Stories

Ich bin die Nacht: 8 Die wertvolle Duplone

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Bouquinist

Smee / A. M. Burrage

Der Schriftsteller A. M. Burrage äußerte einst den Wunsch, seinen Lesern einen wohligen Schauer über den Rücken zu jagen, so dass sie nicht anders können, mit einer brennenden Kerze zu Bett gehen, ganz unerheblich, wie tapfer sie sich fühlen mögen. Doch seine Gespenstergeschichten, von denen eine Auswahl 2022 in einer opulenten Ausgabe der British Library erschien, bieten weit mehr als bloßen Grusel. Der in Middlesex geborene Burrage (1889-1956) begann bereits während seiner Schulzeit mit dem Schreiben von Geschichten, zunächst für Jugendmagazine. Doch erst nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg 1918 reifte er zu einem meisterhaften Autor übernatürlicher Geschichten heran. Seine besten Werke entstanden in den 1920er Jahren, einer Zeit, in der die Gespenstergeschichte eine ihrer zahlreichen Renaissancen erlebte. Dennoch ist sein Werk hierzulande weitgehend unbekannt: Eine deutsche Ausgabe seiner Erzählungen gibt es bis heute nicht.

Burrages Erzählungen sind von unterschiedlicher Qualität, sie reichen von sentimentalem Pathos bis zu purem Horror und phantastischen Alternativrealitäten. Die genaue Anzahl seiner Gespenstergeschichten ist nicht eindeutig belegt, es sollen aber weit über hundert sein. Material für eine deutsche Auswahl gäbe es also genug, aber freilich fehlen hierzulande die Leser.

Smee

Die Geschichte „Smee“ spielt an einem Weihnachtsabend und folgt der beliebten Tradition klassischer Spukgeschichten: Sie wird als Erzählung in einer Erzählung präsentiert. Tony Jackson sieht sich gezwungen, seinen Freunden zu erklären, warum er sich weigert, an ihrem Versteckspiel nach dem Abendessen teilzunehmen. Um sein Zögern zu begründen, erzählt er von einem unheimlichen Erlebnis in der Vergangenheit: einem Weihnachtsabend, an dem er mit elf Freunden das Spiel „Smee“ spielte. Dieses Spiel ähnelt dem klassischen Versteckspiel, hat aber eine raffinierte Variante. Der Name leitet sich von der phonetischen Ähnlichkeit zu „It’s me“ („Ich bin’s!“) ab.

Eine Person wird per Los zum „Smee“, wobei nur sie selbst um ihre Rolle weiß. Nach dem Erlöschen des Lichts versteckt sich „Smee“, während die anderen ihn oder sie suchen. Trifft ein Spieler auf einen anderen, fragt er: „Smee?“ Antwortet der andere mit „Smee!“, zieht der Fragende weiter. Der echte „Smee“ jedoch bleibt stumm, und wer ihn findet, verharrt ebenso schweigend bei ihm – bis alle Spieler beisammen sind. Der Letzte, der den Kreis erreicht, verliert das Spiel.

Was Jackson an jenem Weihnachtsabend jedoch erlebte, ging über ein harmloses Spiel hinaus: Ein Geist hatte sich unter die Mitspieler gemischt. Das Szenario ist perfekt für eine Spukgeschichte – ein weitläufiges, altes Haus mit unzähligen Zimmern und dunklen Gängen, dazu die Warnung des Gastgebers, bestimmte Bereiche aufgrund baulicher Eigenheiten besser zu meiden. In absoluter Dunkelheit verliert sich die Orientierung, und ein ungebetener Mitspieler bleibt unbemerkt, bis es zu spät ist.

„Smee“ spielt meisterhaft mit der Angst vor der Dunkelheit. Während Weihnachten gemeinhin mit heimeligen Lichtern verbunden wird, hat es in der angelsächsischen Tradition auch eine enge Verbindung zu Geistergeschichten. Doch während viele moderne Leser mit solchen Erzählungen wenig anfangen können, weil ihnen das Gespür für subtile Atmosphäre und literarische Raffinesse fehlt, entfalten sie für Kenner ihren vollen Zauber. Wer sich auf die düstere Eleganz solcher Geschichten einlassen kann, erlebt einen Genuss – ähnlich dem Weihnachtsfest selbst.

Bouquinist

Dennis Etchison: Blut und Küsse

Dennis William Etchison gilt als einer der originellsten lebenden Horror-Autoren Amerikas, gewann dreimal den British Fantasy Award als Autor und einmal den World Fantasy Award als Herausgeber.

