Brouillon

Kühleborn, ein Quantenpoet und eine Ogerin im Elfenkostüm

Obwohl ich nun abgrundtief müde bin, bin ich wohl für den Rest des Tages glücksselig. Hatte meine Freude euch beide zu beobachten, dich und Schwarzertd, wie ihr von Anfang an, ohne große Scheu und allzu vorsichtiges Tasten nach dem Anderen, in den Diskurs miteinander gegangen seid. Zum Schluss saßt ihr gar dicht beieinander. Zwei am Tisch auf einer Gerade. Und habt mich stets angegrinst. Erreichtet den Höhepunkt als ihr gemeinsam vor deinem Bücherregal standet und beide einen Arm ausstrecktet, nach einem Werk Arno Schmidts zu greifen. Hätte ich heimlich eine Kamera laufen lassen, hätte ich nun einen Mitschnitt eines literarischen Duetts wie ich es allenfalls noch erlebe, habe ich eines mit dir oder mit ihm. Etwas, das bei den ollen Qua(r)kquartetten in der Flimmerkiste unter ferner liefen läuft. Denn liefe das, müsste man sich eingestehen, this, was da heute gesendet wird: goes not! Geht aber doch: Etwas, das, bin ich gerade lull und lall, und auch nur dann, höchstens noch schabernackig auf mich wirkt. Doof und halbseiden. Grotesk aufgrund der ernsthaften Miene, mit der man vorträgt, was man von sich und dem Leseerlebnis zu berichten hat.

Ich hatte Schwarzertd seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, nur hin und wieder mit ihm telefoniert. Und nun, da er sich gerade aus beruflichen Gründen in München aufhielt, hat er die Gelegenheit genutzt, uns zu besuchen. Seine Stimme hörte sich zum ersten Mal anders für mich an, was nur daran lag, dass er die letzten Tage beim Schreiben viel geraucht hat. Wie ein Schlot wohl. Was in früheren Zeiten doch eher mein Part war. Früher. Denn ich rauche ja nicht mehr. Brenne nur noch. Früher. Das meint Heidelberg, als wir uns kennengelernt haben. Ich erinnere mich, wir nahmen beide den selben Bus. Ich saß hinten. Er stand am Fenster in der Mitte. Schaute mich länger an, lächelte. Ich hingegen, ich war aus irgendeinem Grund, den ich nicht mehr erinnere, bräsig, schaute böse zurück. Dumme Nuss! Aber zum Glück gab das Schicksal mir eine zweite Chance. Denn kurze Zeit später stellte sich heraus, wir besuchten die gleiche Gastvorlesung. Und so sprach er mich noch einmal an, als wir im Anschluss mit anderen noch eine qualmten. Andere. Das meint eine kleine Gruppe, die wir später den harten Kern nannten. Sonstige habe ich vergessen. Was wohl sehr daran liegen mag, wie ich mein Studium verfolgt habe. Heidelberg. Das erinnert mich an diese Freundschaft, die eine tiefe ist. An lange Tage und Nächte mit Schwarzertd. Verbrachte Zeit: nicht selten bis in den morgendlichen Duft der Bäckerstuben hinein.

Und so waren wir heute für ein paar Stunden zu dritt.

Kemptener Tagelohn

Bitte bringen Sie eine Kottüte mit!

Cambodunum war bereits eine Weltstadt als es noch gar keine Welt, geschweige denn eine Stadt gab. Der ewige Streit mit Trier, welche Stadt denn nun wirklich die älteste Deutschlands ist, kann sich sehen lassen, ist aber unbegründet. Kempten macht selbstverständlich das Rennen. Auch wenn man sich, um den Streit zu schlichten, fragen muss, auf welche Quelle man sich bezieht, kann man doch ganz leicht Folgendes ins Feld führen: Ich lebe in der ältesten Stadt Deutschlands. Ich lebe in Kempten. Ergo ist Kempten die älteste Stadt Deutschlands. Wer das komisch findet, der versteht nichts von den alten Griechen; und wer nichts von den Griechen versteht, wird wohl auch nichts von den Römern wissen. Aber die gab es (nachzulesen in jedem Asterix-Heft). Und sie hatten echt Bad. Thermen nannten sie das; Hitzelinchen. Kaugummi hatten sie nicht, aber sie waren trotzdem Imperialisten. Wie oft steht man auf einem Hügel und denkt: „Mensch, hier!“ Hier haben die Kelten 50 vor moderner Zeit herumgesiedelt, bis 14 vor moderner Zeit Tiberius anrauschte und das Allgäu römisch wurde. Man muss aber sagen, dass die keltischen (und alamannischen) Einflüsse heute noch recht umtriebig vorhanden sind, von den Römern sind nur noch überteerte Straßen und Steinwälle da. Und Bad, denn – yes – die Römer hatten echt Bad!

