Brouillon

Alibert

Seit heute Nacht drängt es mich wieder zur Maschine (ich werde zu einem späteren Zeitpunkt noch etwas zu meiner Schreibmaschinensucht erläutern). Einerseits ist bei mir nicht selten genug die Sprache selbst der Protagonist des Phantastischen, andererseits leide ich dadurch unter der Nivellierung dessen, was man in Deutschland Literatur nennt. Ich habe mein ganzes Leben in den Dienst der Sprache gestellt und mir oft genug die Frage gestellt, ob ich das besser nicht getan hätte. Eine Wahl hatte ich aber nicht.

Vor einem Jahr: 
Die erste Erzählung, die ich jemals verfasste, habe ich nicht aufgeschrieben, weil es eine Erzählung ist, die so oft passiert, im Badezimmer, wenn man die Türchen des Spiegelschranks so stellt, dass man selbst sich bis in die Unendlichkeit hinein vervielfältigt. Aber wem ist in diesem Augenblick schon bewusst, dass dies nicht nur das Prinzip alles Kunst ist, sondern das Rätsel der gesamten Existenz.

Bouquinist

Zementartiger Quarkkuchen

Lesetechnisch bleibe ich weiter bei Ricardo Piglia, „Ins Weiße zielen“ und „Falscher Name“ (letzteres ist mir in der Schweiz abhanden gekommen. Und danach dann den Erzählband „Der Himmel“ von Nona Fernández, deren Kurzroman „Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ mir bereits genau jenes Gefühl verschaffte, auf dem ich in jeder Literatur auf der Suche bin. Weil sich das zeit- und länderspezifisch nicht umreißen lässt (außer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, da finde und suche ich auch nichts), ist das ein schwieriger Prozess, der nicht durch eine Verschlagwortung abgekürzt werden kann. Von äußerster Wichtigkeit ist das, was Massimo Bontempelli 1927 eine „nouvelle atmosphère“ genannt hat, abgeleitet von einem Denken in Bildern, das kein Verhältnis zur linear geordneten Zeitvorstellung kennt. Gerade in Europa ist das Denken in eine eklatante Katastrophe geraten, mit dem die tiefen Schichten der Wirklichkeit schon lange nicht mehr erfasst werden können.

Obwohl der Tisch, an dem ich schreibe, regelmäßig wie ein Stall abgesprüht und ausgemistet wird, bleibt der kardinale Saustall stets die Konstante. Um 11 der letzte Arzttermin für diesen und nächsten Monat, zur Feier gab es einen zementartigen Quarkkuchen, der die Speiseröhre in einen gut betonierten Abwasserkanal verwandelt.

Brouillon

Neuheiß

nun es also so ist, dass mich die hitze in den raum zwingt, diesen nicht zu verlassen zwingt. Ich kann also das haus nicht verlassen und selbst innen ist es gefährlich, nur minimal bewegen, nur ein buch von hier nach dort tragen, ein luftschrauber im käfig ist an; lese von der hitze 1904 und lese von der hitze im 16ten jahrhundert: aber hat es den sommer über wenig getawet und ist sonsten auch an wasser grosser mangel furgefallen; und jetzt tawet es genausowenig und es gibt auch solche durre und fewersbrunst.

Brouillon

Hardcore-Jazz

Heute Morgen noch einmal beim Orthopäden gewesen. Meine linke Schulter war nun seit Dezember letzten Jahres eben kein Dreh-und Angelpunkt mehr. Nun bessert sich die Sachlage, muss aber, wenn ich wieder völlige Bewegungsfreiheit erlangen möchte, vielleicht in zwei Monaten operiert werden. Ich kann schreiben und lesen; muss ich mich etwa auch bewegen können? Ich arbeite gerade am zweiten Intermeso und an der siebten Abteilung „Wolf aus Erz“ für den Schwarzenhammer-Zyklus. Rose geschnitten, Hornveilchen ebenfalls; morgen werden wir von einem Baugerüst eingekesselt sein, auf denen Hampelmänner dem Haus einen neuen Anstrich verpassen werden. Ich empfange sie mit Hardcore-Jazz.