The Blood Kiss (dt. Blut und Küsse) war Etchisons dritte Sammlung von Stories, die doch tatsächlich (und man wundert sich) von Bastei/Lübbe 1990 als bisher einzige Veröffentlichung des Meisters psychologischen Horrors auf deutsch erschien. Vermutlich ein Zufall, denn mit der Klasse, mit der Etchison aufwartet, lässt sich kein goldener Bart finanzieren. Das erklärt auch, warum er in Deutschland nahezu unbekannt ist und es kaum einer unserer Verlage angehen wird, diesen großartigen Autor für das hiesige Lesepublikum zu erschließen.
Der Reiz von Etchisons Geschichten, die er selbst so beschreibt:

„… ziemlich dunkel, bedrückend, fast pathologisch nach innen gerichtete Fiktionen über den Einzelnen und sein Bezug zur Welt,“

wird von ihrer Skizzenhaftigkeit erzeugt. Geschehnisse werden anders beleuchtet als gemeinhin üblich. Hinter den Zeilen entsteht eine Menge dunkler Raum, der angereichert ist mit Unbenennbarkeiten. Er lädt ein, sich in ihm zu verlieren, es gibt keinen Weg zurück. In diese Texte dringt man ein oder man bleibt außerhalb stehen. Einen Mittelweg gibt es nicht. Die Sätze nehmen den Leser weder bei der Hand, noch lullen sie ihn ein. Am Ende bleibt das trockene Gefühl auf der Zunge, das Gefühl, etwas Verbotenes beobachtet zu haben, das man nicht ganz versteht, obwohl man es doch gesehen hat; wie ein Alptraum, an den man sich am Morgen nicht mehr erinnern kann. Roh liegen diese Texte vor uns, scheinen keinen Körper zu besitzen, keinerlei Oberfläche, bestechen durch ihre raffinierte Tiefe und einen einzigartigen Stil.

Bouquinist

Pfeif nur, und ich komm‘ zu dir!

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Popkultur & Ikonen

London After Midnight

Lon Chaney war nicht nur ein Schauspieler, sondern auch ein Meister des Make-up. Er revolutionierte dessen Verwendung im Film, indem er komplizierte und transformative Looks kreierte, die es ihm ermöglichten, eine breite Palette von grotesken Charakteren darzustellen, vor allem in Filmen wie Der Glöckner von Notre Dame, Das Phantom der Oper und Die unheiligen Drei. Sein Koffer, gefüllt mit Schminke, Werkzeugen und Schnüren, wurde legendär.

Lon Chaney
Lon Chaney in London After Midnight

In London After Midnight schlüpfte Chaney gleich in mehrere Rollen; in einem Stummfilm aus dem Jahr 1927, geschrieben und inszeniert von Tod Browning, mit Lon Chaney in der Hauptrolle. Die Geschichte handelt von Inspektor Edward Burke (gespielt von Chaney), der in London den Mord an Sir Roger Balfour untersucht. Nachdem er einen Abschiedsbrief gefunden hat, wird der Fall zu den Akten gelegt und scheint vergessen zu sein, doch fünf Jahre später wird Balfours Haus von einem Mann mit Biberfellmütze, dunklen, eingefallenen Augen und Reißzähnen wieder bewohnt. Die Leute fragen sich, ob es sich dabei um den von den Toten auferstandenen Balfour handelt, aber in Wirklichkeit ist es Inspektor Burke selbst, der sich verkleidet hat, um den Mörder zu fassen.

Der Film zeigt einen der besten Make-up-Looks von Lon Chaney, mit einem Mund voller Haifischzähne und Drähten, die seinen Augen einen hypnotischen, aber versunkenen Blick verleihen.

Die wahre Macht des Films wird wohl ein Rätsel bleiben, denn die letzte bekannte Kopie wurde 1967 bei einem Brand in den Metro-Goldwyn-Mayer-Gewölben zerstört. Doch eine aus Fotografien rekonstruierte Fassung ist noch zu sehen. Einer der Gründe für ein Wiederaufkeimen des Interesses an diesem Films ist auch, dass Chaney die Rolle des Dracula in dem Film von 1931 spielen sollte, aber vor Beginn der Dreharbeiten starb und Bela Lugosi dadurch seinen großen Auftritt bekam.

Die ersten Jahrzehnte des Kinos waren im Wesentlichen der Wilde Westen. Es war eine Zeit des Experimentierens und wenig bis gar keiner Reglementierung, die Filmfans bis heute fasziniert – vor allem, wenn man bedenkt, wie viele dieser frühen Stummfilme durch Vernachlässigung oder Feuer verloren gegangen sind. Der Horror-Mystery-Film galt schon bei seiner Veröffentlichung als umstritten. Berühmt wurde der Film jedoch durch einen Mord im Jahr 1928, bei dem der Mörder behauptete, er habe Visionen von Lon Chaneys Figur gesehen, die ihm angeblich befohlen habe, eine Frau mit einem Rasiermesser zu zerstückeln. Dieser Mord sorgte für Schlagzeilen und trug zum düsteren Charme des Films bei. War in London After Midnight eine böse Macht am Werk? War es ein verfluchter Film oder nur eine bequeme Ausrede für einen geistesgestörten Verbrecher?

