Gut Tisch will Weile haben. In meiner Klause gibt es zwar einen Tisch, aber den benötige ich für die Büroschreibmaschine, meine Zettel, Ablagen, Typoskripte. Anfangs ging ich dazu über, zum Essen alles wieder abzuräumen, aber das brachte mir entsetzliche Gemütszustände bei. Und irgendwann ging das dann nicht mehr, es wurde auf dem Boden gegessen.
Revival / Stephen King
Stephen Kings großartiger neuer Roman „Revival“ bietet das atavistische Vergnügen, in der Dunkelheit näher ans Lagerfeuer zu rücken, um einer Geschichte von jemandem zu lauschen, der genau weiß, wie er seinen Zuhörern eine Gänsehaut verschaffen kann, indem er ihnen zuflüstert: „Schau nicht hinter dich“.
King war immer großzügig, wenn es darum ging, die Autoren zu nennen, die ihn inspiriert haben. Diesmal nennt er Arthur Machens The Great God Pan (1894), eine der besten Fantasy-Geschichten, die je geschrieben wurden.
Es mag schwierig erscheinen, auf Anhieb zu beurteilen, was man von King in letzter Zeit zu erwarten hat. Galt er in den 70er Jahren noch als Meister des Horrors, so hat er dieses Etikett längst an eine jüngere Generation abgegeben und wird allgemein als „Chronist des amerikanischen Alltags“ anerkannt. Die Grotesken, die übersinnlichen Spinnereien etc. hat man ihm längst verziehen. King ist eindeutig im Mainstream angekommen, er erhält den Beifall des literarischen Establishments, über das er sich gerne lustig macht. Der große amerikanische Roman 11/22/64 war nicht der einzige Grund dafür, aber er hat geholfen. Die Meinung der literarischen Torwächter geht eindeutig dahin, dass King einer der ganz großen amerikanischen Erzähler wäre, wenn er nur auf seine exzentrischen Ausbrüche verzichten könnte. Im Umkehrschluss heißt das natürlich nichts anderes, als dass er es längst ist. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Harold Blooms unermüdlicher und scharfer Kritik an Kings Sprache und den feierlichen Adjektiven, die sich in den letzten zehn Jahren angesammelt haben, um Kings Bedeutung als Schriftsteller zu beschreiben.
Beides führte dazu, dass die Torwächter widerwillig anerkannt haben, den Kerl nicht einfach aussperren zu können.
King hatte schon immer mehr mit Ray Bradbury gemeinsam als mit Chuck Palahniuk, und er sitzt trotzdem komfortabel im Kanon der „amerikanischen Verrückten“ wie etwa David Lynch, hat indes eben wenig gemein mit dem einfach gestrickten Ergüssen eines Dean Koontz oder Wes Craven.
In Revival aktualisiert King Machens fin-de-siecle-Setting und den erotischen Subtext, in dem ein 17-Jähriges Mädchen aufgrund einer primitiv ausgeführten Lobotomie die Befähigung erhält, in die erschreckenden Abgründe zu blicken, die unserer Welt zugrunde liegen. „Revival“ öffnet sich an einem Ort, der unserer modernen Welt beinahe so fern ist wie Machens gaslichtbeschienenes London: dem ländlichen Harlow, Maine, in den frühen 60er Jahren. Jamie Morton, der Erzähler des Romans, erinnert sich an einen Vorfall, der geschah, als er sechs Jahre alt war, das jüngste von fünf Kindern einer ausgelassenen, großherzigen Kinderschar. Er ist draußen, spielt mit seinen Spielzeug-Soldaten, als ein Fremder auftaucht.
Der Fremde ist Charles Jacobs, der neue Pfarrer von Harlow, glücklich verheiratet mit einer hübschen Frau und Vater eines kleinen Kindes. Jacobs freundet sich schnell mit Jamie an (King lenkt hier sofort von jeder Anspielung auf Kindesmissbrauch ab, denn darum geht es nicht). In seiner Garage zeigt er dem Jungen ein Wunder: ein realistisches Tischmodell der Umgebung, mit einem echten Miniatursee und Strommasten. Mit einer Handbewegung erhellt Jacobs die Szenerie. Straßenlaternen leuchten auf, eine Jesusfigur wandelt über die Wasseroberfläche des Sees.