Der Archäologische Park ist für einen Erstkontakt mit der antiken Welt nicht uninteressant. Es gibt Gewürzwein, Steine, mehr Steine, und Toiletten, auch wenn man auf der Webseite gebeten wird, Kottüten mitzubringen. Es gibt vermutlich zwei Gründe dafür: erstens, man führt sein Hündchen mit und das kackt dann vor die Statue des Hercules, oder man hält es vor lauter Spannung selbst nicht aus, pillert und bollert für sich selbst, während man sich gar nicht von der Aussicht trennen kann, und hat dann was für die Vitrine daheim: eine Tüte voller besuchtem Cambodunum!

Brouillon

Die Ohrmilch der Insulanerin OLYMPIA

Ich liebe den Sound dieser Schreibmaschine und bemerke, wie sehr ich ihn doch vermisst habe. Ihre Ohrmilch. Seit Monaten höre ich sie wieder. OLYMPIA. Die auf deinen Schreibtisch, auf ihre Insel zurückgekehrte. Diese ausladende, schwere Trutzin, die sich, von allen, die du versucht hast, durchgesetzt hat. Sie wirkt auf mich wie ein Weib vom alten Schlag: pünktlich, zuverlässig, keine Spinnereien im Kopf, robust und loyal. Sie ist die Richtige! (Denke ich allein an die riesige SANDSTEINBURG. Dein Werk, an dem du schon seit 12 Jahren arbeitest. Von dem übgrigens auch nicht wenige Fassungen existieren.) Würde ich sie unter vielen heraushören können? Vielleicht. (Ich selbst bin ja nun im Besitz der legendären Olivetti Lettera 22, die ihren Grund und Boden auf meinem alten Herrenschreibtisch finden wird, mit der ich mich erst bekanntmachen muss.) Ihr Klang löst Erinnerungen in einer Stärke bei mir aus, wie ich es sonst nur durch Düfte erlebe, die einen weit, w  e  i  t in die Zeit zurückheben können. Es war mir als wäre ich da. Als wäre ich wieder in jener Zeit, in der du viel auf ihr geschrieben hast, in der ich diesen geschäftigen und heimeligen Klang als einen täglichen, schnell vertraut werdenden, mich umgebenden erfuhr. Und so ließ sie heute Morgen sogar Gerüche wieder erstehen. Es war mir wie eine Millisekundenerzählung von einem naseweisen Wesen im Bouquet sprießender Hände, dem, ich will es verkünden, im üppigen Odeur der Blume ein obszöner Rüssel wächst. Zeitreisen ohne Strecke. Das Einfluten vergangener Empfindungen, die vom Rand der Blüte strömen, in der es reist. Bedingt durch diesen Klang! Die Ohren trompeten vor Freude. Der Mund spitzt Stücke, flötet den Wind auf. Die Arme tirilieren, domptieren den Tag. Lieder fließen von den Lippen des glückseligen Passagiers, der ich bin und soeben war in diesen Initialsekunden, die die Luken meiner Sinne anhoben, aus denen Bilder flogen, sich gefiedrig wieder unter die Zweige der Zeit zu legen. Pulsend, atmend und dauernd. (Warum ich den Sinn des Hörens offenbar mit dem Olfaktorischen verbinde, ist mir in diesem Kontext völlig erklärbar.)

Brouillon

Epitaph für Leon

Leon
Leon 2010, kurz nachdem wir beide leider deutschen Boden betreten mussten.

