Misst man die Resonanz einer Veröffentlichung an den Verkaufszahlen, hat man sich bereits vom Kern der Literatur entfernt, misst man sie an den Rezensionen, begreift man die Distanz zwischen sich und der Welt, wobei eine Besprechung – wie auch immer geartet – im günstigsten Fall eine Mittlerfunktion einnimmt. Das Problem wird immer sein, sein Zielpublikum zu erreichen, darin liegt überhaupt die Schwierigkeit. Meist steht ein Verlag bereits für ein bestimmtes Feld und die Leser wissen das. So ist es leicht zu erklären, warum Autoren sich bereits mit Schubladen im Kopf generieren lassen und man so von Verlagsseite später keine Mühe mehr hat, das korrekte Register zu ziehen. Seit den 60er Jahren – als es noch eine freie Literatur gab – ist dadurch all diese fließende Freiheit vernichtet worden, der miserable Zustand unserer Literaturen wird dadurch verstehbar.
Ich habe mich in der Vergangenheit gegen den Ausdruck „experimentelle Literatur“ gewehrt, aber alle anderen Begrifflichkeiten führen nur noch mehr in die Irre. Als Konzept muss die experimentelle Literatur für den deutschen Raum als Verloren gelten, vor allem deshalb, weil er verwirrt und zu Missverständnissen führt. Tatsächlich ist neben der Mainstream- und der Genre-Literatur das experimentelle (oder besser: konzeptuelles) Schreiben die dritte große Strömung. Verwirrung und Missverständnis sind das Ergebnis unselbständigen Denkens – und tatsächlich kann man das in der Mainstream/Genre-Literatur leicht beobachten. Die experimentelle Literatur hingegen löst diese Missverständnisse eher auf als dass sie dadurch herbeigeführt werden. Andererseits ist die Verwirrung nicht selten prophylaktisch – sie verhindert buchstäblich das Vordenken und die Reproduktion von Erzählformeln.
Nehmen wir das Genre „Kriminalroman“, ein Genre also, dass es darauf anlegt, seine verordneten Rätsel aufzulösen. Es kann kaum davon gesprochen werden, dass es hier zu einer Verwirrung kommt. Bei der „experimentellen Literatur“ aber scheint es eine Verwirrung deshalb zu geben, weil dort die Rätsel nicht aufgelöst werden, sondern auf unbestimmte Denkmodelle angelegt sind. Der Leser wird nicht für grundsätzlich dumm gehalten, sondern aufgefordert, weiterzudenken. Das ist natürlich bei dem gegenwärtig zu beobachtenden mentalen Zustand der Leserschaft ein Unding, das Denken ist grundsätzlich auf den Hund gekommen (wie es ja auch die Umgangsformen sind). Das Experimentelle hat immer den Antrieb der analytischen Ästhetik. Bleiben wir beim Krimi, kann dort das Experiment so aussehen, dass man sich ihm sich so nähert, dass die philosophischen Fragen nach seinen Schrecken, den Traumata, Geschlecht oder Macht, ausgetrickst beziehungsweise auf die Ebene der Form gehoben werden. Dadurch wird die Metaphysik des Genres gesteigert.
Betrachten wir die Herkunft des Wortes „schreiben“ , stoßen wir auf die Begriffe „schnitzen, ritzen, schneiden“. Begrifflichkeiten in ihrer ganzen Disambiguität – teilweise bis zur Erschöpfung – zu erforschen, um zu sehen, was es damit auf sich hat und wohin das führt, ist eine der Kardinalitäten der Dichtung überhaupt. Es ist eben keineswegs so, dass eine ästhetische emotionale Erfahrung eines Ortes, einer Stimmung oder der Atmosphäre notwendigerweise an eine Erzählung geknüpft sein müssen. Hinter den offensichtlichen Raum zu gelangen, bedeutet nicht, den implementierten Assoziationsketten zu folgen.
Wenn in einigen von Becketts Schriften Charaktere äußern, dass sie Sprache als unkommunikatives Geräusch erleben, offenbart diese Abgrenzung der sinnlichen Erfahrung vom Kontext den Geist, der in allem wirkt. John Cages Verschmelzung von Theorie und Praxis, seine Umsetzung des Zufalls als Partitur, bietet ein Modell für experimentelle Prozesse in allen Künsten. All dies führt zurück zu der Aussage, dass „experimentelles Schreiben“ eben nicht verwirrend ist, sondern aufschlussreich und klärend sein kann.