Am 23. Oktober 1928 wurde im Londoner Hyde Park ein blutbesudelter, verwirrter Mann namens Robert Williams gefunden. Neben ihm lag ein blutverschmiertes Rasiermesser und der leblose Körper einer Frau, Julia Mangan. Als die Polizei eintraf, zeigte Williams auf Mangan und schrie: „Ich war’s, sie hat mich geärgert.“ Williams wurde verhaftet und später im Old Bailey vor Gericht gestellt. Er behauptete, er und Mangan seien Freunde gewesen und er habe sie heiraten wollen, aber sie habe abgelehnt. Williams sagte, das Letzte, woran er sich in jener Nacht erinnere, sei, dass er Mangan pfeifen hörte:

„Dann fühlte ich mich, als würde mein Kopf explodieren, als käme Dampf aus beiden Seiten. Alles Mögliche ging mir durch den Kopf. Ich dachte, ein Mann hätte mich in die Enge getrieben und schnitt Grimassen. Er drohte mir und schrie mich an, und sagte mir, was ich tun sollte!“

Wer war dieser Mann? Kein anderer als der Schauspieler Lon Chaney, den Williams kürzlich in London After Midnight gesehen hatte. Williams behauptete, Chaneys unheimlicher Charakter habe irgendwie von ihm Besitz ergriffen und ihn zum Mord getrieben. Die Geschworenen konnten kein Urteil fällen, aber in einem Wiederaufnahmeverfahren 1929 wurde Williams für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Im letzten Moment wurde er jedoch dazu verurteilt, den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt zu verbringen.

Schon vor dem Mord von 1928 erregte London After Midnight Aufsehen. Denn darin ging es auch um Selbstmord, ein Thema, das in der höheren Gesellschaft im Allgemeinen nicht erwähnt wurde. Nachdem Williams sein Verbrechen begangen hatte, wurde der Film mit unaussprechlicher Gewalt assoziiert.

London After Midnight war dann auch nicht gerade ein Kritikerliebling. Es wurde bemängelt, dass die Zusammenarbeit zwischen Lon Chaney und Regisseur Tod Browning nicht ihre beste war. Außerdem ergebe die Handlung einfach keinen Sinn. Warum sollten schaurige Freaks plötzlich ein Haus bewohnen, in dem ein Mann ermordet worden war? Das Kinopublikum war, wie so oft, ganz anderer Meinung als die Kritiker. Der Film spielte fast 1 Million Dollar an den Kinokassen ein, eine beeindruckende Zahl für die damalige Zeit. Es war der erfolgreichste gemeinsame Film von Chaney und Browning.

Aus der Stummfilmzeit sind nicht viele Filme erhalten; die Library of Congress schätzt, dass nur 14 % dieser Filme in ihrem Originalformat erhalten sind. Ein Teil davon ist auf die Praktiken der Studios zurückzuführen, die die Filme nach ihrem kurzen Kinostart oft zerstörten. Und dann gab es da noch die unglücklichen Unfälle – Zelluloid ist leicht entflammbar, und Brände vernichteten häufig die gelagerten Filmrollen. So auch das Schicksal von London After Midnight. Die Popularität von London After Midnight stieg noch weiter an und wird heute von einigen als der „Heilige Gral“ der verlorenen Filme angesehen.

Journal

Sweeney Todd (Der teuflische Barbier)

Sweeney Todd

Basiert Sweeney Todd auf einer wahren Geschichte oder ist er nur eine Figur, die sich ein Schriftsteller ausgedacht hat?

Sweeney

Ich bin sicher, ihr habt alle schon einmal von ihm gehört. Sweeney Todd, der teuflische Barbier der Fleet Street. Sein Friseurstuhl war auf geniale Weise präpariert, denn nachdem Todd einem Kunden die Kehle durchgeschnitten hatte, bediente er einen Bolzen, der die Leiche rückwärts durch eine Falltür schickte, die in den Keller führte. Dort wurden die Opfer zu Fleischpastete verarbeitet, die in der angrenzenden Konditorei verkauft werden sollte. Geleitet wurde das Geschäft von einer Mrs Lovett, deren Vorname – je nachdem, wer die Geschichte erzählt – variiert.

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Bouquinist

Was wir im Feuer verloren / Mariana Enriquez

Auch hier ist es wieder, das Phänomen einer literarischen Sprache, die unserem Land völlig abgeht. Das Buch erschien bereits 2017 im Ullstein-Verlag, ist aber bei uns völlig unbekannt geblieben.

