Michael Perkampus ist ein Solitär der deutschen Literatur. Am Surrealismus und der Dekadenzliteratur geschult, wird die Sprache hier zu einem Instrument der Wahrnehmung. Seine Ausflüge in die Weird Fiction sind ebenso Programm wie das Zerschmettern jeglicher Realität.
Täglich Texte und Betrachtungen.
Kleewald Robinson
byPerkampus
“Wenn du die Sache perfekt erledigt wissen willst, gibt es nur einen, den ich empfehlen kann: Kleewald Robinson”, sagte Carl.
Michael Perkampus ist ein Solitär der deutschen Literatur. Am Surrealismus und der Dekadenzliteratur geschult, wird die Sprache hier zu einem Instrument der Wahrnehmung. Seine Ausflüge in die Weird Fiction sind ebenso Programm wie das Zerschmettern jeglicher Realität.
Täglich Texte und Betrachtungen.
Betibú
byPerkampus
Ein Mann mit durchtrennter Kehle wird in seinem Haus in einem geschlossenen Viertel (Barrio Cerrado) in Buenos Aires von seiner Haushälterin aufgefunden. Hat er Selbstmord begangen? Wurde er getötet? Und wenn ja, warum? Hat sein Tod etwas mit dem Mord an seiner Frau drei Jahre zuvor zu tun? Das sind die Rätsel, denen Claudia Piñeiro in ihrem Roman Betibú auf den Grund geht. Eine Geschichte, in der sich Realität und Fiktion, Journalismus und Literatur überschneiden.
Mit „Der Fall Alice im Wunderland“ gewann Martinez 2019 den spanischen Nadal-Preis und ist die Fortsetzung von Die Oxford-Morde. Beide Romane können dennoch völlig unabhängig voneinander gelesen werden. Was sie verbindet ist der Schauplatz Oxford und die Figuren des berühmten Logik-Professors Arthur Seldom, des argentinischen Studenten Martin, sowie des Polizeiinspektors Petersen. Mit ein paar Sätzen verlässt Guillermo Martínez den vorherigen Roman, einen Fall, der eigentlich schon abgeschlossen war, um sich auf diese neue Geschichte zu konzentrieren, eine Geschichte, deren Hauptfigur nicht Seldom oder Martin ist, sondern Lewis Carroll und das Universum von Alice im Wunderland.
Der Roman basiert auf realen Ereignissen, wie dem Fund eines Zettels, der den Inhalt der aus den Tagebüchern von Lewis Carrol herausgerissenen Seiten zusammenfasst, um einen völlig fiktiven Mordfall zu schaffen.
Dies geschieht in einem sehr britischen Stil, nicht nur wegen des Schauplatzes Oxford, sondern auch, weil er, wie schon bei den Oxford-Morden, unweigerlich an den Stil der Romane von Agatha Christie erinnert. Denn obwohl er an mehr Schauplätzen spielt als sein Vorgänger, könnte er sehr gut als Theaterstück umgesetzt werden. Es gibt wahrscheinlich mehr Dialoge und Überlegungen als Handlung.
Lewis Carroll
Die Geschichte des Romans dreht sich um eine Gruppe von Fans von Lewis Carroll, dem Autor von Alices Abenteuer im Wunderland, eine Bruderschaft, die nicht nur das Werk und das Vermächtnis des Schriftstellers bewahrt, sondern auch seinen Mythos pflegt und sein Andenken schützt. Unter ihnen ist auch Seldom. Es ist ein heikles Thema – vielleicht heute mehr denn je, auch wenn der Roman vor einem Vierteljahrhundert spielt -, denn wie wir wissen, wurde das Werk, das Carroll, der eigentlich Charles Dodgson (1832-1898) hieß, unsterblich machte, von einer der Töchter eines gewissen Henry Liddell, seines Dekans am Christ Church College in Oxford, inspiriert. Dodgson, der Mädchen liebte und ein erfahrener Fotograf war, brachte diese beiden Leidenschaften zusammen und porträtierte Liddells Töchter – wie auch viele andere Mädchen – bei zahlreichen Gelegenheiten. Die Grenze zwischen dieser freizügigen Faszination und ihren dunkleren Konnotationen war schon immer eine Quelle von Konflikten, die zweifellos durch die Falten einer Epoche – der viktorianischen – genährt wurden, deren moralische Strenge voller Widersprüche war.
