Stilistische Bravour in Peter Straubs „Geisterstunde“

Der umfassende Datenspeicher von Goodreads wirft Peter Straubs „Geisterstunde“ auf Platz 15 der größten Horrorromane aller Zeiten aus. Es gibt nur wenige Romane des Genres, die in den 70ern geschrieben wurden und den Test der Zeit so makellos bestehen konnten. Straubs großes Können und seine subtile Überlegenheit lässt fast alle Romanciers der düsteren Thematik ziemlich alt aussehen. Gegenüber den besten Horrorgeschichten haben Romane ganz allgemein kaum eine Chance, aber die Handvoll überragende Werke, die es da draußen gibt, stehen jeder Bestenliste gut zu Gesicht. So natürlich auch dieses, obwohl es nicht mein Lieblingsbuch von Straub ist.

Stilistische Bravour in Peter Straubs „Geisterstunde“ weiterlesen

Arthur Conan Doyle: Eine Studie in Scharlachrot

Auch wenn dieser erste Sherlock Holmes-Roman nicht der beste der vier auf uns gekommenen ist, steht er am Beginn einer denkwürdigen Genreentwicklung. Dass Arthur Conan Doyle sich bei Edgar Allan Poe bedient hat, weiß man, nur darf man das in diesem Fall nicht zu hoch hängen, denn Doyle hat aus der Idee des Detektivs etwas völlig anderes gemacht. Eine Studie in Scharlachrot wurde erstmals 1887 von Ward Lock und Co. im „Beeton’s Christmas Annual“ unter dem Titel „A Tangled Skein“ (etwa: Ein verheddertes Knäuel) veröffentlicht. Eine Ausgabe dieser Zeitschrift, die „A Study in Scarlet“ beinhaltet, ging 2007 bei Southeby’s für 15.600 US-Dollar über den Ladentisch. Mit solchen Summen können ansonsten nur seltene Comics konkurrieren. Bedenkt man, dass ohne Sherlock Holmes‘ Einschlag in die die Literaturgeschichte, dieses Magazin heute ganz und gar vergessen wäre (anders wie „The Strand“, das es noch heute gibt und wo Doyle ab 1891 regelmäßig veröffentlichte), ist das eine nette Verewigung.

Arthur Conan Doyle: Eine Studie in Scharlachrot weiterlesen

Joe Abercrombies Klingen-Trilogie

Abercrombie betrat die Bühne im Jahre 2006 als ein junger Filmeditor, der sich der Schreiberei zuwandte. Sein erstes Manuskript, „The Blade itself“, wurde vom britischen Verlag Victor Gollacz Ltd. gekauft. Interessanterweise erschien die deutsche Ausgabe bei Heyne im selben Jahr, während der Roman in den USA erst 2008 herausgegeben wurde (da hatte Abercrombie seine Trilogie mit „Before They Are Hanged“ und „Last Argument of Kings“ bereits abgeschlossen). Das ist deshalb gesondert hervorzuheben, weil Abercrombie, wie wir gleich sehen werden, zu einer günstigen Zeit ins Feld schoss.

Joe Abercrombies Klingen-Trilogie weiterlesen

100 Jahre Hercule Poirot – Das fehlende Glied in der Kette

Das fehlende Glied in der Kette

Mit zwei Milliarden Büchern, die in über 100 Sprachen übersetzt wurden, ist Agatha Christie die unangefochtene Königin des Kriminalromans, die weltweit meistverkaufte Romanautorin und die wohl erfolgreichste weibliche Bühnenautorin aller Zeiten. Im Oktober 2020 jährte sich die Veröffentlichung ihres ersten Romans “Das fehlende Glied in der Kette” zum 100ten Mal, und damit auch das Erscheinen des legendären Hercule Poirot, des kleine Mannes mit dem tadellos gepflegten Schnurrbart, der mit Hilfe seiner  „kleinen grauen Zellen“ jedes Verbrechen lösen konnte. 