Ein verlassenes Haus strotzt vor Regalen mit Fingernägeln und Zähnen. Ein dämonisches Idol wird auf einer Matratze durch die Straßen der Stadt getragen. Ein abgemagerter, nackter Junge liegt angekettet im Hof eines Nachbarn. Mitten in der Nacht klopfen unsichtbare Männer an die Fensterläden eines Landhotels.

Diese gespenstischen Bilder flimmern aus diesen Geschichten hervor. Ihre Figuren werden Zeugen von Gräueltaten oder deren Schatten oder Nachbildern. All diese Geschichten werden aus der Sicht einer Frau erzählt, oft einer jungen Frau, und sie scheinen dem Grauen, das sie lockt, nur so lange standhalten zu können, wie über es erzählt wird. Schließlich gehen die Mädchen und Frauen von Enriquez freiwillig auf das zu, was sie am wenigsten sehen wollen. Sie öffnen die Tür, öffnen den Schrank, überqueren die Grenze.

Die psychische Innerlichkeit der Auseinandersetzung mit der eigenen Dunkelheit ist die Hauptstütze der Horrorliteratur. Und doch verlagert Enriquez diese Innerlichkeit nach außen in eine Landschaft, die von politischen und wirtschaftlichen Kräften grauenhaft zerrüttet wurde. Kinder, die auf der Straße leben, ein Mädchen, das nach einer illegalen Abtreibung auf dem Bürgersteig stirbt, Gefangene, die in einer Haftanstalt gefoltert werden, machen keinen Unterschied zwischen dem hellen Tag und der tiefen Nacht. Das Grauen ist ständig um uns herum.

In Der schmutzige Junge schüttelt ein bettelndes Kind demonstrativ die Hand von U-Bahn-Fahrgästen und beschmutzt sie absichtlich. In ähnlicher Weise küsst in der Titelgeschichte ein grässlich verbrannter Bettler die Wangen von Pendlern, und begeistert sich an ihrem Unbehagen. Die Gewalt stellt sich zur Schau und dringt in den Alltag ein. Während die meisten vor ihr zittern, werden die Frauen von Enriquez von ihr angezogen, als ob sie sehen wollten, was sie damit anfangen können.

Enriquez verbrachte ihre Kindheit in Argentinien während der Jahre des berüchtigten Schmutzigen Krieges, der endete, als sie zehn Jahre alt war. Zehntausende wurden gefoltert, getötet oder „verschwanden“ unter Umständen, die später durch eine pauschale Amnestie aufgehoben wurden. Es liegt auf der Hand, dass diese Taten und die damit einhergehende wirtschaftliche Instabilität und Korruption den Boden für Enriquez‘ Erzählungen bereiten.

Sie entstammt auch einer Tradition argentinischer Fabeldichter, beginnend mit dem verehrten Jorge Luis Borges. Borges und seine Freunde, die Schriftsteller Adolfo Bioy Casares und Silvina Ocampo, waren so sehr vom Horror angetan, dass sie mehrere Ausgaben einer Anthologie makaberer Geschichten gemeinsam herausgaben. Die Mischung aus Horror, Phantastik, Verbrechen und Grausamkeit hat einen besonderen argentinischen Stammbaum. Dabei handelt es sich nicht um Fantasy, die von der Realität losgelöst ist, sondern um eine schärfere Wahrnehmung der Übel, die wir durchwaten.

Die Protagonisten in Enriquez‘ Erzählungen sind sich meist ihres Privilegs bewusst, wenn man es es ein Privileg nennen kann, gerade so einen Ort zum Leben zu haben, genügend Nahrung und ein Gesicht, das nicht grotesk entstellt ist. Die Nähe zu jenen, die diese grundlegenden Annehmlichkeiten nicht haben, schafft eine Zerbrechlichkeit der vermeintlich Bessergestellten, was nicht daran liegt, dass diese Protagonisten ein Abgleiten in die Armut befürchten, sondern, dass die Vorzüge ihres Lebens so deutlich auf finsterem Dreck sitzen. Das hier Gebotene ist natürlich etwas völlig anderes als der Mainstream-Horrortrip, bei dem sich oft jemand unbekümmert dem Grauen nähert – die Begräbnisstätte unter der Wohnsiedlung oder das fade Mädchen, das nichts von den Klauen des Schlitzers ahnt. In der Welt von Enriquez ist niemand ausreichend abgeschirmt. Den verhätschelten Vorstädter gibt es nicht. Ihre Erzähler müssen sich im Alltag an fast unerträglichen Anblicken vorbeischleichen. Dadurch gewinnt der Akt des Schauens enorm an Bedeutung. Die Folgen sind schrecklich, aber es gibt dennoch ein Gespür für Handlungsfähigkeit, um zumindest den Blick in die richtige Richtung zu lenken.

