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Schlagwort: Brouillon

Ein Verbrechen in der Nacht

Was immer der Kriminalroman ist – das Unheimliche, das Böse, das Verbrechen, das Rätsel – beherbergt er wohl aller Menschen Los. Was aber, wenn einmal kein Verbrechen geschieht? Dann ist die Fiktion immer noch ein Rätsel, mehr als es das Leben ist. Und vielleicht ist schon mit aller Existenz ein Verbrechen im Gange, nur gelöst werden kann es nicht.

Zur Nacht – ich mag an einer bestimmten Stelle der Nacht Müdigkeit empfinden – aktiviert sich das Nachtgehirn, das sich ganz und gar von dem des Tages unterscheidet. Vielleicht tritt es gerade durch die Erschlaffung der körperlichen Funktion hervor. Ich ging auf und ab vor meiner Bücherwand; gehe ich nahe an sie heran, sind es viele, trete ich etwas zurück, bemerke ich vor allem das Fehlen jener Bücher, die noch nicht da sind. Dieses Fehlen fällt mir auf, weil noch Wand zu erkennen ist. Ich habe Mühe, die Nacht zu verschlafen – ein Traum ist ja nicht garantiert. Eine Nacht ohne Traum währe allerdings vertan, also muss der Ersatz, der sichere Ersatz, die Lektüre sein. Nicht das lineare Zeilenfolgen, sondern das Fliegen durch auffällige Bände, die sich anbieten durch ihr leichtes Vorstehen, das Durchbrechen der sauberen Linie.

Fress-Flanke

Früh zermürbte uns der Druck, der die Seele der Familie bereits fremd machte. Wir durften nicht einmal in unserem Zimmer in die Hose scheißen und die Kackwürste dann unter das Bett werfen. Darob hab ich mir erneut an der linken Fress-Flanke, die den Kopf meint, einen Zug bei nachtoffenem Fenster geholt. Leicht nur; diesmal wirbelts von der Schläfe herunter. Beete klavierte seine fünfte tags und nachts. Mein Mantel entleimt sich und muss eventuell gegen ein neues Exemplar weichen.

Zeitskala

Zerrissenheit ist ein etwas schäbiges Wort für gelebten Polyismus, aber gar nicht so sehr willentlich. Poesie ist eine Art völligen Denkens, gesättigt sozusagen an unendlich vielen Substanzen. Das Zukünftige, das ich zuerst schreibe, das Gegenwärtige, das ich danach schreibe und das Vergangene, das ich zum Schluss schreibe, kehrt die Zeitskala gar nicht so sehr um.

Dass sich hinter meinem Rücken selbst viele Rätsel aufgestaut haben

Mir sind jene Geschichten lieb, in denen jemand nach seiner verlorenen Vergangenheit sucht. Herausgefunden habe ich diese Vorliebe für diese spezielle Form der Queste, als ich vor Jahrzehnten Tabucchis Indisches Nachstück las. Es war mir stets ein Ereignis, von einer melancholischen Vergesslichkeit zu träumen, die unmittelbar auf die Vergänglichkeit verweist.

Der wohltemperierte Gong

Zeit sei kein Ort, hörte ich es sagen; wohl wusste der Sprecher nicht, dass Zeit von Raum nicht zu trennen ist, und dass selbst Raumklang eine Verortung in der Seele erfährt. Seit heute ist ein weiterer Schritt im Projekt „Zurück in das Wahre und Gute“ getätigt (denn alles Gegenwärtige und Künftige ist mehr oder weniger eine Kloake).

Eine Kaminuhr des Uhrenherstellers Mauthe aus dem Schwarzwald, manifestiert in den 50er Jahren, gesellt sich nun zum Wesentlichen und bildet besagten Raumklang durch sein konstantes Schwingen und sein halb- und stündliches Schlagwerk.

Kutschen- und Lampenzeit

Auf keinen Fall dürfen wir die Handschrift verlieren, die uns so eine persönliche Note verleiht, nämlich in dem, was wir wirklich denken. Gedacht wird, möchte ich sagen, mit der Hand. Dass bereits eine Schreibmaschine von selbst arbeitet, ist bekannt. Julien Gracq war es, der seine Lektüre stets mit dem Stift begleitete, und so nannte er eines seiner Bücher „schreibend lesen“.

Selbst lese ich gerade den dritten Band von David Morrells De Quincey-Trilogie, und was ich darin unter anderem finde, ist eine Zeit in der Schwebe, eine Kutschen- und Lampenzeit. Im Kern der viktorianischen Epoche fühle ich noch alles Rätselhafte des Überlebens, das Neue allein an der Inbetriebnahme der Eisenbahn. Bei solchen Romanen ist es mir, als ginge ein Ducken damit einher, denn man darf sich nicht frontal von dem treffen lassen, was wir als unsere Gegenwart bezeichnen.

