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Alptraum-Horror

Das Horrorpublikum deckt ein weites Spektrum ab, aber am jeweiligen Ende finden sich zwei Extreme. Diese gegensätzlichen Positionen entsprechen weniger einem Interessenkonflikt als dem Grad des Morbiden.

An einem Ende haben wir die Leute, die den Horror genießen, wenn darin das übernatürliche Chaos in Schach gehalten wird. Deren extravaganter Anteil ist relativ gering. Die innere Logik der Horrorgeschichte muss sich nahe am täglichen Leben orientieren. Sie nehmen ihren Horror wie ein Abstinenzler Honig; nur, um den Gaumen ganz leicht zu kitzeln.

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Portraits

Guy de Maupassant

Guy de Maupassant
Guy de Maupassant

Maupassant kümmerte sich nicht um die Ansprüche des Bürgertums, um ein geordnetes Leben, das für ihn voller Fäulnis war. Er entlarvte bewusst den Schein und die Täuschung der bürgerlichen Etikette, sowohl in seiner Prosa als auch in seiner Persönlichkeit. Doch das kostete ihn auch das Leben. Er starb 1893, geistig umnachtet, im Alter von 43 Jahren. Zu Lebzeiten hatte er den zweifelhaften Ruf eines skrupellosen Frauenverführers, der jeden zu seinem Vorteil zu manipulieren wusste. War Maupassants Haltung ironisch, pessimistisch oder einfach nur schockierend?

Er wurde 1850 geboren und hatte zeitlebens eine Abneigung gegen jede moralische Etikette. 1857 standen Flaubert und Baudelaire vor Gericht, weil sie mit Büchern wie „Madame Bovary“ und „Die Blumen des Bösen“ den öffentlichen Anstand verletzt hatten. Später nahm Flaubert den jungen Maupassant unter seine Fittiche und lehrte ihn die sanfte Kunst des bürgerlichen Benehmens. Sie besuchten ein Bordell, und der junge Guy, vom Sex besessen, brauchte keine weitere Belehrung. Flaubert, der sich jeden Gedanken verbot, der ihn von der Muse ablenken könnte, versuchte, seinen Freund zurückzuhalten, aber seine endlosen Ratschläge über die mönchische Rolle des Künstlers stießen bei Maupassant auf taube Ohren.

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Bouquinist

Die Unschuldsengel (Hörspiel)

Unschuldsengel

The Turn of the Screw. Zu Deutsch: Das Durchdrehen der Schraube. Oder: Die Drehung der Schraube, Bis zum Äußersten, Das Geheimnis von Bly ist eine vielrezipierte Novelle von Henry James, die 1898 von Januar bis April als Fortsetzungsgeschichte in der Wochenzeitschrift Collier’s zum ersten Mal erschienen ist. Illustriert wurde die Geschichte von Eric Pape. 1908 erschien die erste Buchveröffentlichung.

Verzicht auf die Rahmenhandlung

Im Original ist der Erzählung eine Rahmenhandlung vorangestellt, die sich am Ende jedoch nicht fortsetzt. Es bleibt also der Phantasie des Lesers ausgesetzt, was er mit den Aufzeichnungen der Gouvernante anfängt. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines namenlosen Ich-Erzählers (ob männlich oder weiblich, ist unklar), der dem Leser wiederum erzählt wie ein Mann namens Douglas am Kamin in geselliger Runde, in einem englischen Landhaus den Anwesenden die Geschichte dieses Kindermädchens eröffnet, die sie ihm wiederum vertrauend offenbart hatte und sie nun aus ihrer Sicht wiedergibt.

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Bouquinist

Das Amulett der Mumie (Hörspiel)

Bram Stokers Original: The Jewel of Seven Stars von 1903, das dem Subgenre der Gothic Fiction angehört, genauer: dem Gothic Horror, einer Vermischung der Schauergeschichte mit der Romantik, und vom Bastei Verlag 1981 unter dem Titel Die sieben Finger des Todes verlegt wurde, erschien sechs Jahre nach Veröffentlichung seines heutigen Bestsellerromans Dracula. Wenn auch den Kennern und Liebhabern der Phantastik bekannt, zählt der Roman hierzulande doch zu seinen weniger bekannten Werken. Schon zu seiner Zeit reagierte die englische Leserschaft eher verhalten. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Original unzähligen Verfilmungen als Vorlage oder Inspirationsquelle diente und bis heute noch dient. Bekannteste Adaptionen sind: Seth Holts Blood from the Mummy’s Tomb / Das Grab der blutigen Mumie (1971), Mike Newells The Awakening / Das Erwachen der Sphinx (1980) und Jeffrey Obrows Bram Stoker’s Legend of the Mummy (1997).

Ägyptomanie in England

The Jewel of Seven Stars enthält typische Fin de siècle-Themen wie etwa den Imperialismus, die Erstarkung eines neuen weiblichen Bewusstseins und auch soziale Fragen. Deutlich melodramatische Tendenzen des viktorianischen Theaters sind erkennbar. Bram Stoker, der ein großer Kenner der ägyptischen Mythologie war, hatte am Trinity College Orientalistik studiert und verwendete große Sorgfalt auf die Darstellung der Details. Was nicht verwundert, da das viktorianische England, das sich von der ägyptischen Kultur fasziniert zeigte, ja sogar eine regelrechte Ägyptomanie entwickelte, bereits 1882 mit dem Versuch begann, Ägypten zu kolonisieren. Was natürlich die Überführung der aufsehenerregenden Artefakte dieser Kultur erheblich erleichtern würde. Es wurde zur Mode, Mumien und Särge öffentlich in Bibliotheken und Museen zur Schau zu stellen. Auf sogenannten Mumienpartys wickelte man die Toten sogar aus. In der Literatur der Zeit kam der Plot des Fluchs der Mumie immer mehr zum tragen und erreichte schließlich seinen Höhepunkt in der viktorianischen Erzählung in Form der Erotisierung weiblicher Mumien, die stets als überirdisch schön und geheimnisvoll beschrieben wurden.

Doch woran liegt es, dass eine prominente Riege, bestehend aus solchen wie Frankensteins MonsterDraculaDr. Jekyll und Mr. Hyde, ohne Mumie auskommen muss?

