteur stellt, dient ihm hier, wie auch in vielen anderen Märchen und Novellen, als subjektive Seelenlandschaft, die – anders in seiner Lyrik – häufig dunkel und dämonisch durchtränkt ist. Dennoch erfahren wir hier die Protagonisten des Waldes (die Bäume) auch als schwärmerische, säuselnde und verzaubernde. Und so ist der Wald bei Tieck nicht einfach dem städtischen Leben gegenüberzustellen, obgleich er doch, wie in dieser Geschichte, eine sehr eigene und individuelle Existenz nachzuzeichnen vermag. Was nicht verwundert, bedenkt man, dass Tieck selbst das Stadtleben sehr genossen hat, konnte er doch, vor allem in den Großstädten, mit Gleich- und Andersgesinnten über die Künste diskutieren. Pantheistisch und traumkonnotiert sind Tiecks Wälder. Denkt man bei Klopstock vor allem an Eichen, sind es hier die Birken, die verführen. Und so tritt Bertha mit dem Verlassen ihres Elternhauses in eine Sphäre des Magischen und Schicksalhaften ein (das typisch romantische Wanderschaftsmotiv wird hierbei vom Hänsel-und-Gretel-Motiv eingeleitet). Doch was lernt sie, und später auch Eckbert, kennen? Ist es die Natur ihres Wesens, oder ist es das Wesen der Natur, zu dem auch sie zu zählen sind? Klar ist: Die Emphase des in ihr Wandelnden wird ihr, der Natur, auszudrücken zugedacht. Daher sind es auch keine Naturlandschaften, die wir da draußen so vorfinden würden, würden wir sie mit den vorkommenden abzugleichen versuchen. Die wilden Felsen traten immer weiter hinter uns zurück, wir gingen über eine angenehme Wiese, und dann durch einen ziemlich langen Wald. Als wir heraustraten, ging die Sonne gerade unter, und ich werde den Anblick und die Empfindung dieses Abends nie vergessen. In das sanfteste Rot und Gold war alles verschmolzen, die Bäume standen mit ihren Wipfeln in der Abendröte, und über den Feldern lag der entzückende Schein, die Wälder und die Blätter der Bäume standen still, der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes Paradies, und das Rieseln der Quellen und von Zeit zu Zeit das Flüstern der Bäume tönte durch die heitre Stille wie in wehmütiger Freude. Meine junge Seele bekam jetzt zuerst eine Ahndung von der Welt und ihren Begebenheiten.

Die Idealisierung des Waldes, die den, im Zuge der Modernisierung, damalig häufig gepflanzten Nadelholzmonokulturen entgegensteht, erschafft dem Menschen einen sog. locus amoenus (hier das Birkental mit der Hütte der Alten), der ihm zum Idyll, zu einer Sehnsuchtslandschaft sondergleichen wird. Der von Tieck geprägte Begriff der „Waldeinsamkeit“ erfährt mit diesem Naturmärchen an großer Bekanntheit. Weitere mit der Natur verschränkte Wortschöpfungen folgen, wie z.B. die „Bergeinsamkeit“.

Schicksal und Inzest

Der umherirrende Mensch, der durch den locus terribilis (hier besonders die Felsenlandschaften) flieht, der bald nicht mehr weiß, wie ihm geschieht, der nicht weiß, ob er träumt oder längst dem Wahnsinn anheimgefallen ist, dient vielleicht sogar der Natur als Projektionsfläche, die ihn träumt, die sich an ihm und durch ihn vollzieht. Denkbar, nehme ich das Inzestmotiv in Augenschein, das mir am Ende den frühen erzählerischen Sog dieser Geschichte erklärt, die wir selbst als Geschichte in einer Geschichte erfahren. Denn beide, Bertha wie auch Eckbert, sind fortwährend damit beschäftigt, ihre Geschichte einem Nächsten zu erzählen, in der Hoffnung, Verständnis für ihr Handeln zu erfahren, das ihnen selbst weitestgehend unerklärlich und schicksalhaft bleibt. Gehuldigt wird damit dem sog. Freundschaftskult, der ganz besonders den Romantikern ein Begriff war. Naiv und unschuldig sind die beiden gezeichnet, trotz ihrer moralisch verwerflichen Handlungen. An das Gute glaubend, auf Erfüllung hoffend, öffnen sie sich der Welt und ihren Gästen.