Sitwell nicht zu übersetzen

Von einigem Interesse scheint mir zu sein, dass jene, die sich gegenwärtig ins Nichts zurückgezogen haben, auch in der Vergangenheit tot sind. Es wäre leicht zu beweisen, uns aber fehlt die Finesse, die Vergangenheit durch unser Schattenauge losgelöst anzusehen, weshalb wir sie überhaupt erst erfinden. In der Erfindung sind wir lebensklug, wenn nicht gerade akribisch darin, jedes Teilchen dorthin zu legen, wo es zwar nie gewesen sich für unsere heutigen Augen gut ausmacht.

Kurz zog ich in Erwägung, einige Gedichte von Edith Sitwell zu übersetzen, aber von derartigen Vorhaben muss ich Abstand nehmen, das wurde mir bereits bei Eric Basso klar, dem ich dasselbe Vorhaben zukommen lassen wollte. Sitwell und Basso sind nun nicht miteinander zu vergleichen. Ich erwähne sie nur in einem gemeinsamen Satz, weil sie mich persönlich vor die gleichen Probleme des Mikrokosmos stellen, dem ich selbst genug schon zuarbeite, als dass ich durch Übersetzung eine neue Position einnehmen könnte.

Edith Sitwell war das ultimative Schaustück der Exzentrikerin in einer Zeit, die überdurchschnittlich viele davon hervorbrachte. Das mag daran liegen, dass sie aus einer notorisch exzentrischen Familie stammte – einer Familie, zu der eine Mutter gehörte, die wegen Betrugs im Holloway-Gefängnis saß, und ein Vater, der eine kurze Geschichte der Gabel und eine Geschichte der Kälte publizierte und eine Pistole zum Erschießen von Wespen erfand. Sie ging weit über das Bild der schrulligen, aber liebenswürdigen Landedelfrau hinaus.

In erster Linie war Sitwell natürlich eine Dichterin, eine Säule des künstlerischen Lebens in London und verkörperte eine heute allgemein unterrepräsentierte Seite der Moderne. „Guter Geschmack ist das schlimmste Laster, das je erfunden wurde“, sagte sie, stets im Widerspruch zu den herrschenden Geschmacksvorbildern, ob diese nun dem Establishment oder der Avantgarde angehörten.

Heute morgen noch schnell ein Stück meines Fingers abgeschnitten

Heute morgen noch schnell ein Stück meines Fingers abgeschnitten und Heißa, bald ist Weihnacht da. Gestern schon gepackt, Destination: Pfalz. Das Problem wird nachher wieder sein, mit dem miesesten Unternehmen der Welt konfrontiert zu werden: der Bahn. Könnte ich es mir aussuchen, würde ich lieber einen Bus im Kongo wählen, aber diese Wahl haben wir zum Leidwesen nicht. Unglücklicherweise ist es meine Schreibhand, die verletzt ist, und so muss mir Albera nicht nur beim Kochen, sondern auch beim Schreiben assistieren, so kann ich mich gleich im Diktat üben.

Wer es sich wünscht, von uns bewünscht zu werden, dem sei eine vollendete Weihnacht!

Mir ist das Weihnachtsfest noch immer das liebste

Reishi-Ling-Zhi. Erster Tag. Pilze sind coole Kumpels.


Gestern noch The Witcher auf Netflix durchgesehen. Eine sehr durchwachsene Angelegenheit, die mehr aus den Sapkowski-Büchern hätte machen müssen.


Mir ist das Weihnachtsfest noch immer das liebste, aber es ist ein Weihnachtsfest des Erinnerns an eine höchst persönliche Zeit, die dann auf die ganze Welt ausgeweitet wird, weil man die ganze Welt ja selbst beschreibt und dirigiert. Dabei ist das religiöse Gefühl unerheblich, denn vieles mag ich schon gewesen sein, aber ein Atheist niemals; nun muss ich hinzufügen, dass mich die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Göttlichkeit innerhalb menschlicher Religionsformen nie interessiert hat. Ich mag ein Heide sein, aber ich weiß durchaus, dass der Katholizismus das Heidentum aufgesaugt hat, und wer die Codierung lesen kann, der findet darin alles konserviert vor. Um aber auf das Weihnachtsfest zurückzukommen: es ist in sich weder ein heidnisches noch ein christliches Fest, sondern ein romantisches, und wenn man etwas weiter ausholen möchte, sogar ein römisches, denn es ist das Datum der Saturnalien. Während Halloween das unheimliche Fest ist (wenn man den westlichen Karneval herausnimmt), ist Weihnachten das heimliche Fest jeglicher Erinnerung, eine Rückkehr in die Kindphase der Seele.