Eine der herausragendsten Geschichte in der Sammlung ist wohl Tief unten im schwarzen Wasser, die einen lokalen Mord der Polizei an zwei Jugendlichen detailliert beschreibt. Indem sie die Staatsanwältin Marina Pinat einsetzt, um den Fall zu untersuchen, streift Enriquez das allgegenwärtige Problem der Korruption, der hoffnungslosen Kriminalität und der verantwortungslosen Verschmutzung, und erzählt eine eindringliche, schwarze und erschütternde Geschichte.

Einige der Frauen von Enriquez tauchen aus solchen Erfahrungen wieder auf. Die meisten tun das nicht. Aber sie zeigen sowohl Mut als auch Empörung über den schrecklichen Dreck, in den sie getaucht sind. In „Spinnennetz“ unternimmt eine Frau, die in einer missbräuchlichen Ehe gefangen ist, eine Reise über die Grenze nach Paraguay. Dort verbinden sich sowohl die Wildheit des Militärs als auch der ungezähmte Dschungel zu einer Geisterfalle, in der die Geschichte ins Paranormale abdreht und der Frau einige unerwartete Optionen eröffnet. Auch diese Erzählung bekommt einen plötzlichen Ruck, da der fein geschliffene Realismus plötzlich Fäden eines tieferen und mysteriöseren Ursprungs aufscheinen lässt.

Die Titelgeschichte knüpft fast dort an, wo „Spinnennetz“ aufgehört hat: Frauen protestieren gegen häusliche Gewalt mit eigener Gewalt. Silvina, die Protagonistin von Was wir im Feuer verloren, ist noch nicht ganz in der Protestbewegung engagiert. Die Geschichte endet mit einem verweilenden Blick auf ihren beispielhaften Gewaltakt, der bald folgen muss. Diese Pause vor dem Unvermeidlichen ist der Raum der fabulierfröhlichen Fiktion, die die starren Regeln der Realität aufdreht, um eine Lücke der Möglichkeit zu schaffen.

Das unermessliche Vergnügen an Enriquez‘ Fiktion ist die Schlüssigkeit ihrer Zweideutigkeit. Wir wissen nicht, wer ein verschwundenes Mädchen entführt, ein Kind ermordet oder einen Ehemann verschwinden ließ. Sie mussten einfach gehen. Die Welt verlangt ihr Opfer. Wir wissen nicht, was das schreckliche Gespenst ist, grau und triefend, das mit seinen blutigen Zähnen auf dem Bett sitzt. Aber wir wissen, dass es durch eine unausweichliche Logik, durch ein intensives Bewusstsein für die Welt und all ihr Elend da ist.

Bouquinist

Träume im Hexenhaus / H. P. Lovecraft

Das Buch der Geister und Spukhäuser
Natürlich gibt es die Erzählung in unfassbar vielen Auflagen, aber da ich gegenwärtig dabei bin, einige (aber längst nicht alle) Geschichten aus dem „Buch der Geister & Spukhäuser“, herausgegeben von Frank Festa, zu analysieren, war es an der Zeit, über sie an dieser Stelle zu sprechen.

Walter Gilman, Student der Mathematik und Volkskunde an der Miskatonic University, zieht in ein Dachzimmer des berüchtigten „Hexenhauses“ in Arkham, das als verflucht gilt. Die düstere Geschichte des Hauses wird schon bald offenbar: Es gehörte einst Keziah Mason, einer Hexe, die 1692 aus einem Gefängnis in Salem auf mysteriöse Weise verschwand. Gilman findet heraus, dass zahlreiche Bewohner des Hauses in den letzten zwei Jahrhunderten frühzeitig und unter bizarren Umständen gestorben sind. Besonders auffällig sind die ungewöhnlichen Dimensionen seines Zimmers, das einer unheimlichen, nicht-euklidischen Geometrie zu folgen scheint. Er entwickelt die Theorie, dass diese Struktur Reisen zwischen verschiedenen Dimensionen oder Ebenen des Universums ermöglicht.

Moderne wissenschaftliche Forschungen, insbesondere in den Bereichen Quantenmechanik und Topologie, zeigen erstaunliche Parallelen zu Gilmans Erkenntnissen. Arbeiten über Wurmlöcher, extradimensionale Räume und Multiversum-Theorien bestätigen die damalige fiktive Prämisse auf neue Weise.