Alice Liddell als Bettlerin
Die Handlung des Romans wird durch das Auftauchen eines kleinen Zettels ausgelöst. Darauf notiert eine von Carrolls Nichten, misstrauisch, aber letztlich schuldbewusst, das Wesentliche dessen, was auf einer der Seiten stand, die sie aus den Tagebüchern des berühmten Schriftstellers herauszureißen beschloss. Das Seltsame ist, dass dieses Blatt von all jenen, die sein Leben bis ins kleinste Detail erforscht haben, darunter auch Mitglieder der Bruderschaft, unbemerkt blieb. Diese wenigen Zeilen, so scheint es, könnten die Perspektive, aus der Carroll bisher betrachtet und beurteilt wurde, erheblich verändern. Sie würden unter anderem die Gründe für seinen Bruch mit der Familie Liddell offenbaren. Die bevorstehende Veröffentlichung der Tagebücher wirbelt alle möglichen Gespenster auf und es geschehen Morde, die direkt aus Carrolls Büchern entnommen zu sein scheinen.
Martinez ist ein überzeugter Anhänger des Klassizismus, und seine Herangehensweise an die „weiße“ Polizeiarbeit (bei der nur der Verstand zur Lösung kommt und alle Emotionalität hinten angestellt wird) ist ein Bekenntnis zu seinen Prinzipien. Die Darstellung der Charaktere – die weiblichen sind vielleicht am gelungensten -, die Entwicklung der Handlung und ihr Fortschreiten bis hin zur Auflösung der Schleier am Ende entsprechen bestimmten Klischees des klassischen Kriminalromans, und es steht außer Frage, dass er sie mit Geschick wieder aufgreift. Am besten ist der Roman jedoch, wenn er seine Vorlage aus den Augen verliert, insbesondere, wenn er in die Zwischenräume und Zweideutigkeiten von Carrolls geheimnisvollem Leben eintaucht.
Dem Autor Alan Moore, dem „Zauberer” hinter „V wie Vendetta”, „Batman: The Killing Joke”, „From Hell” und vielen anderen Titeln, ist es gelungen, seine zeitgenössischen Ideen auf revolutionäre Weise durch das Medium Comic zu vermitteln. Indem er sich mit universellen Konzepten auseinandersetzte und sie durch Symbolismus und Satire aufschlüsselte, erregte er schnell die Aufmerksamkeit der Welt. Er wurde zu einem wichtigen Einfluss in der Populärkultur, denn sein Werk besitzt bis heute eine unvergleichliche Relevanz für die moderne Politik und Philosophie. Zu seinen bedeutendsten Comics gehört das mit dem Hugo Award ausgezeichnete Hauptwerk „Watchmen”, das mit seiner Erzählung, seinen Themen, seinen Figuren und seiner philosophischen Botschaft die Comic-Industrie schlagartig veränderte.
Die Geschichte von „Watchmen” ist in einer alternativen Realität angesiedelt, die sich am Zustand der Welt in den 1980er Jahren orientiert. Sie ist ein ausladender Kommentar zum Superheldenkonzept und seinen persönlichen sowie politischen Implikationen vor dem Hintergrund eines drohenden Atomkriegs. Zwar absolviert Richard Nixon hier mehrere Amtszeiten als Präsident der Vereinigten Staaten und die Vereinigten Staaten gewinnen den Vietnamkrieg, doch die zentrale Wendung dieser realistisch dargestellten Geschichte ist die Existenz von Superhelden und ihre Verantwortung für die Entwicklung der internationalen Beziehungen und die Verbrechensbekämpfung. Während die Spannung ins Unermessliche steigt, deutet der Mord an einem ehemaligen Helden auf ein größeres Komplott hin. Aufgrund des Keene-Gesetzes sind Vigilanten nun illegal und ihre Aktivitäten sind untersagt.