Obwohl er möglicherweise nach Sherlock Holmes der zweitberühmteste Detektiv der britischen Kultur ist, ist Poirot gar kein Brite, sondern ein Flüchtling. Er kam als Teil einer Gruppe von Belgiern, die durch den Ersten Weltkrieg vertrieben worden waren, nach England, doch seine Wiege liegt in Brüssel. Indem sie über diesen pensionierten belgischen Polizisten schrieb, der Fälle in ganz Großbritannien und auf der ganzen Welt löste, konnte Christie die Komplexität des Englischen und seine Beziehung zu Kontinentaleuropa erforschen (und sich manchmal auch darüber lustig machen).

100 Jahre Hercule Poirot – Das fehlende Glied in der Kette weiterlesen

Larry Brent (Der erste Gruselkrimi)

Ägyptische Mumien und Frankensteinähnliche Wissenschaftler standen Ende der 60er Jahre hoch im Kurs. Die Counter Culture, die aus Amerika herüberschwappte und ihre Spuren auch in Europa hinterließ, hatte außer Flower Power auch das Interesse am Okkulten mitgebracht. Die Manson-Family machte erste Schlagzeilen und bahnbrechende Horrorfilme wie „Rosemaries Baby“ und „Die Nacht der lebenden Toten“ eroberten die Kinos. Auch im Heftroman-Sektor war es Zeit für etwas Neues.

Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus
 Silber-Krimi Nr. 747 vom 27.08.1968

“Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus” erschien als Silber–Krimi Nr. 747 im damaligen Zauberkreis-Verlag, der 1985 an Pabel verkauft und 1987 seine Pforten für immer schloss, und war in erster Instanz atmosphärisch und lag näher an der Gothic Novel – also am Schauerroman – als am Horror. Jürgen Grasmück alias Dan Shocker hat dann auch einen Begriff geprägt, der den “Horror” im Heftroman genau definiert und den es in keiner anderen Sprache gibt: Grusels; eine genuin deutsche Sprachleistung wie etwa das Wort “unheimlich”, das mit dem englischen “uncanny” zwar eine Annäherung an die Bedeutung des Begriffs erfährt, sie aber nicht präzise abdeckt. Natürlich steckt in der Pluralisierung Grusel – Grusels ein Fehler, der sozusagen bewusst die englische Pluralendung an ein deutsches Wort anhängt (ähnlich wie man das umgangssprachlich etwa bei “Dingens” macht). Eine Mehrzahl von Grusel gibt es nicht, nur der Genitiv (des Grusels) käme also in seiner korrekten Form mit einem “s” daher, ist hier aber natürlich nicht gemeint. Vergessen wir aber nicht, dass bis weit in die 70er Jahre hinein bereits eine merkliche Amerikanisierung der deutschen Sprache stattfand. Ein Mädchen hieß plötzlich “Girl”, das Wohnzimmer wurde “Living Room” genannt, man „steppte“ zur Seite und sprang nicht mehr, und so fort.

Grusel – Gruselkrimi – Grusels 

Das Stammwort gruseln bezeichnet einen Kälteschauer und gleichzeitig einen Schauer der Angst, eine eigentliche Faszination, die dem Phänomen des Horrors zugrunde liegt, das H. P. Lovecraft einmal als “das älteste Gefühl des Menschheit” bezeichnet hat. Der Begriff “German Grusel“, aus dem dann Anfang der 70er Jahre vom Zauberkreis-Verlag der “Gruselkrimi” abgeleitet wurde, ist eine Prägung der Edgar-Wallace-Filmreihe und bezeichnete bereits in seinen Anfängen die Genremixtur aus klassisch englischem Krimi-Ambiente (das seinerseits aus der Gothic Novel entstanden ist), und einer modifizierten Variante des Schauerromans selbst, die mit dem, was wir heute mit dem Begriff Urban Fantasy (Vampire, Werwölfe, Hexen treten auf, ganze Mythologien werden rudimentär verwendet oder auf den Kopf gestellt und sogar neu erfunden) grob umrissen werden kann. Andererseits ist der Gruselkrimi derart eigen, dass man damit auch nur eine ungefähre Annäherung zur Verfügung hat.