Leon war, als wir noch in der Schweiz lebten (genau genommen hat er die eidgenössische Staatsbürgerschaft nie abgelegt), der erste Kritiker meiner Gedichte. Denn wer sonst wäre in Frage gekommen, sich einen ernsthaften Eindruck über meinen Geisteszustand zu verschaffen? Leon durchstreifte mit mir die Nächte in Lichtensteig (als ich an Die Gilde der pechschwarzen Liebe arbeitete, gingen wir jede Nacht um drei Uhr über die Thur zum Automaten, um Skumkantarell zu besorgen) und später in Winterthur, wo wir der Einsamkeit einer Stadt lauschten. Leon hat das nicht weiter gestört, Hauptsache wir waren unterwegs.

Leon hat die letzten Jahre dort verbracht, wo er wohl seine beste Zeit hatte. In Biesen, dort wo wir früher im Studio arbeiteten, wo das Ouroboros Straum, Timber, und Der Regenschirm entstand. Und wo er schließlich zu Hause war. Zum Schluss war er ein alter Mann, aber ich glaube, er war glücklich. Das Problem ist, dass mich seine Heimkehr seltsam hart trifft. Ich werde tiefer in die Nacht fliehen.

Brouillon

Im Busen die Blumen schwellen

Besagtes Wassermalheur in der Küche, das aus einem Zulaufhahn, dem ein Verschlussventil fehlte, als Fontäne nach oben schoss, und als Regen dann niederfiel, den ich an diesem brüllend heißen Tag unerwartet empfing, als die Maklerin im Bad den Haupthahn aufdrehte, war leider noch nicht das Ende der Fahnenstange. Ich sah: Gilbe Türklinken und Fensterrahmen, schnodrig geweißelte Wände, eine Tür, deren Zähne die Bodenfliesen aufreißen, eine unpraktischen Verteilung der Steckdosen. Ich sah mein Gesicht wegrutschen, äußerte: Ich bin geschockt. Das war sie auch. Ständig fiel ihr der Stift herunter. Sie beschwerte sich stante pede beim Hausmeister, der auch gleich kam. Entschuldigte sich mehrfach, hielt im Protokoll fest: der speiende Hahn solle bis morgen repariert sein, und versprach mir eine Wiedergutmachung.

Nuja. Das Bad ist immer noch ansehnlich. Recht groß, mit Badewanne und Waschmaschinenplatz. Der Blick in die Berge nicht zu verachten. Und es ist ruhig. Wirklich sonderbar aber war für mich, dass die Räume, die ich vom Besichtigungstermin mitgenommen habe, irgendwie andere waren. Sie waren mir geräumig, wurden mir im Laufe der Zeit gar weit und weiter. Ich habe sogar aus dem kleinsten Raum – ein Abstellkämmerchen – vor meinem inneren Auge, einen Tanzsaal gemacht. Das gelang mir schon einmal, vor vielen vielen Jahren, in Bergen op Zoom, als ich potselig in meinem Zelt lag, das sich dermaßen ausweitete als hätte es einen ganzen Hofstaat fassen wollen. An Phantasie mangelt es mir offenbar nicht. Nicht verwunderlich, ich vertrage ja auch keine Drogen, bin stets in anderen Sphären. Wer mit mir längere Zeit verbringt, nimmt das wahr. So ist die Entscheidung gefallen, dass der Venusberg eine Herberge meiner alten Möbelstücke wird, die ohnehin sehr raumeinnehmend sind. Ein schwerer weitflächiger Altherrenschreibstisch mit einer Schublade und jeweils einer Tür in den zwei stämmigen Beinen gehört dazu, ebenso ein alter Sessel, als auch mein bestes Stück: ein alter Jugendstilschrank mit ovalem Spiegel, Verzierungen und bunten Glaseinlassungen. Ein Schrank, der einen einlädt, ihn zu atmen, ihn zu begehen. Das wird nun unser gemeinsamer, in dem unsere Garderobe ihr Unwesen treiben kann: wenn im Busen der Kleider die Blumen schwellen … 

Daher kommt er zu uns in den Keselground, in dem wir leiben und leben, wie es wohl kaum jemand anderem aufgrund der Quadratmeterzahl möglich ist. Allein die vielen Pflanzen und ihre Lust üppig zu werden, bezeugen es. Es wirkt auf uns, als fühlten sie sich äußerst wohl, sie kokettieren gar mit ihrer Erscheinung, der sie sich bewusst sind, da sie spüren, dass wir sie wahrnehmen. Fräulein Flamingo Anthurie, noch im zarten Pubertätsalter macht es vor, reckt und streckt sich, gibt alles, was wir ihr geben: in ihren grazilen Wuchs, vor allem aber in ihre wächsernen, knatschroten Phallusblüten. Ihre Babys interessieren sie nicht, sie will einfach nur obszön sein: Schminke! Schminke! Kajal und Lippenstift, ist offenbar ihr einziger Begehr.