Alan Moore hat sich eines Themas angenommen und eine realistische und doch nihilistische Sicht auf Superhelden vorgelegt, wie es sie vorher noch nie gegeben hat. Durch seine vielschichtige, nicht-lineare Erzählweise bietet er eine intime und doch universelle Geschichte, die den Wahnsinn der Welt durch die Augen von Vigilanten betrachtet. Diese haben ihre Bestimmung in Handlungen gefunden, die darauf ausgerichtet sind, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Ob diese Helden für die Regierung arbeiteten oder nicht, war nicht entscheidend für das Verständnis der keineswegs neuen Erkenntnis, dass die Menschheit zu Schrecken jenseits unserer Vorstellungskraft fähig ist. Anhand verschiedener komplexer Charaktere – vom schwer fassbaren, zwanghaften Rorschach bis hin zum göttlichen, rätselhaften und introspektiven Dr. Manhattan – wird in einer zwölfteiligen Serie ein kritischer Kommentar zur Motivation von Helden präsentiert.
Die schonungslose Sezierung der Superhelden und die fesselnde Krimihandlung sind jedoch nicht die einzigen Eigenschaften dieses Comics. Zeichner Dave Gibbons verdient ebenso viel Lob für dieses bahnbrechende Werk, denn sein Neun-Panel-Raster ist eines der ikonischsten Elemente dieser Geschichte. Die dialoglosen Seiten zeigen eine unglaubliche emotionale Bandbreite und bestätigen das Sprichwort, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt. Der ehrgeizige und selbstbewusste Künstler zögert nicht, die Hauptfiguren zu ignorieren und sich auf die Umgebung zu konzentrieren, um die starke Symbolik der Geschichte zu vermitteln. Tatsächlich gibt es in der gesamten Geschichte erstaunliche Wort- und Bildspiele, die bis ins kleinste Detail analysiert werden können und die Erzählung meisterhaft perfektionieren. Dies hilft auch bei der Illustration einiger der besten Übergänge zwischen den Panels. Letztendlich dient das Artwork als tadelloses Gefäß, um diese erschütternde und doch fesselnde Tragödie zu erzählen, die auf ihrer selbst konstruierten, atemberaubenden Mythologie aufruht.
Dieses Buch wurde seit seiner Erstveröffentlichung endlos zerpflückt. Jedes Bild wurde mikroskopisch genau untersucht, die Handlung, die Charaktere und die Symbole wurden nicht weniger ausführlich analysiert als jene der Odyssee. Die Fans dieses Buches sind wie die Fans aller anderen Bücher auch äußerst einnehmend und streitlustig. Wenn man ein Buch wie dieses zum ersten Mal liest, wird man wahrscheinlich weniger Kritik üben, sondern eher eine intellektuelle Angleichung vornehmen. Was gesagt werden konnte, wurde wahrscheinlich schon gesagt; die Frage ist nun, mit wem man übereinstimmt.
„Watchmen“ ist groß, wichtig, brillant – und unerträglich. Es ist mythisch, düster. Es ist fantastisch und dumm. Auf seinen Seiten gibt es Helden, Antihelden und riesige, blaugesprenkelte Superhelden. Es gibt Aliens, straßenkämpfende Lesben und Piraten. Zweideutig böse Genies und durchschnittliche New Yorker sind ebenfalls dabei. Wenn die Gewalt nicht intim ist, dann ist sie global. Wenn der Sex nicht zärtlich ist, dann ist er schmutzig. Die Geschichte von „Watchmen” ist zum Teil ein Krimi, zum Teil ein philosophisches Traktat. Der Schreibstil ist heftig, bahnbrechend, verkniffen und pedantisch. Die Kunst ist stets steif, aber immer angemessen.
Watchmen ist alles. Manchmal ist es sogar langweilig.