Er ist mittlerweile sogar in englischsprachigen Ländern geläufig, was einiges bedeutet. Als Vorläufer kann man durchaus die okkulten Krimigeschichten, die eine Mischung aus Pulp, Krimi und Abenteuergeschichte, gepaart mit einer Portion übernatürlichem Horror, sehen, mit der amerikanische und britische Autoren eine Art Pionierarbeit geleistet haben. Horrorautoren wie William Hope Hodgson (Carnacki), Algernon Blackwood (John Silence), Seabury Quinn (Jules de Grandin), Manley Wade Wellman (John Thunstone) und in jüngster Zeit Brian Lumley (Titus Crow) haben sich alle an die Ermittler des Unbekannten gewagt. Viele ihrer fiktionalen Kreationen wurden zuerst in Magazinen wie Weird Tales gedruckt, die von 1923 bis 1954 erschienen. Deutsche Gruselkrimi-Autoren begannen viel später als ihre britischen und amerikanischen Pulp-Kollegen und hörten im Gegensatz zu ihnen nie auf zu schreiben.

Frischer Wind im Silber-Krimi

Larry Brent Nr. 1
Der erste Band der eigenen Serie erschien als Nachdruck am 21.4.1981

Die Geschichte geht so: Auf der Frankfurter Buchmesse 1967 klagte der damalige Verlagsleiter des Zauberkreis-Verlages Jürgen Grasmück sein Leid mit der Krimi-Reihe “Silber-Krimi”. Die Verkaufszahlen sanken kontinuierlich. Man wollte sich Gedanken über etwas Neues machen. Jürgen Grasmück machte etwas Neues, er schrieb das Exposé für den ersten Larry Brent-Roman, das angenommen wurde und nach der Veröffentlichung am 28. August 1968 für einiges Aufsehen sorgte. Zum ersten entstand durch die Gruselkrimis eine Subkultur des etwas “schrägen”. Während ein Krimi im Laufe der Jahrzehnte in den Mainstream Einzug fand, lag über einer unbürgerlichen (oder unrealistischen) Thematik stets ein Hauch des Andersartigen, vergleichbar mit der Heavy-Metal-Subkultur der 70er und 80er Jahre. Eine Abgrenzung zu “Tarzan” oder einem Edgar-Wallace-Krimi war nicht mehr gegeben. Das zeigte schon die Reaktion von Eltern und Lehrern auf dieses Medium (in das sich ja sogar die Bildungspolitik einzumischen versuchte). Tatsächlich passierte hier das, was in Jugendkulturen stets zu beobachten ist. Allerdings ist ein Heftroman etwas anderes als ein Film oder eine populäre Band, und bleibt schon aus diesem Grund weit hinter deren Einflussbereich zurück.

Es bildet sich ein Stück regionaler und persönlicher Epoche in der Epoche heraus, die zwar durch das kulturelle Geschehen in der Welt grundsätzlich mit dem herrschenden Zeitgeist verbunden ist, aber eine eigene Dynamik entwickelt, die nur Ansatzweise mit Entwicklungen in anderen Ländern zu vergleichen ist. Auch wenn man es nicht glaubt, hat das muffige Deutschland gerade dafür gesorgt, dass so etwas wie der Gruselkrimi entstehen konnte. Das wirklich Interessante allerdings ist der lange Atem, denn auch wenn die große Zeit des Heftromans vorbei ist, finden wir sie noch immer vor. Es scheint sogar, als sei hier im kleinen ein Generationswechsel möglich gewesen, etwas, das der Entwicklung der Popkultur eigentlich widerspricht. Grasmück ließ den Übergang vom Krimi zum Gruselkrimi glaubhaft geschehen, indem er eine wissenschaftliche Erklärung für seine Version der Vampire bot, alles andere hätte die Leser zu dieser Zeit vermutlich so erschreckt, dass sie ihm nicht gefolgt wären.