Vor einem Jahr: 
Wer bist du? Ist für mich eine grundsätzliche Frage. Ich wusste nie, wer du bist, wusstest du je, wer ich bin? Das Unbekannte ist für mich Die Unbekannte. In vielen Augen erkenne ich sie wieder, Augen, die von der Unbekannten benutzt werden. In Gesten sowieso. Aber selbst bei einem Spaziergang den Bach entlang, ist irgendwo ihre Stimme nicht zu hören. Ich vermute selbst, sie sieht mich hier sitzen (mein Arsch klebt vor Hitze auf dem Holzstuhl fest), wie ich in den Kaffee glotze, weil ich mich dort spiegeln kann.

Brouillon

Verlorene Vergangenheit

Heute kam nach sieben Jahren, die ich nun bereits wieder in Deutschland bin, der Rest meiner Manuskripte und Bücher an. Fabienne, die wirklich eine ausgezeichnete Archivarin ist, hat Bilder, Briefe, Romananfänge mitgeliefert, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass es sie gibt, teilweise bis in die 80er Jahre zurückreichend, als ich noch für das Theater arbeitete. Es waren Studioberichte dabei, als ich meine ersten Hörbücher einlas, Zeitungsberichte und eine Menge skurriler Dinge mehr. Teilweise kann ich gar nicht glauben, dass dies wirklich mein Leben war – aber natürlich weiß ich es besser. Schließlich war auch das Manuskript einer Story von Christian Kind, dessen Nachlassverwalter ich ja bin, dabei.
Sehr treffend, dass ich heute dieses Netzbuch eröffnet habe. Da ist eine Menge Platz für Reflexionen.

Portraits

Guy de Maupassant

Guy de Maupassant
Guy de Maupassant

Maupassant kümmerte sich nicht um die Ansprüche des Bürgertums, um ein geordnetes Leben, das für ihn voller Fäulnis war. Er entlarvte bewusst den Schein und die Täuschung der bürgerlichen Etikette, sowohl in seiner Prosa als auch in seiner Persönlichkeit. Doch das kostete ihn auch das Leben. Er starb 1893, geistig umnachtet, im Alter von 43 Jahren. Zu Lebzeiten hatte er den zweifelhaften Ruf eines skrupellosen Frauenverführers, der jeden zu seinem Vorteil zu manipulieren wusste. War Maupassants Haltung ironisch, pessimistisch oder einfach nur schockierend?

Er wurde 1850 geboren und hatte zeitlebens eine Abneigung gegen jede moralische Etikette. 1857 standen Flaubert und Baudelaire vor Gericht, weil sie mit Büchern wie „Madame Bovary“ und „Die Blumen des Bösen“ den öffentlichen Anstand verletzt hatten. Später nahm Flaubert den jungen Maupassant unter seine Fittiche und lehrte ihn die sanfte Kunst des bürgerlichen Benehmens. Sie besuchten ein Bordell, und der junge Guy, vom Sex besessen, brauchte keine weitere Belehrung. Flaubert, der sich jeden Gedanken verbot, der ihn von der Muse ablenken könnte, versuchte, seinen Freund zurückzuhalten, aber seine endlosen Ratschläge über die mönchische Rolle des Künstlers stießen bei Maupassant auf taube Ohren.

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Kemptener Tagelohn

Die Geschwister Grimm in Kempten

„Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. DAS ist doch merkwürdig!“

(Zitat von „Die-mit-dem-Dichter-spricht“)

Das Allgäu ist übervoll mit Menschen, an denen der Nonsense der heutigen Zeit zwar nicht abprallt, aber hier und da dann doch für das genommen wird, was er ist: eine vorübergehende Erscheinung. Gerade in den Bergen und in den Randbezirken gibt es noch eine Menge Zauber.