Obwohl „Watchmen“ als bahnbrechende Graphic Novel bezeichnet wird, lässt sich die Frage, was eine Graphic Novel ist, kaum klären. Das Time Magazine hat ihn zu einem der 100 besten Romane des Jahrhunderts gekürt. Dabei ist „Graphic Novel“ einfach das Etikett der Wahl für diejenigen, die lieber nicht beim Lesen von Comics erwischt werden wollen.
Eine der wichtigsten Figuren ist Dreiberg. Er ist kein Held mit Superkräften, aber auch nicht ganz gewöhnlich. Er ist ein Post-Superheld: Seit die Regierung maskierte Verbrechensbekämpfer verboten hat, hängt sein Nite-Owl-Kostüm im Schrank und sein cooles Luftkissenfahrzeug verstaubt im Keller. Aufgrund seines Übergewichts ist sein Selbstvertrauen geschwächt, sodass er sich nur aus der Ferne für Dr. Manhattans kurvige Freundin Laurie begeistern kann. Dr. Manhattan steht außerhalb der Zeit. Als Opfer eines nuklearen Unfalls kann er über Wasser laufen, durch Wände gehen und in einem Anfall von Wut sogar zum Mars fliehen und dort schmollen. Die Geschichte beginnt jedoch mit Rorschach im Trenchcoat – einsilbig und vermutlich geisteskrank – und seiner Vermutung, dass jemand es auf die Maskierten abgesehen hat. Während sich Recht und Unrecht um ihn herum ständig verschieben, ist Rorschach ironischerweise derjenige, der konstant bleibt. Er ist das schreckliche Gewissen von „Watchmen“.
Die Handlung ist komplex und äußerst anspielungsreich. Neben der Haupthandlung gibt es mehrere Hintergrundgeschichten sowie eine alternative Geschichte, die sich im Hintergrund abspielt. Es gibt Darstellungen und Parodien auf die unterschiedlichsten Medien: Comics, Zeitungen, Fernsehen, Werbung, Zeitschriftenartikel usw. Zudem gibt es endlose Verweise auf die jüngere amerikanische Geschichte, die Antike, Philosophie, Poesie, populäre Musik, andere Comics und „Watchmen“ selbst.
Die verschiedenen Symbole des Comics – Uhren, Pyramiden und Dreiecke, das berühmte blutbespritzte Smiley-Gesicht, Masken, Tintenkleckse, Vögel und Schmetterlinge, Atome, Parfüm, Knoten, Spiegel und Reflexionen u.v.a.m. – wirken dagegen fast schon konkurrenzlos unsubtil. Pyramid Deliveries. Prometheus Cab Company. Gordian Knot Lock Co. Nostalgie-Parfüm. Utopia Theater.
Einige Handlungselemente wirken überflüssig und einen Schritt zu gewollt. An erster Stelle steht der Piratencomic im Comic. Die Tatsache, dass die Piraten die Superhelden als Thema der Comics abgelöst haben, deutet darauf hin, dass die Welt der „Watchmen” vielleicht düsterer und weniger idealistisch ist als unsere eigene. (Zumindest ist sie düsterer als die Zeit, in der Superhelden die Comics beherrschten.) Doch was ist mit einer Welt, in der Comics wie „Watchmen” dominieren? Moore übertreibt es jedoch, indem er ein morbides Piratenabenteuer einführt, das während der gesamten „Watchmen”-Geschichte Parallelen und Kommentare zur Haupterzählung aufweist. Zunächst ist es ein netter Trick, doch wenn es Kapitel für Kapitel wieder auftaucht, fragt sich der Leser: Was soll das?!? Der Autor des Piratencomics taucht sogar in einer Nebenhandlung auf, hat aber kaum Wirkung.