Jamie ist begeistert, auch als Jacobs das Geheimnis des scheinbaren Wunders lüftet: „Elektrizität“, sagt der Geistliche später, „ist eines von Gottes Toren in die Unendlichkeit“. Jamie wird zum Ersatzsohn für Jacobs, eine Rolle, die Jamie auch nach der Tragödie und dem Verschwinden Jacobs beibehält.
Alle Themen des Romans sind in dieser frühen Szene angelegt: das Tauziehen zwischen Wissenschaft und Glauben; die Fähigkeit eines guten Krämers, sei es ein Prediger oder ein Schausteller, eine Menschenmenge mit dem Versprechen auf Heilung in seinen Bann zu ziehen. Vor allem aber untersucht der Roman die Natur des Machtmissbrauchs, sei es durch Liebe, Religion oder durch Jacobs lebenslange Obsession: Elektrizität.
Wie so oft entwickelt King die Geschichte schleichend und mit viel Gefühl für seine Figuren. Viele von ihnen sind gezeichnet von Trauer und Verlust, von Abhängigkeit und Enttäuschung. Der Zahn der Zeit hinterlässt seine Spuren, nagt an der Jugendliebe ebenso wie an den einstigen Ambitionen. Der Detailreichtum von Jamies Kindheit in den 60er Jahren – Vanille-Schoko-Erdbeer-Eiscreme, der Geruch von Regenwürmern, ein halb gerauchter Joint, der in einer Zuckerdose versteckt wird, die Freuden, die das Erlernen des E-Gitarrenspiels bereitet, während Jamie sich auf eine Karriere als Sessionmusiker vorbereitet – ist wie immer bei King mit außergewöhnlicher Liebe zum Detail ausgearbeitet.
Glück ist bekanntlich literarisch schwer interessant darzustellen. Idyllen werden nur zu dem Zweck konstruiert, sie zu zerstören. Aber Kings Erzählung gibt die Sehnsucht nicht auf, um eine kaputte Welt zu verachten, in der Jamie wie wir alle leben muss.
Jahrzehnte nach Jacobs Verschwinden aus Maine, begegnen sich er und Jamie auf einem Jahrmarkt wieder. Der ehemalige Prediger überrascht seine Zuschauer dort mit elektrischen Kunststücken. Später, in seiner Garage, benutzt Jacobs seine geheime Elektrizität, um Jamie per Elektrokrampftherapie von seiner Heroinsucht zu heilen. Aber die beiden trennen sich, als Jamie die wahren Absichten seines ehemaligen Freundes erkennt. „All deine Kunden sind nichts weiter als Versuchskaninchen“, sagt Jamie. „Sie wissen es nicht. Ich selbst war ein Versuchskaninchen.“
Aber das war noch nicht ihre letzte Begegnung. Jamie findet sich in Jacobs bösartige Umlaufbahn gezogen. Er findet immer mehr heraus, was mit den Menschen geschah, die sich von Jacobs „heilen“ ließen, denn es kam zu verheerenden Nebenwirkungen.
Und hier beginnt sich der Roman mit Machens Meisterwerk zu verzahnen. Kings zurückhaltende Prosa explodiert förmlich in ein Ende, das modernen Realismus mit dem kosmischen Schrecken, der an H.P. Lovecraft und an den Filmklassiker „Das grüne Blut der Dämonen“, erinnert. Die quälende Beziehung zwischen Jamie Morton und Charles Jacobs erreicht die Trauerschattierung einer großen Tragödie.
Was dem Buch ebenfalls gut bekommt, ist, dass man, wie bei den letzten King-Veröffentlichungen, den Originaltitel beibehalten hat, anstatt wie in der Vergangenheit puren Schwachsinn zu fabrizieren.