Das tut der Atmosphäre keinen Abbruch, auch wenn es hier nur einen Hauch Übersinnliches gab (eine wiederbelebte Mumie). Phantastisch ist die Erzählung allemal und orientiert am Abenteuer und am Agentenmillieu, aus dem Larry Brent schließlich stammt. Und auch, wenn hier Larry Brent eingeführt wird, gibt es zunächst den klassischen Kommissar, der in den merkwürdigen Fällen ermittelt. Die Verwicklungen stehen sogar keinem amerikanischen Thriller aus den 30er, 40er und 50er Jahren nach – wovon man sich leicht überzeugen kann, wenn man etwa John Buchans “Die 39 Stufen” liest. Die Problematik bestand also eher im deutschsprachigen Kulturkreis und im Milieu des Heftromans selbst und garantiert nicht in der Ausführung, auch wenn es einiger sprachlicher Überarbeitungen bedurft hätte, um daraus einen internationalen Knüller zu machen. In der BRD galt zu dieser Zeit selbst der Kriminalroman als Schund. Und eine oberlehrerhafte Dummheit ist bis heute das Markenzeichen des Kulturbetriebs in diesem Land, weshalb auch kaum eine kreative Strömung eine größere Bedeutung erlangt im Vergleich zu anderen westlichen Ländern.

Das Abenteuer

In der Umgebung von Maurs ist es in den letzten sieben Monaten zu rätselhaften Vorfällen gekommen, bei denen Vampire gesichtet wurden und mehrere Menschen tatsächlich Bissspuren am Hals aufweisen. Als zum ersten Mal eine Leiche auftaucht, erinnert sich Kommissar Sarget an die Aufforderung des Innenministeriums, solche Sonderfälle sofort weiterzuleiten. Wir hören also zum ersten Mal von der PSA, der Psychoanalytischen Spezialabteilung unter der Leitung des geheimnisvollen David Gallun, der durch einen schweren Unfall vier Minuten lang klinisch tot war, dadurch aber die Fähigkeit besitzt, Stimmungen und Gefühle in Menschen zu erzeugen und wahrzunehmen. Er wurde zwar gerettet, aber ist seitdem blind. Als wir Larry Brent zum ersten Mal begegnen, ist er noch FBI-Agent, der sich während seines Urlaubs Europa ansehen will und unversehens in einen merkwürdigen Fall stolpert und am Ende vom FBI zur PSA wechselt.

“Dieser heiße Sommertag”, heißt es da, “sollte für den Mann aus New York eine Bedeutung gewinnen, die seine Zukunft schicksalhaft bestimmte.”

Tatsächlich hat ein Professor Bonnard bei seiner letzten Reise nach Ägypten aus einem bisher unbekannten Grab kostbare Grabbeilagen und eine Mumie entwendet, in der er noch Spuren von Leben nachweisen konnte. Er hat die Absicht, diese mithilfe von frischem Blut wieder zum Leben zu erwecken, um als Ägyptologe für eine Sensation zu sorgen. Nun ist das hier allerdings kein dröger Mumien-Klamauk. Ganz im Gegenteil dreht sich das erzählerische Ablenkungsmanöver um ein Gezücht riesiger Vampirfledermäuse, die das Blut beschaffen sollen. Geschickt führt uns Grasmück zunächst den Biologen Simon Canol vor, der damit beschäftig ist, die anfallenden Leichen verschwinden zu lassen, was ihm nicht gelingt, weil er ständig dabei gestört wird. Als aller Verdacht sich schließlich wieder auf Professor Bonnard richtet, merken wir, dass ein ganz anderer Herr seine Kreise zieht. Larry Brent gelingt schließlich das, was der Polizei um Kommissar Sagret nicht gelingt. Er stößt ins Innere vor. Die Geschichte ist verwickelt und ein Rad greift ins nächste, außerdem bekommen wir viele Informationen über die PSA und deren Aufbau. Besieht man sich heutige “Heftchen”, dann muss man doch zugeben, dass dieser erste Gruselkrimi ein Flair und einen Aufbruch markiert, den bis heute nicht viele Exemplare für sich in Anspruch nehmen können.