Die Grafik ist selbstbewusst, manchmal jedoch auch übermäßig konservativ: Die Kiefer sind quadratisch, die Seiten sind stets in neun Panels unterteilt. Das Ergebnis ist eine interessante formale Spannung zwischen einem altmodischen Look und bahnbrechenden Texten. Eine komplizierte Handlung und ein ausgeklügeltes Layout greifen ineinander wie – was sonst? – ein Uhrwerk. Das ist auf technischer Ebene interessant. Es gibt jedoch Momente, in denen sich alles sehr nach der Maschinerie des Plots anfühlt. Dadurch verliert die Geschichte an Leben.
Es wird deutlich mehr Zeit auf die Figuren als auf die Geschichte verwendet. Das ist ein weiteres Indiz dafür, warum „Graphic Novel” als Etikett funktionieren könnte – wenn man dazu geneigt ist. Charaktere wie Dan Dreiberg, Laurie Juspeczyk und ihre Mutter Sally Jupiter sind allesamt erkennbar menschlich und äußerst dreidimensional dargestellt. In ihrer Welt ist alles kompliziert, ironisch und unangenehm.
Was Rorschach, Dr. Manhattan und den von Alexander besessenen Geschäftsmann Ozymandias betrifft, hätte man sich in einer anderen literarischen Inkarnation vorstellen können, dass sie einen langen, erholsamen Spaziergang vor dem Internationalen Sanatorium Berghof gemacht hätten, während sie mit ihren Stöcken klickten und über die Auswirkungen des Determinismus nachdachten. Leider werden sie in „Watchmen“ auf die ganze Erde und sogar auf den Mars losgelassen. Sie sind kaum mehr als mythisch-philosophische Typen mit gequältem Vokabular. Sie schweben über unserer bloßen Sympathie oder Empörung.
Ein weiteres Problem bei „Watchmen” ist die Wirkung, die der Comic auf das Medium selbst und sein Publikum hatte. Die Comicfirmen haben aus „Watchmen” die falsche Lektion gelernt. Anstatt neue Wege zu finden, um bekannte Geschichten zu erzählen, dachten die Autoren und Künstler im Grunde, dass die Gewalt und die „Reife” dafür verantwortlich waren, dass „Watchmen” so beliebt war. „Reife” bedeutet jedoch mehr als nur Blut und unanständige Worte. Das wusste „Watchmen”, seine Nachahmer in den Jahren danach jedoch nicht. Anstatt dem Beispiel von „Watchmen” mit seiner Tiefe, seinem sozialen Kommentar und der Art und Weise, wie es das Medium nutzt, zu folgen, wurden die Comics einfach nur düsterer statt komplexer. Das hat die Comics verändert – jedoch nicht immer zum Besseren.
„Watchmen“ ist durchweg ernsthaft und äußerst ehrgeizig. Es ist groß und strebt danach, wichtig zu sein, aber zu oft ist es einfach nur selbstgefällig. Moores Texte strotzen nur so vor Überheblichkeit und werden von Zeit zu Zeit zu einer Parodie ihrer selbst.
In „Watchmen“ gibt es einen herzzerreißenden Moment. Er ereignet sich am Ende des vorletzten Kapitels, wenn der Videomonitor weiß wird und alles entsetzlich still ist. Dieser Moment ist wie geschaffen für einen Mythos, für eine Geschichte, in der es um das Unbekannte geht, um das, wofür wir zunächst keine Worte haben. Der Mythos blickt in das Herz einer großen Stille. Bemerkenswert an „Watchmen“ ist die Art und Weise, wie methodisch und manchmal grausam die „essentielle Albernheit” seiner Charaktere entlarvt wird (um Moore in seinem Vorwort zu The Dark Knight Returns zu zitieren), während gleichzeitig der Geist und die Mission des Mythos aufrechterhalten werden.
Und das, obwohl Mythen und Romane, oder Comics und Romane, traditionell ein Widerspruch in sich sind. Sicher, Mythen mögen sich manchmal wie Romane lesen, aber die beiden Formen haben eigentlich nichts gemeinsam. Selbst die experimentellsten Fiktionen müssen sich bis zu einem gewissen Grad auf psychologischen Realismus stützen; ohne ihn wären ihre Figuren unerkennbar und ihre Handlungen uninteressant. In den Mythen hingegen geht es genau um dieses Widersprüchliche und das Unerklärliche. Das Leere. Das Schweigen.