Kurz nach seinem Einzug erlebt Gilman verstörende Träume. Er schwebt körperlos durch einen jenseitigen Raum voller unbeschreiblicher Farben, Klänge und fremdartiger Geometrien. In diesen Traumlandschaften begegnet er Wesen, die er instinktiv als intelligente Entitäten wahrnimmt. Dazu gehören schillernde, wuchernde, kugelförmige Blasen und eine sich ständig verändernde polyedrische Figur. Diese Erscheinungen agieren nicht nur eigenständig, sondern verfügen auch über ein verstörendes Bewusstsein.

Noch bedrohlicher sind jedoch seine nächtlichen Begegnungen mit Keziah Mason und ihrem teuflischen Vertrauten Brown Jenkin – einer rattenartigen Kreatur mit einem erschreckend menschlichen Gesicht. Brown Jenkin ist ein groteskes Wesen, das in der Folklore des Hauses immer wieder erwähnt wird. Er ist Keziahs Bote und Vollstrecker ihrer unheiligen Rituale. Er gleitet durch Wände und sucht Opfer auf grausame Weise heim. Gilman beginnt zu zweifeln, ob diese Begegnungen bloße Träume sind oder ob er tatsächlich zwischen den Welten wandelt.

Seine Erlebnisse spitzen sich zu und werden beunruhigend: Er wird in eine bizarre, fremdartige Stadt entführt entführt und bringt eine kleine Statue mit – ein Artefakt aus einem unbekannten Material mit einer seltsamen Legierung, das irdischen Wissenschaftlern Rätsel aufgibt. Die Lage eskaliert, als Gilman im Schlaf im schwarzen Buch des Azathoth unterzeichnet – unter dem Einfluss von Keziah, Brown Jenkin und dem unheilvollen „Schwarzen Mann“, einer Manifestation des niederträchtigen Nyarlathotep. Schließlich wird er in einen entsetzlichen Ritus verwickelt: Er findet sich in einem jenseitigen Raum wieder, wo er gezwungen wird, Azathoth am „Zentrum des Chaos“ zu huldigen und an der Entführung eines Säuglings teilzunehmen. Als er erwacht, entdeckt er Schlamm an seinen Füßen – und eine Zeitungsmeldung bestätigt tatsächlich die Entführung eines Kindes in der vergangenen Nacht.

In der Walpurgisnacht erreicht das Grauen seinen Höhepunkt: Gilman hat einen Alptraum, in dem Keziah und Brown Jenkin das entführte Kind in einem satanischen Ritual opfern wollen. In einem verzweifelten Akt stranguliert er Keziah, doch Brown Jenkin vollendet das Ritual, indem er dem Kind das Handgelenk durchbeißt und dann in einem dreieckigen Abgrund verschwindet. Als Gilman erwacht, vernimmt er ein lautes Geräusch, das ihn fast taub macht.

Er erzählt seinem Mitbewohner Frank Elwood von seinen Erlebnissen, doch in der Nacht wird Elwood Zeuge des ultimativen Horrors: Brown Jenkin frisst sich aus Gilmans Brust heraus. Kurz darauf wird das Haus verlassen und ein Sturm reißt das Dach ein. Jahre später machen Arbeiter bei dem Abriss des Gebäudes verstörende Funde: Keziahs Skelett, zerfallene Bücher der schwarzen Magie, eine Schale aus einem unbekannten Metall sowie Kinderknochen und ein rituelles Opfermesser. Besonders beunruhigend ist die Entdeckung einer deformierten Rattengestalt mit menschenähnlichen anatomischen Merkmalen – das Skelett von Brown Jenkin. Diese Funde werden im Museum der Miskatonic University ausgestellt und stellen die Wissenschaft bis heute vor Rätsel.

Lovecraft ließ sich bei der Geschichte ganz offensichtlich von Willem de Sitters Vortrag zur Größe des Universums inspirieren, den er drei Monate zuvor besucht hatte. De Sitter wird in der Geschichte direkt erwähnt und als mathematisches Genie bezeichnet. Die Erzählung greift Konzepte auf, die auch in Arbeiten von Albert Einstein und Arthur Eddington behandelt wurden – insbesondere die Nutzung höherdimensionaler Räume als Abkürzungen durch den normalen Raum. Das erinnert an Lovecrafts frühere Geschichte „Die Falle“ und zeigt eindeutig sein wachsendes Interesse an der Verbindung von Kosmologie und Horror. Auch Anleihen an Nathaniel Hawthornes unvollendetem Roman „Das Lebenselixier“ sind unverkennbar. (Dieses Fragment wurde später in den „Marmorfaun“ eingearbeitet).