Originaltitel: Revival
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Changiere das rechte Ding
Fortschritt ist zunehmende Entropie; Veränderung, die nicht eigentlich den Fortschritt bezeichnet, sowieso. Genau genommen gibt es einen Fortschritt nicht, er bezieht sich nur auf zwanghaftes Verhalten. Veränderung hingegen kann ein notwendiger Umstand sein. Mit ihr ist gemeint, die Dinge willentlich in einen anderen Zustand zu überführen, denn Veränderung ist sekündlich, demnach nicht der Rede wert. Zwei große Zeitparzellen verzeichne ich : Das Fichtelgebirge der Abkunft; Das Allgäu des Bauern. Unterbrochen sind diese Zeitparzellen durch unablässiges Reisen und Stolpern, sowie mein Leben in der Schweiz. Ein kurzes Aufbegehren, das mich nicht Fuß (und Knöchel) fassen ließ, so sehr ich es auch versuchte. Dass ich je nur meine Ruhe wollte, um schreiben zu können, ist dem Erringen um jeden Preis zuzurechnen, ein wahrer Wettkampf mit den Unbilden einer im Grunde menschenverachtenden und seelenvernichtenden Gesellschaftsform. Nun, ich nehme das zur Kenntnis und setze meinen Weg fort. Sinnlos, nonkonform, aber unablässig. Standin‘ at the crossroad, tried to flag a ride. Didn’t nobody seem to know me, babe, everybody pass me by. Betwixt and Between.
Poe und Lovecraft
Geschrieben von Robert Bloch
Ich vermute, dass sich Vergleiche zwischen Edgar Allan Poe und Howard Phillips Lovecraft nicht vermeiden lassen, in den letzten Jahren (1973) sind sie bereits unüberschaubar geworden. Ich werde die üblichen Hinweise auf die Ähnlichkeiten in ihrem Werk nicht wiederholen – es wird also grundsätzlich keine Erwähnung von schwarzen Katzen, Wiedergängern oder antarktischen Schauplätzen geben. Auch habe ich nicht die Absicht, mich auf die Seite jener zu schlagen, die behaupten, dass es keine wirklichen Berührungspunkte gibt, außer den üblichen Figuren und Themen, die allen Geschichten des Genres gemeinsam sind.
Für mich ist das eine unhaltbare Aussage: Lovecraft war, wie jeder Autor von Fantasy oder Horrorliteratur nach Poe, notwendigerweise von den Werken seiner Vorgänger beeinflusst – und in gewisser Weise muss sein Werk von diesem Einfluss abgeleitet werden. Tatsächlich zeigt die Hommage an Poe in Lovecrafts Essay Supernatural Horror In Literature einen Grad der Wertschätzung und Bewunderung, die keinen Zweifel am tiefen Eindruck aufkommen lässt, den dieser frühe Meister auf ihn ausübte. Jedoch stellt für mich die Untersuchung ihrer Hintergründe und ihrer Persönlichkeiten den fruchtbarsten Bereich dar, beide miteinander zu vergleichen.
Schauen wir uns die Fakten an. Sowohl Poe als auch Lovecraft wurden in New England geboren. Beide wuchsen in jeder Hinsicht ab einem frühen Zeitpunkt ihrer Kindheit vaterlos auf. Beide hegten eine lebenslange Liebe zur Poesie und den Elementen einer klassischen Ausbildung. Beide nutzten einen altertümlichen Stil und waren beherrscht von einer persönlichen Exzentrik, die sie die ganze Zeit bewusst pflegten.
Obwohl Poe einen Teil seiner Jugend in England verbracht hatte und im späteren Leben an der Atlantikküste entlang reiste – und obwohl Lovecraft sich für einen Urlaub nach Kanada und ein paar Jahre vor seinem Tod hinunter nach Florida gewagt hatte – bewegte sich keiner der beiden je westlich der Appalachen. Lovecraft umging sie, um E. Hoffman Price einen kurzen Besuch in New Orleans abzustatten, aber grundsätzlich waren er und Poe Männer des Ostens. Ihre Auffassung war provinziell, und das sogar eng gesteckt.
Beide Männer waren gegenüber Ausländern in der Masse misstrauisch: beide hegten eine tiefe Bewunderung für die Engländer. Diese Haltung ist offensichtlich in ihrem Werk vorhanden, und es gibt mit einigen Weglassungen und Veränderungen die Hauptströmung des amerikanischen Lebens wieder.
Ein Leser, der versucht, einen kurzen Blick auf die Vereinigten Staaten von 1830 – 1850 zu werfen, würde eine kleine Erleuchtung bei der Lektüre von Poes Gedichten und Erzählungen bekommen. Das war die Zeit, wo die ganze Nation einen westlichen Schub bekam, beginnend bei der Wanderung der Trapper und Pelzhändler in den Rocky Mountains bis zum Ende des Goldrauschs in Poes Todesjahr. Und keine Spur findet sich davon in seinem Werk.