Letztendlich überwiegt jedoch die visuelle Komplexität von „Watchmen“ viele seiner literarischen Schwächen. Es ist interessant anzuschauen. Und die Welt, die Alan Moore erschaffen hat, ist so umfassend und tiefgründig erdacht, dass sie einen in ihren Bann zieht und am Ende nicht mehr loslässt.
Frische Leichen waren im Schottland des 19. Jahrhunderts eine begehrte Ware. Mit den Fortschritten in der modernen Medizin stieg auch die Nachfrage nach Leichen für die Forschung und den Anatomieunterricht, vor allem in Edinburgh, wo mehrere Pioniere der Anatomie ansässig waren. Allerdings sah sich die Ärzteschaft mit einem Kadavermangel konfrontiert – die einzigen Leichen, die legal seziert werden durften, waren die von Kriminellen, Selbstmordopfern und nicht abgeholten Waisenkindern.
Was sollte ein Anatom tun, wenn das legale Angebot an Leichen in Schottland versiegte? Nun, einige besorgten sich ihre Leichen von Grabräubern. Andere wendeten sich einer noch einfallsreicheren Lösung zu: Mord. Hier kamen die berüchtigten Mörder Burke und Hare ins Spiel, die sich gerne zur Verfügung stellten.
Damals wurden die Leichendiebe, die frisch begrabene oder noch nicht begrabene Leichen von den örtlichen Friedhöfen stahlen und an Anatomieschulen verkauften, als Auferstehungsmänner bezeichnet. Obwohl die Auferstehungshelfer eine kurze Blütezeit erlebten, wurde die Öffentlichkeit bald auf sie aufmerksam. Um zu verhindern, dass der Leichnam eines geliebten Menschen gestört wurde, ergriffen die Familien eine Reihe von Maßnahmen: Sie stellten Wachen ein, die auf den Friedhöfen patrouillierten, errichteten Wachtürme und bauten Mortsafes, also eiserne Käfige, die die Grabstätten abdeckten.
Aber die Ärzte brauchten immer noch etwas für ihre Anatomietische und waren bereit, viel Geld für frische Leichen zu bezahlen. Einer dieser Ärzte war Robert Knox, ein Dozent für Anatomie, der versprach, in jeder Vorlesung eine „vollständige Demonstration anatomischer Themen“ zu geben. William Burke und William Hare verkauften ihm 1828 innerhalb von 10 Monaten 16 Leichen. Da Leichendiebstahl unabhängig von der Herkunft der Leichen ein Verbrechen war, machten sich die Ärzte in der Regel nicht die Mühe, sich nach der Quelle ihres Angebots zu erkundigen. Hätte er dies getan, wäre Dr. Knox auf eine erschreckende Wahrheit gestoßen: Mit Hilfe von Hares Frau Margaret und Burkes Geliebter Helen McDougal töteten die beiden Menschen, um sich selbst zu bereichern.
Eine Illustration von Dr. Robert Knox. Photo Credit: Hulton Archive / Getty Images
Die erste Leiche, die Burke und Hare dem Arzt verkauften, war ein Mieter von Mrs. Hares Haus, der gestorben war, während er noch Miete schuldete. Um ihren Verlust auszugleichen, füllten Burke und Hare den Sarg des Mannes mit Rinde und brachten seine Leiche zur Universität Edinburgh. Laut Burke wollten sie Professor Munro sprechen, wurden aber stattdessen zum Surgeon’s Square geschickt, wo sie Dr. Knox trafen. Dieser nicht sehr gute Arzt bezahlte sie bereitwillig, um ihnen die Leiche abzunehmen, ohne Fragen zu stellen.
Das erste wirkliche Opfer der Männer war ein fiebriger Untermieter namens Joseph. Hare befürchtete, dass eine kranke Person im Haus das Geschäft verderben würde. Ihre verrückte Lösung war, den ahnungslosen Untermieter zu töten und seine Leiche an Dr. Knox zu verkaufen. So begann die Mordserie des Paares, als sie erkannten, welch reiche Gelegenheit sich ihnen bot.