Das Haus in der Half Moon Street von Alex Reeve

Leo Stanhope ist der neueste Serienheld aus der Feder von Alex Reeve, und  Das Haus in der Half Moon Street ist der erste Band einer viktorianischen Krimiserie aus dem Jahre 2018, die bei Knaur erschienen ist.

Der zweite Band wird im April 2022 erscheinen, was mich ungemein freut, weil so etwas ja immer auch am Publikum liegt. Der Autor hat es sich nämlich nicht ganz einfach gemacht.

Vielmehr hat er von Beginn an gewusst, dass er mit seinem außergewöhnlichen Helden in ein Wespennest stechen könnte und zum Teil ja auch hat. Das war auch der Grund, warum er im Anhang noch einmal auf seine Absicht hinweisen wollte und dem Leser erklärt, was ihn an der Sache reizte und wie sich Leo schließlich aufdrängte, obwohl Reeve immer wieder mit dem Gedanken spielte, ihn nur am Rande zu beachten.

Der Roman spielt im viktorianischen England um 1880 und fällt schon allein aus diesem Grund in meinen gesteigerten Aufmerksamkeitsbereich, aber auch ich war relativ überrascht, dass hier einige der bekanntesten Tropen des Genres ausgehebelt wurden, ohne die notwendige Atmosphäre in irgendeiner Form anzutasten.

Leo Stanhope arbeitet als Assistent des Gerichtsmediziners und verbringt seine Tage mit dem Schreiben von Berichten und dem Zusammennähen der autopsierten Leichen. Er ist unsterblich in die Prostituierte Maria verliebt und sehnt sich nach dem Tag, an dem sie zusammen sein können, nach dem Tag, an dem sie das Bordell verlassen kann, um sich ganz ihm zu widmen. Als Maria ermordet wird, wird Leo zum Hauptverdächtigen und findet sich plötzlich ohne Freunde und Arbeit im London von 1880 wieder. Er ist – zunächst zögerlich und verwirrt – dazu entschlossen, die Identität von Marias Mörder aufzudecken, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, und sich selbst vor der Schlinge des Henkers zu retten. Aber der Galgen ist vielleicht noch die geringste von Leos Sorgen: Als geborene Charlotte verstößt Leo jedes Mal gegen das Gesetz, wenn er sein Haus verlässt, und wenn sein Geheimnis aufgedeckt wird, droht ihm ein viel schlimmeres Schicksal als der schnelle Tod, den der Henker verspricht.

„Das Haus in der Half Moon Street“ macht uns mit dem jungen Mr. Stanhope und der dunklen Schattenseite Londons bekannt. Alex Reeve beschreibt auf wunderbare Weise die vom Smog gefüllte Stadt und die oft zwielichtigen Gestalten, die sie bewohnen, und nutzt Stanhopes einzigartige Umstände, um die Moral einer Zeit zu untersuchen, in der einige Verbrechen akzeptabler zu sein schienen als andere. Dennoch fokussiert er sich stark auf das Vorwärtsdrängen der Geschichte und auf den Ich-Erzähler Leo, der aus seinem Elternhaus und den konservativen Ansichten seines klerikalen Vaters floh, um seine eigene Identität zu finden und ein Leben fernab von allen zu führen, die ihn in der Vergangenheit als Mädchen gekannt haben könnten.