Doch sogleich sie dies tun, gewinnt der Zweifel die dunkle Oberhand. Ihr einsames Glück scheint sofort bedroht. Schuldgefühle, wie die von Bertha, da sie die Alte beraubt und verlassen hatte, werden an die Oberfläche gespült. Auch scheinen beide seit je her ihr dunkles Schicksal zu ahnen. Bertha, die mit Beendigung ihrer Jugendgeschichte und dem Wiedereinsetzen der Rahmenhandlung erkrankt, stirbt sogar an ihren Schuldgefühlen, die sie zuvor lange verdrängt hatte. Walther wird zum Verhängnis, dass er Bertha gegenüber äußert, er könne sich gut vorstellen, wie sie den kleinen Strohmian füttert. Die Nennung des Namen des Hundes (der Hund als Treuemotiv), den sie lange vergessen hatte, erschüttert sie in ihrer Sicherheit. Woher konnte Walther ihn wissen? Eckbert, der daraufhin seinen Freund im Wald mit einer Armbrust tötet, will ihn bald in jeder ihm begegnenden Person wiedererkennen, so auch in Hugo und dem alten Bauern. Ähnlich wie Bertha einst, verlässt er sein Heim und irrt durch die Lande und Wälder. Bis er, sich seiner Wahrnehmung nicht mehr sicher, zu dem Hügel gelangt, auf dem Bertha einst stand und auf ihr neues Zuhause herabblickte. Schreiend kommt ihm die Alte entgegen, die nach ihren Tieren und Edelsteinen ruft, nach Bertha und warum sie sie so tückisch verlassen hat. Ein die Seele terrorisierender Horror, bedenkt man, dass, während sie auf ihn einspricht und ihm die Wahrheit über Berthas Herkunft verkündet, der Hund bellt und der Vogel (der Vogel als Seelenmotiv) sein Lied singt. Eine klangliche Zuspitzung, die der malerischen dramaturgisch in die Hände spielt. Was seiner Frau einst eine Idylle war, ist Eckbert düster und todbringend. Als müsse das Unheil ihrer Liebe gesühnt werden. Als hätte es niemals unter einem guten Stern stehen können, obwohl sich beide tief verbunden zueinander fühlten, ihr eigenes Idyll, seit ihrer Begegnung und Heirat, leben konnten. Als wären sie Adam und Eva in ihrem Paradies gewesen, das ihnen, aufgrund dessen, dass sie Halbgeschwister waren, nicht zugedacht war. Und doch bleibt zu fragen, ob es nicht genau deshalb eines auf Zeit sein konnte, da die Liebe, die Natur ihren Willen forderte, beide zueinanderfinden ließ. Die Alte, die Eckbert gegen Ende wie eine Rachegöttin entgegentritt, erinnert stark an eine Erd- und Totengöttin wie Hel eine ist. Sesshaftigkeit verlangte sie von dem Mädchen, nicht vom Wege abzukommen riet sie ihr, statt vom Fernweh getrieben neugierig in die Welt zu treten, da sich sonst ein Unheil vollziehen würde. Prophetisch wurde das Heim als heiler Ort von ihr verkündet, als eine Idylle, in der der Mensch keinen Versehr erfährt, solange er sich der Neugier verweigert, passiv bleibt, die Dinge geschehen lässt, ohne sie selbst aktiv in die Hand zu nehmen. Verstörend und enorm sehnsuchtsvoll ist dieses Horrormärchen, das die Grenze zwischen Wahn und Realität, Traum und Wirklichkeit auf eine dunkle, tief schauerliche Weise verwischt. Hell und inniglich sind mir die beiden Hauptprotagonisten, Eckbert und Bertha (die sich auch namentlich ähneln), dennoch in ihrem Bestreben glücklich zu sein, die Welt im Kleinen an ihrer Geschichte teilhaben zu lassen, auch wenn dies nicht gelingt. Ein psychologisch herausragener Stoff, der dem Wahnsinn ganz eigene kraftvolle Landschaften wirkt, unter deren Oberflächen sich Dunkles verbirgt: eine blinde Natur, die sich im Menschen offenbart, der die Natur seines eigenen Willens entwickelt. Ein zeitlos mystischer Horror, der zeigt, wie unergründlich und unhintergehbar unser Dasein ist.
Brouillon