Die Antwort ist leider einfach. Es liegt an der Umsetzung und Ausführung des Stoffes. An der wenig Spannung erzeugenden, geradlinigen Erzählstruktur Stokers, der allzu pedantischen Beschreibung und Aufführung der ägyptischen Artefakte und an den teilweise kaum nachvollziehbaren Motiven seiner Figuren. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Perry, die sich ausgiebig mit dem Werk Stokers beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass er versuchte, den Prosarhythmus von Walt Whitman nachzuahmen.

Warum gerade dieses Werk?

Und das bringt mich zur nächsten Frage. Die da nicht wäre: Warum gerade dieses Werk? Denn: Warum denn nicht?! – Hat Stoker uns doch mit diesem Werk einen wichtigen Beitrag zur Mythologie der Mumie hinterlassen. Was aber war das Ziel derjenigen, die diesen Roman zu einem Hörspiel aufbereiten wollten? Und ist es ihnen gelungen? Denn für diese Review ist es notwendig zu wissen, dass sich die Macher dieses Hörstücks einer zweiten, späteren Fassung von 1912 angenommen haben, die uns ein anderes, alternatives Ende präsentiert. So wurde das Chapter XVI „Powers – Old and New“ zugunsten eines glücklicheren Endes gestrichen. Auch wurde einiges andere verändert. Warum, wieso, weshalb nun diese Fassung, dazu möchte ich später erst kommen. Daher erst einmal zum Hörstück:

Wir schreiben das Jahr 1904. Sind in London. Im Haus des Archäologen Abel Trelawny, einem Liebhaber und Sammler ägyptischer Altertümer, der, es ist gerade Nacht, in ein mysteriöses Koma gefallen ist. Blut und Wunden am linken Handgelenk weisen auf einen Täter hin. Die erste, die ihn vor seinem Tresor liegend findet, ist seine Tochter Margaret, die gerade zu Besuch ist und sogleich den Rechtsanwalt Malcolm Ross durch einen Brief verständigt und zur Hilfe ruft. Auch ein gewisser Sergeant Daw von Scotland Yard ist gerufen worden und bei Eintreffen des jungen Anwalts von Abel Trelawny bereits im Hause.

Interessanterweise hat Margarets Vater, der seit geraumer Zeit Forschungen über die ägyptische Königin Tera anstellt, mit diesem Vorfall gerechnet, wie wir durch einen Brief erfahren, der an seine Tochter gerichtet ist, in dem er verfügt, wie mit ihm weiter verfahren werden soll und welche Vorkehrungen zu treffen sind. Drei Dinge sind zu beachten: Er darf sein Arbeitszimmer nicht verlassen. Ebenso darf keine der ägyptischen Raritäten von ihrem Platz genommen werden. Alles soll so bleiben wie es ist. Und er selbst muss immer von zwei Personen bewacht werden. Ross, der in Margaret verliebt ist, freut sich mit ihr die erste Nacht bei ihrem Vater verbringen zu dürfen. Doch es kommt anders, da Margaret den ganzen Tag nicht von seiner Seite gewichen war und somit am Abend zu müde ist die erste Nachtwache zu halten. So muss Malcolm mit Schwester Kennedy vorliebnehmen. Die Wache ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn sowohl Malcolm, der in einen tranceähnlichen Zustand fällt, in dem er jene weibliche Stimme vernimmt, die ihn an Margaret erinnert, die Abel Trelawny schon hörte, die ihn ebenso auffordert:

„Vollzieh‘ das Ritual! Befreie mich! Bring‘ mich zurück! Du kannst es. Tu es! Ich will leben. Leben!!!“

— als auch Schwester Kennedy, die nun ebenso wie Abel in einem komatösen Zustand gefangen ist, schaffen es nicht, den Archäologen zu beschützen und des Rätsels Lösung zu offenbaren. Denn auch er ist erneut angegriffen worden, liegt wieder am Boden vor seinem Tresor. Alle Anwesenden versammeln sich und überlegen erneut was zu tun ist. Sergeant Daw äußert Ross gegenüber sogar Zweifel an Margarets Unschuld, da sie immer als erste am Tatort erscheint. Auch ihr Perserkater Silvio, der auf Kriegsfuß bzw. Kriegspfote mit ihrem Vater steht, der, nähert er sich dem Sarkophag von Tera und ihrer ebenso mumifizierten Tigerkatze, immer furchtbar zu fauchen beginnt, rückt, nach der Begutachtung des Opfers Trelawny von Dr. Winchester, in den kleinen Kreis der Verdächtigen. Die Schnitt- bzw. Kratzwunden am linken Handgelenk des Archäologen sprechen dafür. Zumal er an diesem ein Armband mit einem Schlüssel trägt, der zum Tresor gehört, der zusätzlich von einem Kombinationsschloss mit sieben Buchstaben gesichert wird. Jemand versucht also ins Innere des Tresors zu kommen.

Dr. Corbeck, ein alter Archäologenfreund von Abel Trelawny, mit dem er damals gemeinsam das Grab von Tera aufgesucht hatte, betritt das Haus. Beide stützten sich damals auf Nicholas van Huyn, der 1650 in Amsterdam ein Dokument verfasste, in dem er das ‚Tal des Magiers‘ beschrieb, eine geheime Begräbnisstätte der alten Ägypter, und in dem auch Teras Grabkammer Erwähnung findet. Mehr und mehr bringt Corbeck Licht ins Dunkel der Geschichte. Er erzählt von den sieben antiken Leuchten, die er auf einer seiner Expeditionen, die Trelawny in Auftrag gegeben hatte, entdeckte. Sieben Leuchten. Stammend aus der Grabkammer der Königin, die in die sieben Vertiefungen des Kästchens passen, dass die beiden in der Nähe ihres Sarkophags gefunden hatten, die ihm jedoch erst kürzlich aus seinem Hotelzimmer gestohlen wurden. Als die Dienerin Mrs. Grant diese wiederum im Wäscheschrank von Trelawnys Tochter findet, erhärtet sich der Verdacht gegen sie weiter. Wir erfahren von Corbeck überdies, dass Tera eine mächtige, in schwarzer Magie versierte Frau war, die von ihrem Vater sehr früh in ihr Amt als Königin eingeführt wurde. Und wie ihr Vater es vorausgesehen hatte, trachteten ihr feindlich gesinnte Priester danach, sie zu stürzen, da sie die Macht des Königstums auf sich übertragen wollten. So kam es, dass man ihren Namen aus der Geschichtsschreibung strich, allenfalls als die Namenlose findet sie noch Erwähnung, denn man glaubte, so hören wir:

„Wen die Götter nicht beim Namen rufen können, dem bleibt die Auferstehung auf ewig verwehrt.“

Tera war zudem im Besitz eines Rubinsteins in der Form eines Skarabäus, der so geschliffen wurde, dass das Licht sich in sieben Richtungen bricht, der ihr auch große Macht über die Götter verlieh. Und diesen Stein, den die beiden in ihrem Grab fanden – sie hielt ihn mit beiden Händen geschützt auf ihrer Brust über dem Herzen liegend – verwahrt Trelawny, der bis zum Schluss an der Entzifferung der Hieroglyphen in ihrem Sarkophag arbeitete, in seinem Tresor. Doch Tera hatte vorgesorgt, sich lebendig einbalsamieren und mumifizieren lassen. Sie plante ihre Auferstehung in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit, im Norden, unter dem Sternbild des Großen Wagens, das sich in der Anordnung der Vertiefungen des Kästchens wiederholt. Und Abel Trelawny war und ist, einem Diener gleich, gewillt ihrem Willen nachzukommen, ihr wieder ins Leben zu verhelfen.

Die wichtigste Information aber, die Dr. Corbeck den Anwesenden zu geben weiß, ist diese: Abel Trelawny öffnete das Grab Teras genau zur Zeit von Margarets Geburt in London, die seine Frau nicht überlebte.

Trelawny erwacht wieder und gibt selbst an, dass es die Tigerkatze war, die ihn angegriffen hat. Tera habe sie mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, um an das Amulett im Tresor zu kommen. Und da sich auch die Gestirne in der richtigen Position zur Erde befinden, nimmt die Geschichte ihren vorhersehbaren Lauf: Margaret spricht mehr und mehr in Worten Teras, was auch Malcolm bemerkt, der sich nicht mehr sicher ist, ob es noch ihre Augen sind, die er sieht, oder die einer anderen Frau. Die Mumie wird von ihren Binden befreit: Tera hat die Zeit offenbar gut überdauert. Zudem findet sich auf ihr liegend ein weißes Hochzeitsgewand. Die Leuchten werden in die Vertiefungen des Kästchens gesteckt, Zedernöl wird in sie eingefüllt, und auch das Amulett der sieben Sterne wird ihr wieder auf die Brust gelegt …

„Bring‘ mich ins Leben zurück! Vollzieh‘ das Ritual! Tu es! Jetzt! Es ist die Zeit.“

Margaret stöhnt, schreit, zittert. Alles taucht in einen dichten Nebel. Keiner sieht was eigentlich vor sich geht. Und als es sich wieder lichtet, findet sich überall Staub. Doch von Tera … : keine Spur. Einzig ihr Hochzeitskleid liegt zurückgeschlagen da, als ob ihr Körper, der darunter lag, aufgestanden wäre. Trelawny und Dr. Corbeck sind enttäuscht. Nur Margaret und Silvio wirken auf den Hörer durchaus in ihrem Wesen verändert.

Und so blieb, erzählt Ross, das Verschwinden der Königin ein Geheimnis. War sie wirklich nur zu Staub zerfallen?

Ross, der ebenso traurig darüber ist, dass Tera nicht zu einem neuen Leben, in einer neuen besseren Welt erwacht sei, in der ihr Herz schlagen dürfe, wird von Margaret mit folgender Antwort getröstet:

„Sei ihretwegen nicht traurig, Malcolm. Wer weiß, ob sie nicht doch fand, was sie suchte. Vielleicht übersteigt ihre Art der Auferstehung bloß unser bescheidenes Vorstellungsvermögen. Sie träumte ihren Traum und ich fühle, dass sie nun zufrieden und endlich zur Ruhe gekommen ist.“

Wie schon erwähnt, arbeitet Titania Medien hier mit der Fassung von 1912, einer, die ein glücklicheres Ende entwirft als das Original, das im Bastei Verlag unter dem Titel Die sieben Finger des Todes erschienen ist. Das mag daran liegen, dass Stokers Leser schon zu seiner Zeit, aufgrund der diffusen Story, verwirrt reagierten. Sie konnten nicht begreifen, blieben perplex zurück, auch weil sie ein Happy-Ending seiner Romane gewohnt waren. Denn im Original überlebt keiner außer Malcolm Ross, der am Ende der Auferstehungszeremonie im Nebel über einen Körper stolpert, von dem er glaubt, es sei Margarets. Die Treppe hinauf im Dunkeln, birgt er ihn in einer Halle. Geht jedoch noch einmal zurück, um Streichhölzer zu suchen, da es im ganzen Haus dunkel ist. Als er zurückkommt, findet er nur noch das Hochzeitskleid am Boden liegend, auf dem nun auf Herzhöhe der Ring funkelt, den die Klaue an einem der sieben Finger trug. Die Klaue, die ihre Opfer traktierte. Nicht etwa der verdächtige Perserkater Silvio oder, wie wir später in der alternativen Fassung erfahren, die Tigerkatze der Königin.

Eine Londoner Zeitung, The Saturday Review, schrieb:

„This book is not one to be read in a cemetery at midnight … but it does not quite thrill the reader as does the best work in this genre … It is due to Mr. Stoker to say that his wild romance is not ridiculous even if it fails to impress.“

Die Klaue muss weichen

Warum um Himmelswillen ist man nicht bei der Klaue geblieben? Zu abstrus und unfreiwillig komisch erscheint mir der Versuch einer Magierin, eine Katze dazu zu bewegen, einen ausgewachsenen Mann vor einen Tresor zu zerren, der den Schlüssel für diesen an seinem Handgelenk trägt. Wohlgemerkt: Mit Pfoten einen Schlüssel verwenden! Selbst dann, wenn es eine Tigerkatze ist. Das hätte mit einer Klaue doch viel besser funktioniert! Auch der kurze Hinweis auf die sieben Buchstaben des Kombinationsschlosses, die keiner kennt, führt ins Leere. Sieben Buchstaben. – O.k.. Denn mit der Zahl 7 können wir etwas anfangen. Aber was für Buchstaben? Das wird nie geklärt. Und auch überhaupt nicht weiter darauf eingegangen. Und welche Motivation hat eine Königin, die ihre Zeit, die von einem Patriarchat geprägt wurde, das sie zu unterdrücken versuchte, floh, ihre Lider in einem viktorianischen England – nicht gerade eine HochZeit für Frauen – wieder aufzuschlagen, um einen Anwalt zu heiraten, den sie gar nicht kennt? Denn – wir erinnern uns – all das wurde von ihr sorgfältig geplant. Ihr neues Leben unter dem Gestirn des Großen Wagens.