Dennoch werden wir den Venusberg gemütlich herrichten. Meine zwei Teppiche werden es leisten. Denn es wird auch Besuch kommen, dem wir somit eigene vier Wände anbieten können. Ansonsten werde ich ihn wohl, habe ich irgendwann mal wieder mehr Zeit, als kleines Künstleratelier nutzen, in dem ich mich am Boden ausbreiten kann, um wieder zu malen. Mit vollem Körpereinsatz, mit Spatel und Spachtel, mit meinen Händen. Das war mir lange nicht möglich.

Wir beide investieren viel Energie. Betreiben Aufwand in allen Bereichen, unsere täglichen Tagespensi sind alles andere als plätschernde. Es ist mir oft, als müssten wir zum Fluss gehen, um uns Wasser zu holen. In den Wald, zum Holzhacken, um es warm zu haben. Das ist natürlich eine Übersetzung. Aber die verwendete Kraft ist oft dieselbe. Wir schleppen, wir laufen, laufen und laufen, zimmern und werkeln. Vergessen dies und das, irren, rennen ineinander, stehen staunend im Bauern herum. Bis einer von uns beiden müde unter der Achsel des Anderen einschläft.

Du bist mein Ort, schriebst du mir, … liest gerade unsere Briefe, gehst durch deinen Zettelkasten.

Deine Chimären sind seit heute nun endlich vollständig ausgedruckt. Es wird Zeit, dass ich wieder über dein Werk schreibe, ich trage es mit mir herum, seit ich damit begonnen habe.

Brouillon

Formenspiel

Die Unbekümmertheit, mit der die Jugend ihr Formenspiel beginnt, kommt dem Gefühl für das Unendliche nahe, die Variationen lassen sich beliebig anordnen und ergeben einen Zufall nach dem anderen, aus dem sich das wahre Erleben speist. Jede Auflösung ist ein Zugewinn, eine weitere Sensation. Wenn ich über die Jahrzehnte nachdenke, die hinter mir liegen, kann ich mir nur zu all den provozierten Zufällen beglückwünschen. Trotzdem denke ich an die nicht angenommenen Varietäten, die den Ist/Soll-Faktor derart störten, dass mir nichts anderes übrigblieb, als über die Wahrscheinlichkeiten eines Ergebnisses zu spekulieren. Das Ergebnis ist meist ein Tiefenverständnis, das sich im Absurden äußert.

Brouillon

Alibert

Seit heute Nacht drängt es mich wieder zur Maschine (ich werde zu einem späteren Zeitpunkt noch etwas zu meiner Schreibmaschinensucht erläutern). Einerseits ist bei mir nicht selten genug die Sprache selbst der Protagonist des Phantastischen, andererseits leide ich dadurch unter der Nivellierung dessen, was man in Deutschland Literatur nennt. Ich habe mein ganzes Leben in den Dienst der Sprache gestellt und mir oft genug die Frage gestellt, ob ich das besser nicht getan hätte. Eine Wahl hatte ich aber nicht.

Vor einem Jahr: 
Die erste Erzählung, die ich jemals verfasste, habe ich nicht aufgeschrieben, weil es eine Erzählung ist, die so oft passiert, im Badezimmer, wenn man die Türchen des Spiegelschranks so stellt, dass man selbst sich bis in die Unendlichkeit hinein vervielfältigt. Aber wem ist in diesem Augenblick schon bewusst, dass dies nicht nur das Prinzip alles Kunst ist, sondern das Rätsel der gesamten Existenz.

Brouillon

Eos

Gestern Abend mit meinem Artikel für die IF-Horrorausgabe fertig geworden. Jetziger Zeichenstand ohne Rotmarker: 24653. Ich freue mich, sie irgendwann in den Händen zu halten. Erlebe das als eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit von Vielen. Wobei ich vor Tobias Reckermann meinen Hut ziehen muss, der, neben eigenen Beiträgen, das Ganze setzt, lektoriert.