Die Rezeption der Geschichte war gemischt. Zeitgenössische Kritiker empfanden die Handlung als entweder zu vage oder zu explizit. August Derleth bezeichnete sie als „schlecht“ und entmutigte Lovecraft so sehr, dass dieser sie nicht zur Veröffentlichung einreichen wollte. Doch ohne Lovecrafts Wissen tat Derleth es dennoch – und mit Erfolg. „Weird Tales“ veröffentlichte sie. Lovecraft lehnte sogar eine Radioumsetzung ab, da er befürchtete, die öffentliche Wahrnehmung (die über den platten Horror nicht hinaus kam) würde die Geschichte ins Lächerliche ziehen.

Spätere Kritiker bekräftigten Derleths Urteil. Lin Carter bezeichnete die Erzählung als „uninspiriert“, Steven J. Mariconda sprach von einem „großartigen Scheitern“, und S. T. Joshi nannte sie „eine der schwächsten späten Arbeiten Lovecrafts“. Viele monierten eine unzureichend durchdachte Handlung, die lediglich eine lose Abfolge bizarrer Bilder biete.

Neuere Bewertungen fallen eindeutig positiv aus, denn tatsächlich wird Lovecrafts kosmischer Horror hier so rein wie nie zuvor dargestellt. Michel Houellebecq zählt Träume im Hexenhaus ebenfalls zu den „großen Texten“ Lovecrafts und ordnet sie in den „definitiven vierten Kreis“ seines Werkes ein. Die Geschichte ist ein herausragendes Beispiel für Lovecrafts Ambition, Horror mit modernen wissenschaftlichen Theorien zu verbinden.

Bouquinist

Unheimliche Gesellschaft / Carlos Fuentes

Unheimliche Gesellschadt

Als einer der grundlegenden Autoren des „Booms“ hat der Mexikaner Carlos Fuentes in seinen wichtigsten Romanen – „Nichts als das Leben“ (1962), „Terra Nostra“ (1975), „Die Jahre mit Laura Diaz“ (1999) u.a. – eine interessante Reflexion über die kulturelle Vielfalt und Geschichte seines Landes angestellt. Gleichzeitig hat Fuentes, wie jeder Autor von Rang, mit Erzählungen wie jenen, die in seinem ersten Buch „Verhüllte Tage“ (1954) dargeboten werden, den Kurzromanen „Aura“ (1962) und „Das gläserne Siegel“ (2001), die Phantastik in seine Erzählungen einfließen lassen.

In diesem Sinne ist „Unheimliche Gesellschaft“ (2004) eine Sammlung von Rätsel- und Horrorgeschichten, ein Band mit sechs Geschichten und einer Schlüsselfrage: „Ist Leben diese kurze Spanne, dieses Nichts zwischen Wiege und Grab?“

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Portraits

Richard Middleton

Richard Middleton

Richard Middleton, bekannt für „Das Geisterschiff“, war ein versierter Stilist der unheimlichen Literatur. Zu den Lobeshymnen für Middletons Werk gehört diese Passage aus „Horror Literature“ (1981), herausgegeben von Marshall Tymn:

„Middleton, einer der interessantesten Stilisten der britischen Schauerliteratur, ist reich und überschwänglich in seiner Art, klassische Geistergeschichten zu erzählen (insbesondere die humorvollen), aber knapp und präzise in seinen originelleren psychologischen Geschichten.“

Und in „Shadows in the Attic: Neil Wilson, Guide to British Supernatural Fiction 1820-1950“, schreibt er:

„Die unbestreitbare literarische Fähigkeit des Autors erlaubt es den meisten Geschichten, sich über das rein Morbide und Sentimentale zu erheben“.

Richard Middleton

Richard Barham Middleton wurde am 28. Oktober 1882 in Staines, Middlesex, England, geboren. Während seiner Schulzeit wurde der verträumte sensible Jugendliche von Gleichaltrigen gehänselt. Das waren  Erfahrungen, die ihren Weg in seine Geschichte „A Drama of Youth“ fanden. Er wurde an der Cranbrook School in Kent ausgebildet und verbrachte ein Jahr an der University of London. Er bestand die Oxford und Cambridge Higher Certificate-Prüfungen in Mathematik, Physik und Englisch. Trotz seines akademischen Hintergrunds nahm er eine Stelle als Angestellter bei der Royal Exchange Assurance Corporation in London an. In dieser Zeit begann er, Essays und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen, und er schloss sich den New Bohemians an, einer Gesellschaft literarischer Männer, denen auch Arthur Machen angehörte.

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Bouquinist

Die stillen Gefährten / Laura Purcell

Die stillen Gefährten

Laura Purcell ist eine neue Stimme unter den jungen Autorinnen, die sich gerade daran machen, der Gothic Novel wieder neuen Atem einzuhauchen. Man erfährt von dem gegenwärtige Geschehen im Augenblick noch nicht allzu viel, vielleicht gerade deshalb, weil sich die einschlägigen Medien der Sache noch gar nicht angenommen haben und es gibt auch noch keinen spezifischen Verlag, der einen Vorstoß wagt und die New Wave of Gothic Novel ausruft. Alles scheint noch etwas vage beäugt zu werden, aber nach und nach tauchen immer mehr Töchter Jane Austens auf, eine davon jüngst im Festa-Verlag.