Was ist sie nun? Auferstanden? Oder ist es doch eine Art von Wiedergeburt, eine Reinkarnation, da ihre Graböffnung zeitlich mit der Geburt Margarets vonstatten lief? Wir wissen es nicht genau. Und darauf kommt es in diesem Fall ja auch nicht an. Genaues Wissen. Aber allzu Abstruses …?

Warum Warum Warum …

Warum hat Stoker?

Warum hat Titania Medien?

Offengestanden, ich kann es Ihnen nicht beantworten. Kann nur mutmaßen, dass man auf ein Happyend gesetzt hat (denn eines stand ja zur Auswahl), versucht hat die Atmosphäre der damaligen Ägyptomanie einzufangen. Und ich muss sagen: Ja, das ist gelungen! So funktionierte es für mich die ersten 15 Minuten. Dann aber hängt sich die Geschichte leider an ihrem Verlauf auf. Darüber kann Titania Medien mich nicht hinweg hören lassen. Ein wenig schade ist es, und doch Stoker in die Schuhe zu schieben, dass er mit seiner Tera, eine in ihrer Anlage doch starke Figur, die sehr in ihren Zügen an die historische Hatschepsut erinnert, nicht mehr anfangen konnte: Das gilt für beide Fassungen gleichermaßen, egal ob Stoker von Verlegern genötigt wurde, eine neue aufzusetzen, obwohl ich selbst doch die originale präferiere. Die mit der Siebenfingerklaue.

Ach ja, etwas kann ich Ihnen aber doch noch anbieten als alte Anagrammiertante:

Tera (grch. téras: Ungeheuer) kommt im Namen Margaret vor. In den letzten vier Buchstaben. Von rechts nach links gelesen.

Ob das nun ein Zufall ist oder eine Spinnerei meinerseits, …

… wer weiß das schon!

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Das Scheitern der Furcht

Die Protagonisten sind weder angehende Hollywood-Größen noch durch Gymnastik gestählte Körper, die im Film in unterschiedlichen Phasen der Nacktheit gezeigt werden: es sind alltägliche Leute, die den Hauptteil des Films in Parkas rumlaufen. Das Dokumentarfilm-Motiv ist mittlerweile selbst zu einem Klischee verkommen, aber wir sehen noch immer die gleichen jungen Stahlkörper, die in Scheiben geschnitten und zu Würfeln gepresst werden, auf ihrem unvermeidlichen Weg in das nächste Sequel. Nicht wirklich beängstigend. Genauso wenig wie die literarische Seite der Gleichung – selbst durch die versiertesten Händen (und ich glaube, dass wir eine kleine Renaissance des Genres erleben) – gelingt es kaum, mich zu verunsichern.

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Die „Seltsame Geschichte“

Wir hören in letzter Zeit viel über die steigende Popularität der Weird Fiction. (Anm. Ich behalte hier die Originalbezeichnung bei, weil der Begriff in seiner eigentlichen Bedeutung nicht ins Deutsche übertragen werden kann, ohne fälschlich behandelt zu werden. Die häufigen und gebräuchlichen Übersetzungsfehler „Literatur der Angst“, „Unheimliche Literatur“ usw. führen hierbei nur in eine Sackgasse.)

Wie viel oder wie wenig dieses neue Aufkommen mit der New Weird-Bewegung von vor einigen Jahren zu tun hat, überlasse ich den Diskussionen der Gelehrten. Über kurz oder lang kann man sagen, dass uns alle paar Jahre ein neues Konzept als das neue große Ding der Horrorliteratur präsentiert wird, und im Moment ist es ein Stamm unheimlicher Erzählungen, die ihre Inspiration hauptsächlich (wenn auch nicht immer offensichtlich) von Lovecraft, aber auch von Chambers, Howard, Ligotti und so weiter beziehen. Sie wird mit anderen Genres kombiniert, verdünnt und in verschiedenen Formen verzerrt, aber am Ende des Tages, im Hier und Jetzt, ist die „Weird Fiction“ König.

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Bouquinist

Grimscribe / Thomas Ligotti

Es gibt in unserer heutigen Zeit viele, die glauben, sie verstünden sich auf den echten „Horror“, aber ob sie unter dieser Flagge schreiben oder lesen: sie täuschen sich. Täuschen sich dann, wenn sie Ligotti entweder gar nicht kennen, oder keinen Zugang zu ihm finden. In der von „Handlung“ ausgehenden Welt der modernen Veröffentlichungsfabriken hat Spannung den Schrecken als primäre Komponente des modernen Horrors abgelöst.

Poe und Lovecraft zeigen in ihren besten Arbeiten, was Schrecken, was wirklicher Horror bedeutet. Thomas Ligotti und sein „pure horror“ ist der dritte im Bunde, der einzige Autor, der neben den beiden anderen Giganten Platz nehmen darf. In „Grimscribe – Sein Leben und Werk“ dürfen wir den Nervenkitzel des reinen, unverdünnten Schreckens noch einmal erleben. Allerdings ist es oft die literarische und philosophische Unkenntnis einiger Rezensenten, die Ligotti nach wie vor mit dem Lovecraft-Kosmos verbinden. Thomas Ligottis stilistische Bandbreite ist bemerkenswert und übertrifft bei weitem den limitierten Klang Lovecrafts (ohne dessen Einfluss schmälern zu wollen, der gerade in Ligottis Anfängen exorbitant vorhanden war). Was beide Autoren tatsächlich miteinander verbindet, sind die Weltanschauungen. Dazu gehört die Überzeugung vom Untergang der abendländischen Kultur (und in dieser Phase befinden wir uns gegenwärtig, wie leicht zu erkennen ist). Lovecraft als auch Ligotti sehen die Menschheit in einem sinnlosen Universum treiben, manipuliert von Mächten, die weder zu begreifen noch in irgendeiner Form zu nutzen sind. Wo Lovecraft jedoch trivial wird, unterstreicht Ligotti seinen intellektuellen Rang, was nicht zuletzt seiner gewaltigen philosophischen und literarischen Bildung zu verdanken ist (man denke nur, dass etwa „Cioran“ zu seinen gedanklichen Haupteinflüssen zählt).