Heute Kokkos Kamera eingeweiht, die sie uns vermacht hat. In Schale geworfen und rein in die Brennnesseln. Autorenbilder von dir erstellt. Zuvor aber noch Bilder von dir beim Frühstück gemacht, auf denen du so herzlich lachst. Mit Schokocreme im Mundwinkel. Die lege ich ganz gern neben deine Autorenbilder. 🙂 Da lacht die Koralle. Danach dann Bilder von mir geschossen. Eines für Tobias. Restliche waren Spielereien wie diese:

Gerade eben lange mit dir über die Menschen, die wir geprägt haben, die uns geprägt haben, gesprochen, und wie uns das verändert hat. Wie wir einmal waren und wie wir heute sind.

Brouillon

Auf dem Nebelhorn

Heute Morgen aufgewacht und mich an eine kurze Alptraumsequenz erinnert. Ich träumte mich einer Situation beiwohnend, von der ich den Eindruck hatte, ich solle sie einfach nur sehen. Und was ich sah, war grauenhaft: Menschen vernähten ein Schwein in seiner eigenen Haut, die sie ihm von hinten her ab- und übers Gesicht zogen. Es erstickte in ihr.Um kurz vor Zehn dann mit J. nach Oberstdorf gefahren, um uns mit den Gondeln hinauf auf´s Nebelhorn bringen zu lassen. Schade, dass du nicht auch dabei sein konntest. Zumal ich zum ersten Mal in den Bergen war. Es war großartig. Weder beim Hinauf- noch Herunterfahren musste ich erstaunlicherweise einen Druckausgleich machen. Nachdem wir auf dem Gipfel gespeist hatten, haben wir uns talwärts jede Ebene im Einzelnen vorgenommen. Um dich dann kurz nach 17 Uhr aus dem Haus zu klingeln, um mit dir noch einen Abstecher in die Stadt zu machen. Das hat er sich nicht nehmen lassen. Neugierig war er. Und du warst es auch.

Nun bin ich bergmüde.

P.S. Verzeih mir, dass du den ganzen Tag die Wohnung nicht verlassen konntest und auf der Suche nach deinem Schlüssel warst. Er war in meiner Tasche.

Bouquinist

Zementartiger Quarkkuchen

Lesetechnisch bleibe ich weiter bei Ricardo Piglia, „Ins Weiße zielen“ und „Falscher Name“ (letzteres ist mir in der Schweiz abhanden gekommen. Und danach dann den Erzählband „Der Himmel“ von Nona Fernández, deren Kurzroman „Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ mir bereits genau jenes Gefühl verschaffte, auf dem ich in jeder Literatur auf der Suche bin. Weil sich das zeit- und länderspezifisch nicht umreißen lässt (außer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, da finde und suche ich auch nichts), ist das ein schwieriger Prozess, der nicht durch eine Verschlagwortung abgekürzt werden kann. Von äußerster Wichtigkeit ist das, was Massimo Bontempelli 1927 eine „nouvelle atmosphère“ genannt hat, abgeleitet von einem Denken in Bildern, das kein Verhältnis zur linear geordneten Zeitvorstellung kennt. Gerade in Europa ist das Denken in eine eklatante Katastrophe geraten, mit dem die tiefen Schichten der Wirklichkeit schon lange nicht mehr erfasst werden können.

Obwohl der Tisch, an dem ich schreibe, regelmäßig wie ein Stall abgesprüht und ausgemistet wird, bleibt der kardinale Saustall stets die Konstante. Um 11 der letzte Arzttermin für diesen und nächsten Monat, zur Feier gab es einen zementartigen Quarkkuchen, der die Speiseröhre in einen gut betonierten Abwasserkanal verwandelt.

Brouillon

Neuheiß

nun es also so ist, dass mich die hitze in den raum zwingt, diesen nicht zu verlassen zwingt. Ich kann also das haus nicht verlassen und selbst innen ist es gefährlich, nur minimal bewegen, nur ein buch von hier nach dort tragen, ein luftschrauber im käfig ist an; lese von der hitze 1904 und lese von der hitze im 16ten jahrhundert: aber hat es den sommer über wenig getawet und ist sonsten auch an wasser grosser mangel furgefallen; und jetzt tawet es genausowenig und es gibt auch solche durre und fewersbrunst.