Bryoneske Helden, die in abgeschiedenen Britischen und kontinentalen Örtlichkeiten kaum die Amerikanischen Verhaltensweisen reflektieren, den Fall des Alamo, den Mexikanischen Krieg und den wachsenden Aufruhr gegen die Sklaverei.
Auch wird ein Leser kaum weniger typisch Amerikanische Protagonisten unter den Anhängern, Professoren und regional Orientierten finden, die Lovecrafts Erzählungen dominieren, in denen es kaum einen Hinweis auf die Roaring Twenties oder die Große Depression gibt, die im darauffolgenden Jahrzehnt folgte. Abgesehen von ein paar Bemerkungen über den Zustrom von Immigranten und der damit verbundenen Zerstörung alter Traditionen und Orientierungspunkten, sowie die kurze Erwähnung Intellektueller, wilder Studentengruppen, ignorierte Lovecraft das Nachkriegs-Jazz-Jahrzehnt völlig: Coolidge, Hoover, FDR, Lindbergh, Babe Ruth, Al Capone, Valentino, Mencken und die Prototypen des Bürgertums haben keine Existenzberechtigung in HPLs Gefilden. Es ist schwer zu glauben, dass Howard Philipps Lovecraft ein literarischer Zeitgenosse Hemingways war.
Und noch einen weiteren Vergleich zwischen Lovecraft und Poe gibt es; einen von ungeheuerlicher Wichtigkeit in jeder Hinsicht auf ihr Werk, weil er den Vorwurf mildert, dass zwei Schriftsteller der aktuellen Welt völlig ahnungslos und unrealistisch gegenüberstanden.
Natürlich verweise ich auch auf ihr Interesse an der Wissenschaft. Beide, Poe und Lovecraft, waren scharfsinnige Beobachter der wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Entwicklungen ihrer Tage, und beide verarbeiteten die neuesten Erkenntnisse und Theorien in ihren Schriften. Man muss sich nur Poes Gebrauch des Mesmerismus, seine Beschäftigung mit der Ballonfahrt (Balloon Hoax), die detaillierte Nutzung von Daten in Arthur Gordon Pym ansehen, um das zu untermauern.
Lovecraft für seinen Teil berief sich auf wissenschaftliches Hintergrundmaterial in seiner Pym-ähnlichen Erzählung Die Berge des Wahnsinns, in Der Schatten aus der Zeit und anderen Arbeiten; bemerkenswert ist seine sofortige Aufnahme des neu entdeckten „neunten Planeten“ in Der Flüsterer im Dunkeln.
Das Interesse Lovecrafts an Astronomie führte zweifellos zu seinem zunehmenden Interesse an anderen Bereichen wissenschaftlichen Strebens, so wie Poes frühe Erfahrung in West Point seine Beschäftigung mit Codes und Ziffern befeuert haben müssen. Und beide waren als professionelle Schriftsteller weitläufig belesen und kannten die Literatur ihrer Zeit genau: Poe als Berufskritiker demonstrierte seine Kenntnisse in seinen Aufsätzen und Lovecraft tat dies in seiner gewaltigen Korrespondenz, in der er beweist, dass er Proust, Joyce, Spengler und Freud gelesen hatte.
Aber der Punkt ist, dass sich Poe und Lovecraft dazu entschieden haben, dem Gebaren der zeitgenössischen Literatur den Rücken zu kehren und ihre eigenen individuellen Phantasiewelten zu erschaffen. Und vor allem darin waren sie sich gleich. Und darüber sind wir Leser von Poe und Lovecraft über alle Maßen glücklich. Wir werden nie erfahren, und uns ist es auch egal, was Edgar Allan Poe über Andy Jacksons „kitchen cabinet“ dachte, oder wie H.P. Lovecraft den Teapot Dome Scandal (Anmerkung des Übers.: amerik. Bestechungsskandal der 1920er Jahre) betrachtete. Das ist leicht zu verschmerzen, wo uns doch beide Einblicke in eigenartige Welten gegeben haben, die, völlig provokativ, ihre eigenen sind.
Die schlußendliche Ähnlichkeit aber ist die: Poe und Lovecraft sind unsere zwei Amerikanischen Genies der Fantasy, der eine vergleichbar mit dem anderen, aber beide allen überlegen, die in ihrem Fahrwasser treiben.