Robert M. Price (u.a. Herausgeber von „The New Lovecraft Circle“) nennt Ligotti gar einen Gnostiker, was die intellektuell-philosophische Linie sogar noch unterstreicht.

Wieder einmal ist es Frank Festa zu verdanken, dass wir eines der wichtigsten Werke der modernen Horror-Literatur nun auch in deutscher Sprache vorliegen haben. All jene, die des Englischen nicht mächtig sind, sollten ihm auf Knien danken.

„Grimscribe“ ist der Name, den Ligotti seiner Stimme gibt, die Quelle seiner wunderbaren Prosa. Es handelt sich dabei nicht notwendigerweise um eine einzelne Person, sondern um eine bestimmte Art des Sehens, um eine Verbindung zwischen den dunklen, süßen Orten der Seele und der gedruckten Seite.

„Ich erkenne seine Stimme, wenn ich sie höre, denn stets spricht sie von schrecklichen Geheimnissen. Sie spricht von den bizarrsten Mysterien und Erlebnissen, manchmal mit Verzweiflung, manchmal mit Freude, und manchmal mit einer Laune, die sich jeder Beschreibung entzieht“,

erklärt er uns in der Einleitung; und zum Schluss: „Unser Name lautet GRIMSCRIBE. Das ist unsere Stimme.“

Das macht Grimscribe mehr zu einer Reihe von unheimlichen Chören als zu einer Sammlung miteinander verbundener Geschichten.

Es sind dies subtile Variationen über Finsternis, Verfall, Tod, und den Schrecken des Unbekannten.

Anders als die meisten der heutigen Horror-Autoren, die einen anatomischen Ansatz verwenden, hebt Ligotti seine Vorstellungen über Tod und Verfall auf die Ebene des Abstrakten, Akademischen und hüllt sie in eine delikate, elegante Sprache. Im Einklang mit dem hohen literarischen Ton seiner Prosa führt er die Grundideen der Stories in Richtung des leicht Anekdotischen, aber Ligottis Talent für den Wechsel des Ausdrucks sorgt dafür, dass diese Wechsel ebenso fesselnd wie elegisch sind.

In „Nethescurial“ erhält der Erzähler einen Brief von einem Freund, der auf ein beunruhigendes Manuskript gestoßen ist.

„Stellen Sie sich die gesamte Schöpfung als eine bloße Maske für das größtmögliche Böse vor, ein absolut Böses, dessen Realität allein durch unsere Blindheit ihm gegenüber gemildert wird, ein Übel im Herzen der Dinge … natürlich … wir müssen Distanz wahren zu solchen Gespenstern wie Nethesurical, aber das ist in der Regel durch das Medium der Worte schon gewährleistet … und doch scheint das Manuskript in dieser Hinsicht nur eine schwache Barriere zu bilden.“

Der Erzähler träumt sich in einen kafkaesken Bibliotheks-Alptraum, in dem er zu folgender Erkenntnis gelangt:

„Ich konnte auch sehen, was sich unter jeder Oberfläche windet, mein Blick durchdringt die übliche Rüstung der Objekte und erkennt in ihnen allen das gleiche heraussprudelnde Zeug, wo immer ich auch hinsehe …“

Ligotti erreicht seine Größe als Horror-Schriftsteller nicht zuletzt dadurch, wie er mit Bedacht auswählt, was er dem Leser zeigen möchte. Seine Prosa erreicht nahezu Perfektion und stärkste emotionale Kraft, wenn er ein Bild des Schreckens zeichnet, den Leser darauf hindeutet, dass es da etwas gibt, das er vielleicht nicht vollständig wahrgenommen hat.

Zu Grimscribe sagte der Meister selbst folgendes:

„Ich muss anmerken, dass ich mit Grimscribe begann, mich weiter und tiefer in symbolische Erzählungen und Landschaften zu wagen, während ich mich trotzdem an die für eine Horrorgeschichte typische „Realität“ halte. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich Das letzte Fest des Harlekin und Träumen in Nortown bereits geschrieben hatte, bevor meine erste Sammlung erschien.“

Das war 2011, als Grimscribe bei Subterranean Press erneut erschien, überarbeitet und mit Variationen versehen im Gegensatz zur 1991 bei Carroll & Graf erschienenen Urform.

Trotz der kultischen Verehrung, die Ligotti genießt, wird es noch dreißig oder vierzig Jahre dauern, bis man vollumfänglich zu schätzen weiß, wie Ligotti die Horrorliteratur um eine neuartige Dimension bereichert hat.

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Schreiben wie Lovecraft

Im Juni 2013 bekam ich per Post die neueste Ausgabe von Famous Monsters of Filmland, die ich mir bestellte, weil S.T. Joshi zwei Artikel dafür geschrieben hat. Ich war erstaunt darüber, dass kein einziger Artikel von einer Filmadaption eines Lovecraftschen Themas handelte. Zwei Artikel (“Lovecraft’s Acolytes,” von Robert M. Price und “The New Mythos Writers,” von S. T. Joshi) behandelten jene Schriftsteller, die von seiner Arbeit beeinflusst wurden und unter diesem Einfluss selbst schrieben, angefangen von der Zeit, als Lovecraft noch am Leben war, bis heute; und ein Artikel (“The Language of Lovecraft,” von Holly Interlandi) sah sich Lovecrafts Stil und Satzstruktur etwas näher an! Dass Lovecrafts Einfluss gegenwärtig reiche Blüten treibt, kann anhand solcher großartigen Anthologien wie Lovecraft Unbound (herausgegeben von Ellen Datlow), Black Wings (aka Black Wings of Cthulhu, herausgegeben von S. T. Joshi), New Cthulhu: The Recent Weird (herausgegeben von Paula Guran) und The Book of Cthulhu (herausgegeben von Ross E. Lockhart) abgelesen werden.

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Der Nihilismus des Rust Cohle

Rust Cohle von Ruiz Rust

Es gibt Filme und Serien, die pumpen die Erwartungshaltung von Beginn an über jeden erwartbaren Horizont. Die meisten ambitionierten Werke – und das trifft ebenso auf Literatur zu – scheitern, wenn sie scheitern, am Ende. True Detective 1 scheitert nicht wirklich, aber die letzte Folge der Mini-Serie hält der unglaublichen Dichte nicht stand, was wirklich schade ist, denn bis dahin hat man nicht weniger als das Beste, was eine Mystery-Serie überhaupt aufs Parkett bringen kann vor Augen. Nicht weniger als eine Sensation.