Brouillon

Hardcore-Jazz

Heute Morgen noch einmal beim Orthopäden gewesen. Meine linke Schulter war nun seit Dezember letzten Jahres eben kein Dreh-und Angelpunkt mehr. Nun bessert sich die Sachlage, muss aber, wenn ich wieder völlige Bewegungsfreiheit erlangen möchte, vielleicht in zwei Monaten operiert werden. Ich kann schreiben und lesen; muss ich mich etwa auch bewegen können? Ich arbeite gerade am zweiten Intermeso und an der siebten Abteilung „Wolf aus Erz“ für den Schwarzenhammer-Zyklus. Rose geschnitten, Hornveilchen ebenfalls; morgen werden wir von einem Baugerüst eingekesselt sein, auf denen Hampelmänner dem Haus einen neuen Anstrich verpassen werden. Ich empfange sie mit Hardcore-Jazz.

Vor einem Jahr: 
Wer bist du? Ist für mich eine grundsätzliche Frage. Ich wusste nie, wer du bist, wusstest du je, wer ich bin? Das Unbekannte ist für mich Die Unbekannte. In vielen Augen erkenne ich sie wieder, Augen, die von der Unbekannten benutzt werden. In Gesten sowieso. Aber selbst bei einem Spaziergang den Bach entlang, ist irgendwo ihre Stimme nicht zu hören. Ich vermute selbst, sie sieht mich hier sitzen (mein Arsch klebt vor Hitze auf dem Holzstuhl fest), wie ich in den Kaffee glotze, weil ich mich dort spiegeln kann.

Brouillon

Verlorene Vergangenheit

Heute kam nach sieben Jahren, die ich nun bereits wieder in Deutschland bin, der Rest meiner Manuskripte und Bücher an. Fabienne, die wirklich eine ausgezeichnete Archivarin ist, hat Bilder, Briefe, Romananfänge mitgeliefert, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass es sie gibt, teilweise bis in die 80er Jahre zurückreichend, als ich noch für das Theater arbeitete. Es waren Studioberichte dabei, als ich meine ersten Hörbücher einlas, Zeitungsberichte und eine Menge skurriler Dinge mehr. Teilweise kann ich gar nicht glauben, dass dies wirklich mein Leben war – aber natürlich weiß ich es besser. Schließlich war auch das Manuskript einer Story von Christian Kind, dessen Nachlassverwalter ich ja bin, dabei.
Sehr treffend, dass ich heute dieses Netzbuch eröffnet habe. Da ist eine Menge Platz für Reflexionen.

Portraits

Guy de Maupassant

Guy de Maupassant
Guy de Maupassant

Maupassant kümmerte sich nicht um die Ansprüche des Bürgertums, um ein geordnetes Leben, das für ihn voller Fäulnis war. Er entlarvte bewusst den Schein und die Täuschung der bürgerlichen Etikette, sowohl in seiner Prosa als auch in seiner Persönlichkeit. Doch das kostete ihn auch das Leben. Er starb 1893, geistig umnachtet, im Alter von 43 Jahren. Zu Lebzeiten hatte er den zweifelhaften Ruf eines skrupellosen Frauenverführers, der jeden zu seinem Vorteil zu manipulieren wusste. War Maupassants Haltung ironisch, pessimistisch oder einfach nur schockierend?

Er wurde 1850 geboren und hatte zeitlebens eine Abneigung gegen jede moralische Etikette. 1857 standen Flaubert und Baudelaire vor Gericht, weil sie mit Büchern wie „Madame Bovary“ und „Die Blumen des Bösen“ den öffentlichen Anstand verletzt hatten. Später nahm Flaubert den jungen Maupassant unter seine Fittiche und lehrte ihn die sanfte Kunst des bürgerlichen Benehmens. Sie besuchten ein Bordell, und der junge Guy, vom Sex besessen, brauchte keine weitere Belehrung. Flaubert, der sich jeden Gedanken verbot, der ihn von der Muse ablenken könnte, versuchte, seinen Freund zurückzuhalten, aber seine endlosen Ratschläge über die mönchische Rolle des Künstlers stießen bei Maupassant auf taube Ohren.

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