„Ich würde Sie niemals als Hexe bezeichnen!“
„Ich mich aber schon“

Naturheilkundige finden hier ihr Mekka. 1775 wurde die letzte Hexe in Kempten zum Tode verurteilt, aber nicht verbrannt. Sie starb eines natürlichen Todes. Vielleicht geht es Kempten deshalb so gut. Wer im schöpferischen Element tätig ist, der weiß, dass diese Kraft weiblich ist, auch wenn es Männer gibt, die das leugnen. Ich selbst wäre ohne die weibliche Urkraft seelisch wie körperlich bankrott. Deshalb die Große Mutter, deshalb Hexen. Aber mir geht es hier nicht um Elementarkräfte und deren Herkunft. Es ist ziemlich erstaunlich, dass sich Kräuterfrauen und solche, die sich selbst „Hexen“ nennen nicht nur in den Allgäuer Dörfern finden, sondern mitten in der Mall, die gesichtslosen Konsum über ihre Jünger schüttet, die jeden Tag erneut anbranden, um dem Abfall der Industrie anheischig zu werden.

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Lumiere

After Nine

Wir haben uns entschlossen, die Minzblättchen, die wir nach dem großen Fressen fressen, ‚After Nine‘ zu nennen. Acht war gestern. Natürlich handelt es sich dabei nicht um dieselbe Fabrikware, hiesige hier sind mürber und klingen anders; eher wie „Morks Krumb-Krumb-Krumb“. Die Nach-Acht-Dinger hören sich vielmehr nach „Gnorm“ an. Gnorm nach Acht. Ob die Scheiße nachher auch nach Minze duftet, ist noch nicht beforscht. Mentha x piperita.

Brouillon

Warum ich ein Phantast geworden

Vielleicht ist es das Dilemma der Geburt, das die Perspektive ein für alle Mal verändert, nachdem wir vorher nichts als Wärme kennengelernt haben, die sich um unseren Körper schmiegt, den wir noch gar nicht kennen und zu diesem Zeitpunkt auch nicht kennen wollen. Uns genügt das mütterliche Meer, in dem wir endlos träumen, bis eines Tages die Vertreibung eingeleitet wird. Das erklärt uns später die Sage von Eden, aber kein Apfel war daran schuld – Erkenntnis ist doch eher ein hartes Brot.

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Kemptener Tagelohn

Fleischsauce am Haken

Gäbe es eine Disziplin der Unmöglichkeiten, wäre Fleischsauce am Haken ein Dauerbrenner. Kempten hat noch sehr viele echte Fleischer, Haudegen am Hackebeil, am Viehschußgerät und am Rippenzieher. Die Auswahl fällt schwer, ein Qualitätsproblem gibt es hier nicht, die umgebundenen Schürzen der Metzger sehen besser aus als die im Klinikum, hygienischer auch, schließlich ist es beim Tier nicht egal, wie es verreckt.

Vinzenzmurr

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Brouillon

Hallo die Post

Für den Kanon kam heute Benjamin Percys „Roter Mond“ an. Die Postbotin klingelt mich verlässlich um 9 Uhr aus dem Bett, ich versuche dann, ohne in den Schrankspiegel zu fallen, zur Sprechanlage zu gelangen. Sie sagt: „Hallo, die Post.“ Sie sagt es ohne Komma: Hallodiepost. Und ich sage: „Ich komme!“ Dann drücke ich auf den Summer und mache mich auf den Weg. Von oben kann ich dann das Päckchen auf der ersten Stufe der Haustreppe liegen sehen.

Percy schrieb auch für Detective Comics und sehr erfolgriech für Green Arrow, aber auch für das Wall Street Journal oder den Esquire. Diese Verbindungen sind immer wieder amüsant, wenn man unsere eigene literarische Landschaft so betrachtet. Die Rezensionen über Jedediah Berry Handbuch für Detektive und Steven Ericksons Das Meer kam um Mitternacht für das Phantastikon sind geschrieben, ein Interview mit Berry habe ich übersetzt. Gegenwärtig sehe ich mir Kirsten Bakis und ihr Leben der Monsterhunde genauer an (in Wirklichkeit lese ich es). Man muss sich den Slipstream, also die Phantastik, die nicht unter dieser Kategorie firmiert, überall mühsam zusammensuchen und dann auch noch nachsehen, ob es überhaupt eine Übersetzung gibt. Manchmal überrascht mich das, manchmal enttäuscht es mich, der Punkt aber ist: ich werde fündig.