Ein Tatort @HBO
Ein Tatort @HBO

Die Storyline, die sich an das moderne Erzählen durch Verschachtelung hält, die erzeugte, dichte Atmosphäre, die Wahl der Musik, sowie die fabelhafte Leistung der beiden Hauptdarsteller (Woody Harrelson, Matthew McConaughey) sind in der Summe nicht weniger als perfekt.

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Coelho Neto, ein brasilianischer Autor unheimlicher Phantastik

Coelho Neto

Man könnte nicht sagen, dass die brasilianische Phantastik im deutschen Sprachraum sehr bekannt oder populär wäre – es sei denn, man zählt den unsäglichen Kitsch-Mystiker Paulo Coelho zur phantastischen Literatur. Ich habe seinerzeit mit wenig Erfolg bei Suhrkamp zwei Bände moderner brasilianischer Autoren veröffentlicht: die Sammlung unheimlicher Erzählungen Die Struktur der Seifenblase. Unheimliche Erzählungen, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Alfred Opitz, von Lygia Fagundes Telles (1923- ), als Bd. 105 der „Phantastischen Bibliothek“ (suhrkamp taschenbuch 932) und 1993 Der Feuerwerker Zacharias (Os dragões e outros contos). Aus dem. brasilianischen Portugiesisch mit einem Nachwort von Ray-Güde Mertin, von Murilo Rubião (1916-1991), („Phantastische Bibliothek Bd. 292, suhrkamp taschenbuch 2151, als Nachdruck der Buchausgabe bei Suhrkamp von 1981). Das waren, trotz täuschender Einfachheit und paradoxer Klarheit der Formen komplexe modernistische Texte, die wenig mit klassischen Gespenster- oder Horrorgeschichten zu tun haben, sondern vielmehr das Absurde als Metapher für das Absurde menschlicher Existenz verwenden.

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Revival / Stephen King

Stephen Kings großartiger neuer Roman „Revival“ bietet das atavistische Vergnügen, in der Dunkelheit näher ans Lagerfeuer zu rücken, um einer Geschichte von jemandem zu lauschen, der genau weiß, wie er seinen Zuhörern eine Gänsehaut verschaffen kann, indem er ihnen zuflüstert: „Schau nicht hinter dich“.

King war immer großzügig, wenn es darum ging, die Autoren zu nennen, die ihn inspiriert haben. Diesmal nennt er Arthur Machens The Great God Pan (1894), eine der besten Fantasy-Geschichten, die je geschrieben wurden.

Es mag schwierig erscheinen, auf Anhieb zu beurteilen, was man von King in letzter Zeit zu erwarten hat. Galt er in den 70er Jahren noch als Meister des Horrors, so hat er dieses Etikett längst an eine jüngere Generation abgegeben und wird allgemein als „Chronist des amerikanischen Alltags“ anerkannt. Die Grotesken, die übersinnlichen Spinnereien etc. hat man ihm längst verziehen. King ist eindeutig im Mainstream angekommen, er erhält den Beifall des literarischen Establishments, über das er sich gerne lustig macht. Der große amerikanische Roman 11/22/64 war nicht der einzige Grund dafür, aber er hat geholfen. Die Meinung der literarischen Torwächter geht eindeutig dahin, dass King einer der ganz großen amerikanischen Erzähler wäre, wenn er nur auf seine exzentrischen Ausbrüche verzichten könnte. Im Umkehrschluss heißt das natürlich nichts anderes, als dass er es längst ist. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Harold Blooms unermüdlicher und scharfer Kritik an Kings Sprache und den feierlichen Adjektiven, die sich in den letzten zehn Jahren angesammelt haben, um Kings Bedeutung als Schriftsteller zu beschreiben.

Beides führte dazu, dass die Torwächter widerwillig anerkannt haben, den Kerl nicht einfach aussperren zu können.

King hatte schon immer mehr mit Ray Bradbury gemeinsam als mit Chuck Palahniuk, und er sitzt trotzdem komfortabel im Kanon der „amerikanischen Verrückten“ wie etwa David Lynch, hat indes eben wenig gemein mit dem einfach gestrickten Ergüssen eines Dean Koontz oder Wes Craven.

In Revival aktualisiert King Machens fin-de-siecle-Setting und den erotischen Subtext, in dem ein 17-Jähriges Mädchen aufgrund einer primitiv ausgeführten Lobotomie die Befähigung erhält, in die erschreckenden Abgründe zu blicken, die unserer Welt zugrunde liegen. „Revival“ öffnet sich an einem Ort, der unserer modernen Welt beinahe so fern ist wie Machens gaslichtbeschienenes London: dem ländlichen Harlow, Maine, in den frühen 60er Jahren. Jamie Morton, der Erzähler des Romans, erinnert sich an einen Vorfall, der geschah, als er sechs Jahre alt war, das jüngste von fünf Kindern einer ausgelassenen, großherzigen Kinderschar. Er ist draußen, spielt mit seinen Spielzeug-Soldaten, als ein Fremder auftaucht.

Der Fremde ist Charles Jacobs, der neue Pfarrer von Harlow, glücklich verheiratet mit einer hübschen Frau und Vater eines kleinen Kindes. Jacobs freundet sich schnell mit Jamie an (King lenkt hier sofort von jeder Anspielung auf Kindesmissbrauch ab, denn darum geht es nicht). In seiner Garage zeigt er dem Jungen ein Wunder: ein realistisches Tischmodell der Umgebung, mit einem echten Miniatursee und Strommasten. Mit einer Handbewegung erhellt Jacobs die Szenerie. Straßenlaternen leuchten auf, eine Jesusfigur wandelt über die Wasseroberfläche des Sees.

Jamie ist begeistert, auch als Jacobs das Geheimnis des scheinbaren Wunders lüftet: „Elektrizität“, sagt der Geistliche später, „ist eines von Gottes Toren in die Unendlichkeit“. Jamie wird zum Ersatzsohn für Jacobs, eine Rolle, die Jamie auch nach der Tragödie und dem Verschwinden Jacobs beibehält.