Kühleborn, ein Quantenpoet und eine Ogerin im Elfenkostüm

Obwohl ich nun abgrundtief müde bin, bin ich wohl für den Rest des Tages glücksselig. Hatte meine Freude euch beide zu beobachten, dich und Schwarzertd, wie ihr von Anfang an, ohne große Scheu und allzu vorsichtiges Tasten nach dem Anderen, in den Diskurs miteinander gegangen seid. Zum Schluss saßt ihr gar dicht beieinander. Zwei am Tisch auf einer Gerade. Und habt mich stets angegrinst. Erreichtet den Höhepunkt als ihr gemeinsam vor deinem Bücherregal standet und beide einen Arm ausstrecktet, nach einem Werk Arno Schmidts zu greifen. Hätte ich heimlich eine Kamera laufen lassen, hätte ich nun einen Mitschnitt eines literarischen Duetts wie ich es allenfalls noch erlebe, habe ich eines mit dir oder mit ihm. Etwas, das bei den ollen Qua(r)kquartetten in der Flimmerkiste unter ferner liefen läuft. Denn liefe das, müsste man sich eingestehen, this, was da heute gesendet wird: goes not! Geht aber doch: Etwas, das, bin ich gerade lull und lall, und auch nur dann, höchstens noch schabernackig auf mich wirkt. Doof und halbseiden. Grotesk aufgrund der ernsthaften Miene, mit der man vorträgt, was man von sich und dem Leseerlebnis zu berichten hat.

Ich hatte Schwarzertd seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, nur hin und wieder mit ihm telefoniert. Und nun, da er sich gerade aus beruflichen Gründen in München aufhielt, hat er die Gelegenheit genutzt, uns zu besuchen. Seine Stimme hörte sich zum ersten Mal anders für mich an, was nur daran lag, dass er die letzten Tage beim Schreiben viel geraucht hat. Wie ein Schlot wohl. Was in früheren Zeiten doch eher mein Part war. Früher. Denn ich rauche ja nicht mehr. Brenne nur noch. Früher. Das meint Heidelberg, als wir uns kennengelernt haben. Ich erinnere mich, wir nahmen beide den selben Bus. Ich saß hinten. Er stand am Fenster in der Mitte. Schaute mich länger an, lächelte. Ich hingegen, ich war aus irgendeinem Grund, den ich nicht mehr erinnere, bräsig, schaute böse zurück. Dumme Nuss! Aber zum Glück gab das Schicksal mir eine zweite Chance. Denn kurze Zeit später stellte sich heraus, wir besuchten die gleiche Gastvorlesung. Und so sprach er mich noch einmal an, als wir im Anschluss mit anderen noch eine qualmten. Andere. Das meint eine kleine Gruppe, die wir später den harten Kern nannten. Sonstige habe ich vergessen. Was wohl sehr daran liegen mag, wie ich mein Studium verfolgt habe. Heidelberg. Das erinnert mich an diese Freundschaft, die eine tiefe ist. An lange Tage und Nächte mit Schwarzertd. Verbrachte Zeit: nicht selten bis in den morgendlichen Duft der Bäckerstuben hinein.

Und so waren wir heute für ein paar Stunden zu dritt.