Stanhope hat sein Geheimnis notwendigerweise nur einigen wenigen Menschen offenbart, und die Reaktionen reichen von Akzeptanz (bei seiner geliebten Maria) bis hin zur Ablehnung (interessanterweise bei den Menschen, die ihn am besten kennen: seinem Bruder und seiner Schwester). Die konservativen Moralvorstellungen der damaligen Zeit sehen in Leo einen Kriminellen, der jedes Mal gegen das Gesetz verstößt, wenn er das Haus in Männerkleidung verlässt. Doch der gleiche moralische Kompass scheint bei Mord und Menschenhandel auf seltsame Weise abwesend zu sein.

Als die Prostituierte, die er liebt, ermordet wird, findet sich Leo zwangsläufig in der Rolle eines Amateurdetektivs wieder, der versucht, ihrem Tod auf die Spur zu kommen. Die ohnehin schon angespannte Situation – Leo gilt zunächst als Hauptverdächtiger in diesem Fall, wird aber später durch den Einfluss von jemandem, der in der Nahrungskette viel weiter oben steht als er, wieder freigelassen – wird durch Leos Situation noch verschärft: Der kleinste Ausrutscher könnte sein Geheimnis verraten und ihn in die Irrenanstalt oder ins Gefängnis bringen. Leo verbündet sich mit der Witwe eines Mannes, der anscheinend von derselben Person getötet wurde, die auch Maria umgebracht hat, und kämpft gegen eine Reihe von Bösewichten jeder Größe und Form, angefangen bei dem respektablen Geschäftsmann, der heimlich die Hälfte der Bordelle in der Stadt betreibt und hinter einem Sexhandel steckt, bei dem junge Frauen von London nach Brüssel transportiert werden, bis hin zu der Bordellbetreiberin, die über ihren Stand hinausgeht, und dem Mann mit einem Wieselgesicht, dessen Loyalität fragwürdig, aber deswegen nicht weniger beängstigend ist.

Alex Reeves Debütroman ist ein klug konstruiertes Rätsel, das durch die Brille des viktorianischen Englands Themen untersucht, die gerade heute noch aktuell sind. Leo Stanhope ist ein außergewöhnlich sympathischer Charakter, mit dem man von Anfang an mit fiebert. „Das Haus in der Half Moon Street“ hat zwar eine ausgesprochen düstere Perspektive, aber auch ein Herz für Witz und Charme, das es nicht nur unterhaltsam, sondern auch unvergesslich macht. Es ist eine fesselnde Geschichte, die den Leser von der ersten Seite an in ihren Bann zieht und ihn bis zum letzten Wort nicht mehr loslässt. Dazu trägt natürlich auch das Versprechen auf weitere Abenteuer des Amateurdetektivs mit dem Alleinstellungsmerkmal bei. Ich gehe davon aus, dass wir in naher Zukunft noch viel von Mr. Reeve und Mr. Stanhope hören. Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt, um dabei zu sein.

Es geht noch ein Zug von der Garre du Nord / Fred Vargas

Es geht noch ein Zug von der Garre du Nord ist der erste Roman, in dem der berühmte Kommissar Adamsberg 1991 auftauchte. Im Original deutet der Titel bereits auf das Thema hin: L’homme aux cercles bleus (Der Mann mit den blauen Kreisen). Wie so oft bei Übersetzungen ist kaum nachvollziehbar, warum man hier etwas völlig anderes aus dem Ärmel zieht, auch wenn der Übersetzer sich hier zumindest auf die poetische Seite des Buches verlagert hat, nämlich auf Adamsbergs merkwürdige Beziehung zu Camille, die er am Ende des Romans für zwei Stunden im Zug von der Garre du Nord nach Lille noch einmal wieder sieht. Zu behaupten, das hätte mit der Handlung des Romans gar nichts zu tun, stimmt nur insofern, wenn man ausklammert, dass Adamsbergs ganzes Wesen durchaus von Camilles Abwesenheit entscheidend mitgeprägt wird.

Es geht noch ein Zug von der Garre du Nord / Fred Vargas weiterlesen