Alle Themen des Romans sind in dieser frühen Szene angelegt: das Tauziehen zwischen Wissenschaft und Glauben; die Fähigkeit eines guten Krämers, sei es ein Prediger oder ein Schausteller, eine Menschenmenge mit dem Versprechen auf Heilung in seinen Bann zu ziehen. Vor allem aber untersucht der Roman die Natur des Machtmissbrauchs, sei es durch Liebe, Religion oder durch Jacobs lebenslange Obsession: Elektrizität.

Wie so oft entwickelt King die Geschichte schleichend und mit viel Gefühl für seine Figuren. Viele von ihnen sind gezeichnet von Trauer und Verlust, von Abhängigkeit und Enttäuschung. Der Zahn der Zeit hinterlässt seine Spuren, nagt an der Jugendliebe ebenso wie an den einstigen Ambitionen. Der Detailreichtum von Jamies Kindheit in den 60er Jahren – Vanille-Schoko-Erdbeer-Eiscreme, der Geruch von Regenwürmern, ein halb gerauchter Joint, der in einer Zuckerdose versteckt wird, die Freuden, die das Erlernen des E-Gitarrenspiels bereitet, während Jamie sich auf eine Karriere als Sessionmusiker vorbereitet – ist wie immer bei King mit außergewöhnlicher Liebe zum Detail ausgearbeitet.

Glück ist bekanntlich literarisch schwer interessant darzustellen. Idyllen werden nur zu dem Zweck konstruiert, sie zu zerstören. Aber Kings Erzählung gibt die Sehnsucht nicht auf, um eine kaputte Welt zu verachten, in der Jamie wie wir alle leben muss.

Jahrzehnte nach Jacobs Verschwinden aus Maine, begegnen sich er und Jamie auf einem Jahrmarkt wieder. Der ehemalige Prediger überrascht seine Zuschauer dort mit elektrischen Kunststücken. Später, in seiner Garage, benutzt Jacobs seine geheime Elektrizität, um Jamie per Elektrokrampftherapie von seiner Heroinsucht zu heilen. Aber die beiden trennen sich, als Jamie die wahren Absichten seines ehemaligen Freundes erkennt. „All deine Kunden sind nichts weiter als Versuchskaninchen“, sagt Jamie. „Sie wissen es nicht. Ich selbst war ein Versuchskaninchen.“

Aber das war noch nicht ihre letzte Begegnung. Jamie findet sich in Jacobs bösartige Umlaufbahn gezogen. Er findet immer mehr heraus, was mit den Menschen geschah, die sich von Jacobs „heilen“ ließen, denn es kam zu verheerenden Nebenwirkungen.

Und hier beginnt sich der Roman mit Machens Meisterwerk zu verzahnen. Kings zurückhaltende Prosa explodiert förmlich in ein Ende, das modernen Realismus mit dem kosmischen Schrecken, der an H.P. Lovecraft und an den Filmklassiker „Das grüne Blut der Dämonen“, erinnert. Die quälende Beziehung zwischen Jamie Morton und Charles Jacobs erreicht die Trauerschattierung einer großen Tragödie.

Was dem Buch ebenfalls gut bekommt, ist, dass man, wie bei den letzten King-Veröffentlichungen, den Originaltitel beibehalten hat, anstatt wie in der Vergangenheit puren Schwachsinn zu fabrizieren.

Originaltitel: Revival
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 512 Seiten

Journal

Poe und Lovecraft

Geschrieben von Robert Bloch

Ich vermute, dass sich Vergleiche zwischen Edgar Allan Poe und Howard Phillips Lovecraft nicht vermeiden lassen, in den letzten Jahren (1973) sind sie bereits unüberschaubar geworden. Ich werde die üblichen Hinweise auf die Ähnlichkeiten in ihrem Werk nicht wiederholen – es wird also grundsätzlich keine Erwähnung von schwarzen Katzen, Wiedergängern oder antarktischen Schauplätzen geben. Auch habe ich nicht die Absicht, mich auf die Seite jener zu schlagen, die behaupten, dass es keine wirklichen Berührungspunkte gibt, außer den üblichen Figuren und Themen, die allen Geschichten des Genres gemeinsam sind.

Für mich ist das eine unhaltbare Aussage: Lovecraft war, wie jeder Autor von Fantasy oder Horrorliteratur nach Poe, notwendigerweise von den Werken seiner Vorgänger beeinflusst – und in gewisser Weise muss sein Werk von diesem Einfluss abgeleitet werden. Tatsächlich zeigt die Hommage an Poe in Lovecrafts Essay Supernatural Horror In Literature einen Grad der Wertschätzung und Bewunderung, die keinen Zweifel am tiefen Eindruck aufkommen lässt, den dieser frühe Meister auf ihn ausübte. Jedoch stellt für mich die Untersuchung ihrer Hintergründe und ihrer Persönlichkeiten den fruchtbarsten Bereich dar, beide miteinander zu vergleichen.

Schauen wir uns die Fakten an. Sowohl Poe als auch Lovecraft wurden in New England geboren. Beide wuchsen in jeder Hinsicht ab einem frühen Zeitpunkt ihrer Kindheit vaterlos auf. Beide hegten eine lebenslange Liebe zur Poesie und den Elementen einer klassischen Ausbildung. Beide nutzten einen altertümlichen Stil und waren beherrscht von einer persönlichen Exzentrik, die sie die ganze Zeit bewusst pflegten.

Obwohl Poe einen Teil seiner Jugend in England verbracht hatte und im späteren Leben an der Atlantikküste entlang reiste – und obwohl Lovecraft sich für einen Urlaub nach Kanada und ein paar Jahre vor seinem Tod hinunter nach Florida gewagt hatte – bewegte sich keiner der beiden je westlich der Appalachen. Lovecraft umging sie, um E. Hoffman Price einen kurzen Besuch in New Orleans abzustatten, aber grundsätzlich waren er und Poe Männer des Ostens. Ihre Auffassung war provinziell, und das sogar eng gesteckt.

Beide Männer waren gegenüber Ausländern in der Masse misstrauisch: beide hegten eine tiefe Bewunderung für die Engländer. Diese Haltung ist offensichtlich in ihrem Werk vorhanden, und es gibt mit einigen Weglassungen und Veränderungen die Hauptströmung des amerikanischen Lebens wieder.

Ein Leser, der versucht, einen kurzen Blick auf die Vereinigten Staaten  von 1830 – 1850 zu werfen, würde eine kleine Erleuchtung bei der Lektüre von Poes Gedichten und Erzählungen bekommen. Das war die Zeit, wo die ganze Nation einen westlichen Schub bekam, beginnend bei der Wanderung der Trapper und Pelzhändler in den Rocky Mountains bis zum Ende des Goldrauschs in Poes Todesjahr. Und keine Spur findet sich davon in seinem Werk.