Laura Purcell ist eine dieser Anhängerinnen Jane Austens. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass es jene gibt, die Jane Austen nur von den höflichen Komödienadaptionen im TV kennen, dadurch aber gerne ausblenden, dass es durchaus eine Seite an Austen gibt, die der Gothic Novel zugerechnet werden kann. Da scheint es fast schon selbstverständlich, dass moderne Autorinnen, die eine düstere Thematik bedienen, hier neben Daphne du Maurier ihren Markstein finden. Namentlich: Northhanger Abbey, das exemplarisch für die schiere Brandbreite der Schauerliteratur steht. Sie kann eine Satire mit Happy End sein, ein Abenteuer, das der Weird Fiction nahe steht, oder einfach nur Horror.

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Bouquinist

Spuk in Bly Manor / Henry James

Der etwas unglückliche Titel „Die Drehung der Schraube“ ist wahrscheinlich das umfassendste analysierte Stück Literatur aus den 1890ern. In der Übersetzung von Claudia Rapp wird daraus „Die Schlinge wird enger“ – hier wurde endlich einmal nachgedacht. So gehört sich der Titel übersetzt.

Die Handlung ist nicht etwa spektakulär und einzigartig, soweit es Geistergeschichten betrifft; und trotzdem ist das hier James’ meistgelesene Erzählung. Spuk in Bly Manor ist die genialste Konstruktion einer Geistergeschichte in englischer Sprache. Die große Kraft der Novelle speist sich aus der Untersuchung eines komplexen Netzes aus Zweifeln, die im Hintergrund des Denkens der Hauptcharaktere lauern, und die in vielerlei Hinsicht die Vorbehalte spiegeln, die im Kopf eines Lesers von Geistergeschichten auftreten.

Diese merkwürdige Umkehrung der Beziehung zwischen dem Leser und dem Autor bildet die Bühne für eine Geschichte, die wie eine Matroschka-Puppe funktioniert, die sich Schicht für Schicht auf wenigen hundert Seiten entblättert.

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Journal

Gefangen in den eigenen Alpträumen: Die erschreckende Realität der Schlafparalyse

Schlafparalyse

Geschrieben von Orrin Grey

Sie ist Gegenstand von Dokumentarfilmen, Horrorgeschichten und sogar Internet-Memes – aber was wissen wir wirklich über die Schlaflähmung, ein potenziell beängstigendes Phänomen, von dem fast 10% der Bevölkerung betroffen sind?

Früher glaubte man, dass dieses Phänomen durch Dämonen verursacht wird, die auf der Brust des Schlafenden sitzen, und die Beschreibung dieses Phänomens hat dazu beigetragen, dass wir heute das Wort Alptraum für jeden schlechten Traum verwenden. Auch heute noch sind die Ursachen und die Pathophysiologie der Schlaflähmung eher Gegenstand von Theorien und Vermutungen als von gesicherten medizinischen Erkenntnissen.

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Journal

Horrorgeschichten und Krimis liegen sich in den Armen

Nach fast zwei Jahrzehnten und einem halben Dutzend Büchern, die sich mit verschiedenen Aspekten des Horrors und des Übernatürlichen beschäftigten, habe ich einen Schritt nach rechts gemacht und einen Kriminalroman mit dem „Titel Blood Standard“ geschrieben. Warum ein solcher Sprung? Besorgte langjährige Leser haben mich gefragt, ob ich den Bereich des Horrors ganz verlassen würde. Meine Antwort? Ganz und gar nicht. Die Tür, die ich geöffnet habe, ist kein Ausgang, sondern ein Portal zu einer anderen Kammer. Das Geheimnis ist, dass Krimi, Noir und Horror alles Zimmer in einem großen Herrenhaus sind. Wer an dieser Behauptung zweifelt, dem empfehle ich die Lektüre der letzten Abschnitte von Cains „Frau ohne gewissen“, die grausige Schilderung eines Dreifachmordes an Bord einer Yacht in MacDonalds „Gefangen im Silberregen“, Hjortsbergs „Angel Heart„, eine Folge von Ereignissen mit einem Katana in Ellroys „White Jazz“, Thomas Harris‘ „Das Schweigen der Lämmer“ und einen Großteil von Jim Thompsons Werk. Diese klassischen Beispiele für die Überschneidungen zwischen Horror und seinen Verwandten Krimi und Noir sind nur die Spitze des Eisbergs.

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Journal

Mercy Brown – Vampirin wider Willen

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