Begeistert von der Aussicht, ihre Brieftaschen zu füllen, machten sich Burke und Hare auf die Suche nach weiteren potentiellen Leichen, die vorher noch keine waren. Bei den meisten Opfern handelte es sich um weibliche Untermieterinnen oder Gäste im Haus von Mrs. Hare. Andere waren Bekannte der beiden oder Leute, die auf der Straße lebten.
Burke und Hare einigten sich auf eine Methode, um ihre Opfer zu beseitigen: Die meisten wurden mit Alkohol getränkt und erstickt. In einem Fall jedoch brach Burke einem 12-jährigen Jungen – dem stummen Enkel einer alten Frau, die sie ebenfalls töteten – das Rückgrat. Die Leichen wurden dann in Teekisten oder Heringsfässer gepackt und in das Anatomiekabinett von Dr. Knox gebracht.
Mrs. Hare’s lodging house, where many of the murders took place.Photo Credit: Wikimedia Commons
Ihr vorletztes Opfer war ein geistig behinderter junger Mann namens James Wilson, oder „Daft Jamie“, wie er in der Gemeinde genannt wurde. Dr. Knox bezahlte für den Leichnam wie für jeden anderen auch. Doch als er am nächsten Morgen das Laken von der Leiche abzog, erkannten mehrere seiner Studenten Wilsons Gesicht wieder.
Knox bestritt, dass es sich bei der Leiche um den vermissten jungen Mann handeln könnte, und sezierte die Leiche vorzeitig. Indem er den Kopf und die charakteristischen Füße des jungen Mannes entfernte, die deformiert waren und ihn offensichtlich hinken ließen, machte Dr. Knox die Überreste unidentifizierbar.
Das letzte Opfer der Mörder war eine Frau namens Mary Docherty, die Burke in das Gasthaus lockte und tötete. Doch das Haus war nicht leer. Als zwei andere Gäste, James und Ann Gray, am nächsten Abend ein Bett suchten, entdeckten sie Dochertys Leiche darunter. Das entsetzte Paar alarmierte die Polizei, die das Haus durchsuchte. Obwohl Burke und Hare die Leiche inzwischen weggeschafft hatten, fanden die Polizisten blutverschmierte Kleidung im Haus und misstrauten den widersprüchlichen Aussagen der Hausbewohner. Am nächsten Tag fand die Polizei Dochertys Leiche in den Sezierräumen von Knox.
Die letzten beiden Opfer: James “Daft Jamie” Wilson (links) und Mary Docherty (rechts).Photo Credit: Wikimedia Commons
Kurz nachdem Burke und Hare verhaftet worden waren, erhielt Hare die Möglichkeit, gegen seinen Partner auszusagen und dafür Immunität zu erhalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Nachricht von dem tödlichen Duo bereits verbreitet, und Hares Immunität kam in der Öffentlichkeit nicht gut an. Schließlich musste Hare von der Polizei vor der aufgebrachten Menge gerettet und mit Hilfe von Kutschen und Verkleidungen in Sicherheit gebracht werden. Auch Hares Frau Margaret und Burkes Geliebte Helen bekamen den Zorn der Menge zu spüren. Sie wurden während des Prozesses unter Polizeischutz gestellt, und Hare, seine Frau und Burkes Geliebte flohen schließlich ganz aus Edinburgh. Während Gerüchte über ihren Verbleib kursierten – eine besonders rachsüchtige Geschichte besagte, Hare sei von einem Mob geblendet worden und als Bettler in London gestorben – blieb ihr Schicksal unbekannt.
Obwohl Dr. Knox nie wegen seiner Beteiligung angeklagt wurde, war seine Karriere irreparabel beschädigt. Er wurde unter Druck gesetzt, sein Amt als Kurator des Museums des College of Surgeons niederzulegen, und verließ schließlich ganz das Land, um sich in London niederzulassen und dort den Rest seines Lebens zu verbringen.