This is the wall of dolls
Secret world of smalls

– Golden Earring, The Wall of Dolls

Brouillon

Wege sind kaum mehr zu finden

Dorfstraßen sind mächtige Wege; das heißt, sie waren es früher einmal. Heute gibt es nur noch Straßen, Wege aber sind kaum mehr zu finden. Der Unterschied besteht darin, dass Straßen irgendwo hin führen müssen, deshalb bewegt man sich auf ihnen, man will die Strecke schnell bewältigen. Ein Weg hingegen ist zum Flanieren gedacht, nicht allein, um anzukommen. Wo auch sollte man ankommen wollen?

Früher war alles besser; aber nur, wenn man heute lebt. Fortschritt ist doch nur das Fortschreiten – das sich-entfernen – vom Guten. Vergessen wir dabei nicht, dass ein Gutes kein Paradies ist, kein endgültiger Zustand des Bestmöglichen; das Bestmögliche nämlich meint keine Existenz. Im Leben kann die Grausamkeit nicht ausgeblendet werden, sie kann nur durch etwas Gutes gemildert erscheinen. In anderen Fällen erreichen wir das Gute überhaupt erst jetzt. Dabei gibt es allerdings kein Wir. Wer spricht, ist entscheidend. Früher war alles besser, weil die Illusion noch funktionierte und weil es etwas Natürliches gab – und das Analoge.

Kemptener Tagelohn

Kaffee bei Birnstiels

Kaffee gibt es in den unterschiedlichsten Höhenlagen, deshalb natürlich auch in Kempten. Wer es gerne hat, dass sein Kaffee nach alten Zeitungsrollen und Druckerschwärze schmeckt, der beehre den Herrn Birnstiel, seines Zeichens freilich kein Kaffee-Ausschenker wienerischer Couleur, sondern hoheitlicher Marketender für Druckartikel aller Art – und einer der letzten einer aussterbenden Zunft.

Presse Birnstiel

Heute empfing er den Meister ganz im Blüschen, mit Schlips und ordentlicher Bommelei, festlich und fesch, gekämmt und adrett. Ein stattlicher Zeitungswaren-Vorzeiger (der sich auch mit Tabak, Haschischpfeifen und – nur so zum Spaß – einem Kaffeeautomaten brüsten kann. Man kann sich hier im Laden schlicht über alles unterhalten: Knötchen in der Brust, wo bekommt man ein bezahlbares Hirschgeweih, war die Fußpflegerin heute wieder schick?; bei Presse Birnstiel tobt der Figaro-Gedanke wie sonst nirgends mehr. Hätte Kempten eine Mutter, dann hieße sie Herr Birnstiel. Weiland kaufe ich meine wie auch immer gearteten Heftchen dort, die dann, Opfer jeder Sammlung, irgendwo im Keller lagern. Aber nicht diesmal. Diesmal bin ich auf der richtigen Spur, die da lautet: Hochphilosophie. Im Zeitungsschlabberladen? Oh ja, denn ich habe es auf die Buchrücken der LTBs abgesehen, Kater Karlo als intergalaktischer Schurke. Ist das nicht very well by the way? Tröstet euch: auch wenn der Kaffee für umme war, er schmeckte nicht besser als ein angebohrtes Leitungsloch und ich habe ihn dennoch getrunken. Wird das Auswirkungen auf meine Gesundheit haben? Ich glaube nicht, denn selbst die schlimmste Kloake verwandelt sich in Kempten in ein übersinnliches Tröpfchen aus dem Acheron.

Brouillon

Leichtes Gefieder

Tag 1. Stille in den Gassen. Früh. Der Sonne Wicht fährt aufwärts. Blick zu den Gesimsen links und rechts aus alter Zeit. Kein Staub tönt die Sicht. Alles blaubehimmelt, als würde es zeitig ein schönes Jahr.

Im Märzen der Dichter die Blätter einspannt. Er setzt seine Feder durch Tinte in Stand.


Als Phantast zieht man sich Träume über, sie sehen gut aus unter dem Kragen. (Ich komme nicht problemlos in die Ärmel, mein linker Arm ist noch immer Schrott.). Station vinzenzmurr : alle lebendig. Nicht nur Überreste, sondern eine wirkliche Welt. Meine tiefe Trauer hält an und verwandelt sich in leichtes Gefieder.