Copyright-Notiz: Übersetzt von Michael Perkampus © 2017. Der Artikel erschien im Original in „Ambrosia Nr. 2“ (August, 1973), © 1973 Alan Gullette und Robert Bloch. Der Nachdruck erschien in H.P. Lovecraft: Four Decades of Criticism, editiert von S.T. Joshi, Ohio University Press, 1980), pp. 158-160, © 1980 Ohio University Press.
Das Rauchgespenst / Fritz Leiber
Fritz Leiber, bekannt durch seine Lankhmar-Geschichten, war einer der ersten Autoren, die das Horror-Genre aus seinem 19. Jahrhundert-Mief befreite und ihm neue, schwärzere Impulse gab. Viele seiner Geschichten haben ihr Zentrum in der modernen Welt und zeigen deren Gesicht in seiner ganzen Schäbigkeit, Abscheulichkeit und Ausbeutung. Themen wie Alkoholismus, Armut und Rassismus werden sachlich gehandhabt, während der Inhalt stets düster ist: Sand, Sediment, Schmutz sind als physikalische Substanzen vorherrschend.
Die Tausend Träume von Stellavista / J. G. Ballard
Wer bereits mit Ballards Werk vertraut ist, der wird auch seine surreale Bildsprache bereits kennen: mutierte tropische Pflanzen, stillgelegte Flugzeuge und ein besonderes Korallenwachstum. Die Geschichten in dieser Sammlung stammen aus der letzten Phase seines Schaffens, als er noch als exzentrischer “Science Fiction” – Autor betrachtet wurde, den man im Grunde gar nicht zuordnen konnte, denn Ballards Geschichten hatten nichts mit der konventionellen SciFi am Hut.

Die Figuren dieser grandiosen Erzählungen sind überwiegend Künstler und Alkoholiker, viele von ihnen körperlich verstümmelt, wie Raymond, ein ehemaliger Pilot, der wegen seines kaputten Beins nie wieder fliegen wird, (Die Wolkenbildner von Coral D), oder seelisch mitgenommen wie der Rechtsanwalt Howard in Die Tausend Träume von Stellavista. Die Protagonisten (die bei Ballard immer männlich sind – Doktoren, Wissenschaftler, Psychologen), sind füreinander Rätsel – und vielleicht auch für Ballard selbst – in ihrem Hass, Neid, den obsessiven Erschöpfungszuständen, ihren gebrochenen Persönlichkeiten und Manien, die sie im Scotch ertränken.
So wie die Figuren gegenseitig Echos des anderen sind, zieht sich das Zerbrochene durch ganz Vermillion Sands, dem Wüstenkurort der ausgefallensten Träume der Reichen. Der Verfall geht langsam aber stetig vor sich und spiegelt sich in Ballards Prosa. Obwohl wir es hier mit Erzählungen zu tun haben, die einem klassischen Schema folgen, wird die Handlung nicht vorwärts getrieben, sondern stagniert. Der offensichtliche Einfluss des Surrealismus auf Ballards Werk äußert sich allerdings nicht in Wortspielen und Sprachexperimenten (obwohl es diese in anderen Arbeiten Ballards durchaus auch gibt), offenbart sich stattdessen in der bildreichen Ausdruckskraft. Man denkt gelegentlich an Max Ernst oder Yves Tanguy.
Die Geschichten spielen sich alle vor dem Hintergrund exzessiver Langeweile ab, es herrscht die Lethargie des Hochsommers, wir befinden uns in einer Zone kollabierter Zeit, viele Figuren leiden unter Strandmüdigkeit, einer dekadenten Mattheit, die Ballard eigens für seine Protagonisten erfunden hat, die aber ohne große Schwierigkeiten auf die Mittelschicht von heute angewendet werden kann.
Vermillion Sands ist bevölkert von Schmarotzern, Geschäftemachern, Sykophanten und Pseudokünstlern. Man trägt lebende Kleidung, deren Farbe und Textur sich ständig verändert; tönende Skulpturen wachsen aus dem Boden, und empfindsame Pflanzen reagieren auf die Töne der Musik, psychotropische Häuser passen sich den Stimmungen ihrer Bewohner an und werden von deren Neurosen in den Wahnsinn getrieben. Der allgegenwärtige Langeweile versucht man durch unheimliche Spiele zu entgehen. Es ist nicht verfehlt, zu behaupten, Ballard hat in der Literatur den Status inne, den Dali mit seiner Malerei erreicht. Wir befinden uns in den Tiefen der Traumsubstanz, und die verrückten Bilder sind uns nicht ganz fremd, weil sie sich in unserem Unterbewusstsein befinden; sie haben den Charakter einer archetypischen Symbolsprache.