Bryoneske Helden, die in abgeschiedenen Britischen und kontinentalen Örtlichkeiten kaum die Amerikanischen Verhaltensweisen reflektieren, den Fall des Alamo, den Mexikanischen Krieg und den wachsenden Aufruhr gegen die Sklaverei.

Auch wird ein Leser kaum weniger typisch Amerikanische Protagonisten unter den Anhängern, Professoren und regional Orientierten finden, die Lovecrafts Erzählungen dominieren, in denen es kaum einen Hinweis auf die Roaring Twenties oder die Große Depression gibt, die im darauffolgenden Jahrzehnt folgte. Abgesehen von ein paar Bemerkungen über den Zustrom von Immigranten und der damit verbundenen Zerstörung alter Traditionen und Orientierungspunkten, sowie die kurze Erwähnung Intellektueller, wilder Studentengruppen, ignorierte Lovecraft das Nachkriegs-Jazz-Jahrzehnt völlig: Coolidge, Hoover, FDR, Lindbergh, Babe Ruth, Al Capone, Valentino, Mencken und die Prototypen des Bürgertums haben keine Existenzberechtigung in HPLs Gefilden. Es ist schwer zu glauben, dass Howard Philipps Lovecraft ein literarischer Zeitgenosse Hemingways war.

Und noch einen weiteren Vergleich zwischen Lovecraft und Poe gibt es; einen von ungeheuerlicher Wichtigkeit in jeder Hinsicht auf ihr Werk, weil er den Vorwurf mildert, dass zwei Schriftsteller der aktuellen Welt völlig ahnungslos und unrealistisch gegenüberstanden.

Natürlich verweise ich auch auf ihr Interesse an der Wissenschaft. Beide, Poe und Lovecraft, waren scharfsinnige Beobachter der wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Entwicklungen ihrer Tage, und beide verarbeiteten die neuesten Erkenntnisse und Theorien in ihren Schriften. Man muss sich nur Poes Gebrauch des Mesmerismus, seine Beschäftigung mit der Ballonfahrt (Balloon Hoax), die detaillierte Nutzung von Daten in Arthur Gordon Pym ansehen, um das zu untermauern.

Lovecraft für seinen Teil berief sich auf wissenschaftliches Hintergrundmaterial in seiner Pym-ähnlichen Erzählung Die Berge des Wahnsinns, in Der Schatten aus der Zeit und anderen Arbeiten; bemerkenswert ist seine sofortige Aufnahme des neu entdeckten „neunten Planeten“ in Der Flüsterer im Dunkeln.

Das Interesse Lovecrafts an Astronomie führte zweifellos zu seinem zunehmenden Interesse an anderen Bereichen wissenschaftlichen Strebens, so wie Poes frühe Erfahrung in West Point seine Beschäftigung mit Codes und Ziffern befeuert haben müssen. Und beide waren als professionelle Schriftsteller weitläufig belesen und kannten die Literatur ihrer Zeit genau: Poe als Berufskritiker demonstrierte seine Kenntnisse in seinen Aufsätzen und Lovecraft tat dies in seiner gewaltigen Korrespondenz, in der er beweist, dass er Proust, Joyce, Spengler und Freud gelesen hatte.

Aber der Punkt ist, dass sich Poe und Lovecraft dazu entschieden haben, dem Gebaren der zeitgenössischen Literatur den Rücken zu kehren und ihre eigenen individuellen Phantasiewelten zu erschaffen. Und vor allem darin waren sie sich gleich. Und darüber sind wir Leser von Poe und Lovecraft über alle Maßen glücklich. Wir werden nie erfahren, und uns ist es auch egal, was Edgar Allan Poe über Andy Jacksons „kitchen cabinet“ dachte, oder wie H.P. Lovecraft den Teapot Dome Scandal (Anmerkung des Übers.: amerik. Bestechungsskandal der 1920er Jahre) betrachtete. Das ist leicht zu verschmerzen, wo uns doch beide Einblicke in eigenartige Welten gegeben haben, die, völlig provokativ, ihre eigenen sind.

Die schlußendliche Ähnlichkeit aber ist die: Poe und Lovecraft sind unsere zwei Amerikanischen Genies der Fantasy, der eine vergleichbar mit dem anderen, aber beide allen überlegen, die in ihrem Fahrwasser treiben.

Copyright-Notiz: Übersetzt von Michael Perkampus © 2017. Der Artikel erschien im Original in „Ambrosia Nr. 2“ (August, 1973), © 1973 Alan Gullette und Robert Bloch. Der Nachdruck erschien in H.P. Lovecraft: Four Decades of Criticism, editiert von S.T. Joshi, Ohio University Press, 1980), pp. 158-160, © 1980 Ohio University Press.

Bouquinist

Das Rauchgespenst / Fritz Leiber

Fritz Leiber, bekannt durch seine Lankhmar-Geschichten, war einer der ersten Autoren, die das Horror-Genre aus seinem 19. Jahrhundert-Mief befreite und ihm neue, schwärzere Impulse gab. Viele seiner Geschichten haben ihr Zentrum in der modernen Welt und zeigen deren Gesicht in seiner ganzen Schäbigkeit, Abscheulichkeit und Ausbeutung. Themen wie Alkoholismus, Armut und Rassismus werden sachlich gehandhabt, während der Inhalt stets düster ist: Sand, Sediment, Schmutz sind als physikalische Substanzen vorherrschend.

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Journal

Interview mit Thomas Ligotti

Thomas Ligotti

Interview geführt von Matt Cardin, Juli 2006, Erschienen in The Teeming Brain und in The New York Review of Science Fiction, Issue 218, Vol. 19, No. 2 (October 2006). Gedruckt erschienen in Matt Cardin: Born to Fear (Interviews mit Thomas Ligotti)

Übersetzt von Michael Perkampus, mit freundlicher Genehmigung von Matt Cardin.

Anmerkung: Dieses Interview übersetzte ich im Dezember 2014, als ich begann, unter einer ähnlichen Problematik zu leiden wie Thomas Ligotti. Im Grunde war es für mich eine Art Trostpflaster. Daraus resultierte dann das Magazin PHANTASTIKON.

Thomas Ligotti

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