Von nicht geringer Konzentration
Es sollte also Johanniskraut sein gegen meinen fundamentalen Kummer. Aber ich löse mich in meine Bestandteile auf, wenn mir nicht etwas grundlegendes widerfährt. Doch liegt es am Zeitstrahl, dass ich, bevor ich meine Mitte erreichen kann, in den Orkus abdrifte. Ich habe mir schon oft überlegt, wie es kam, dass nichts kam, dass nichts wurde, wie ich das wohl geschafft haben könnte. Ohne Zutun freilich nicht, aber welches? Ich war doch stets ein Blatt Papier, das durch die Gegend geweht wurde. Ich war hier, um mir alles einmal anzusehen, zu befühlen. Aber ins Leben kam ich nie, es befand sich stets außerhalb von mir. Ich glotzte es an wie ein fremdes Wesen. Dabei kann man es zähmen, man kann es aber auch wild lassen. Mir widerfuhren die Dinge wie es der objektive Zufall vorschreibt. Erstaunliche Dinge, unmögliche Dinge. Genug für ein magisches Leben, genug zu behaupten, Surrealist gewesen zu sein. Von Handreichungen spreche ich gar nicht erst. Aber auf allen Wegen steht der Teufel, ich habe ihn gesehen.
Interview mit Thomas Ligotti
Interview geführt von Matt Cardin, Juli 2006, Erschienen in The Teeming Brain und in The New York Review of Science Fiction, Issue 218, Vol. 19, No. 2 (October 2006). Gedruckt erschienen in Matt Cardin: Born to Fear (Interviews mit Thomas Ligotti)
Übersetzt von Michael Perkampus, mit freundlicher Genehmigung von Matt Cardin.
Anmerkung: Dieses Interview übersetzte ich im Dezember 2014, als ich begann, unter einer ähnlichen Problematik zu leiden wie Thomas Ligotti. Im Grunde war es für mich eine Art Trostpflaster. Daraus resultierte dann das Magazin PHANTASTIKON.

Brachgasse – übrige Bücher


Romantische Faszination
Die romantische Faszination für Somnambulismus, Hypnose, bzw, organischen Magnetismus beruht auf der Vorstellung, dass sich im Zustand des ausgeschalteten Bewusstseins das Geheimnis einer tieferen Verbindung des Individuums mit der Natur und dem kollektiven Unbewussten in einer immateriellen psychischen Dynamik enthüllen lassen.
Paterson
Ashbery sagt über William Carlos Williams, daß er in einer offenen Form und in Alltagssprache dichte. Was mir bleibt, ist die offene Form, fern jeder Schematik, die fehlende Geschraubtheit, ja, durchaus. Aber in seinen Prosagedichten rafft er Horizonte zusammen.
Seite 107, Paterson: Der letzte Wolf wurde im Jahr 1723 in der Nähe des Weisse Huis erlegt. Das ist fast wörtlich ein Satz, den ich in die Sandsteinburg schrieb, nämlich so (Seite 101):
Der letzte Wolf wurde am 21. Juli 1882 bei Mehlmeisel von Martin Wiesend, einem Gasthofbesitzer, im Laufe einer Jagd erschossen.
Ashbery, geschult an Elizabeth Bishop, Marianne Moore, W.H. Auden, und eben Williams, bedeutet mir sprachlich mehr, aber Paterson bleibt mir als Langgedicht ein unvergessliches Erlebnis
Besorgungen um zehn
Ich gehe auf der Straße und gebe vor, ein Auto zu sein, was man mir scheinbar nicht abnimmt, sonst wäre kein Hupkonzert aufgekommen. Unbeeindruckt blinke ich (hat man kein recht auf Langsamfahrt?) nach alter Herren Sitte mit dem linken Arm. Ich muss gar nicht aussteigen, um den Laden zu betreten, bin bereits das Ausgestiegene höchstselbt. Heute bedient wieder die blonde, feiste Nachbarin, die nach ihrer Schwangerschaft vor über zehn Jahren nie wieder in eine gewisse Windschnittigkeit zurückfand. Außerdem gibt es ja noch das zweite, das jüngere Kind.