Der Prozess gegen Burke begann am Weihnachtsabend des Jahres 1828, als er für drei der 16 Morde angeklagt wurde. Der Prozess dauerte 24 Stunden; Burke wurde eines Mordes für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Am 28. Januar 1829 wurde er vor einer Menge von mehr als 20.000 Menschen gehängt. Am nächsten Tag wurde sein Leichnam öffentlich im Anatomischen Theater seziert, das er mit frischen Leichen beliefert hatte. So viele Menschen wollten der Sezierung beiwohnen, dass es zu einem Tumult kam. Schließlich ließ die Universität die Zuschauer in Gruppen zu je 50 Personen ein.
Großer Auflauf bei Burkes öffentlicher Hinrichtung.
Bei der Sektion tauchte Professor Munro, der selbst nur durch Zufall nicht mit den Mördern in Verbindung gebracht werden konnte, eine Feder in Burkes Blut. Er schrieb: „Dies ist mit dem Blut von William Burke geschrieben, der in Edinburgh gehängt wurde. Dieses Blut wurde von seinem Kopf genommen“. Nach seinem Tod und seiner Sezierung verkauften Menschen auf den Straßen Edinburghs Geldbörsen, die angeblich aus seiner Haut gefertigt waren.
Burkes Vermächtnis hinterließ Spuren in der Sprache in Form des heute archaischen Wortes „burking“. Es bedeutet „durch Ersticken töten“ mit der Absicht, die Überreste zu verkaufen. Die Untaten von Burke und Hare inspirierten auch Nachahmer – die Londoner Burker ermordeten Menschen unter ähnlichen Umständen und nahmen sich die berüchtigten Mörder von Edinburgh zum Vorbild.
Die heftigen Reaktionen auf den Aufsehen erregenden Fall von Burke und Hare führten unmittelbar zur Verabschiedung des Anatomiegesetzes von 1832, das den Ärzten den Zugang zu Leichen erleichterte, indem es ihnen erlaubte, gespendete und nicht abgeholte Leichen zu sezieren. Es regelte auch die Praxis, indem es von den Anatomen eine Lizenz verlangte und staatliche Inspektoren einsetzte, um die Rechtmäßigkeit der Sektionen zu überwachen.
Burkes ausgestelltes Skelett im Anatomischen Museum in Edinburgh.
Als Burke zum Tode verurteilt wurde, sagte der vorsitzende Richter zu ihm: „Ihr Körper sollte öffentlich seziert und anatomisiert werden. Und ich vertraue darauf, dass, wenn es eines Tages üblich sein wird, Skelette zu konservieren, das Ihre konserviert werden wird, damit die Nachwelt sich an Ihre grausamen Verbrechen erinnern kann“.
Seine Vorhersage erfüllte sich. Heute ist Burkes Skelett im Anatomischen Museum der Universität Edinburgh ausgestellt, zusammen mit seiner Totenmaske, einem Gipsabdruck seines Gesichts nach der Hinrichtung.
Hier haben wir es mit einer gelungenen Mischung aus Krimi und Geistergeschichte zu tun. Nicht etwa im Sinne einer Urban Fantasy, sondern ganz klassisch. Zwei Morde aus zwei Epochen werden hier mit einem unheimlichen Internat für unliebsame Mädchen zusammengeführt. Die beiden Erzählstränge kann man auch an den unterschiedlichen Titeln ablesen. Da hätten wir das Original – Broken Girls -, der sich auf die Mädchen bezieht, und „Die schwarze Frau“, was den Spuk selbst betrifft.
In Vermont im Jahr 2014 wird die Journalistin Fiona Sheridan von dem 20 Jahre zurückliegenden Mord an ihrer älteren Schwester Deb verfolgt. Obwohl Tim Christopher, Debs ehemaliger Freund und auch ihr Mörder, außerdem Sohn einer wichtigen lokalen Familie, schnell gefasst wurde und die letzten 20 Jahre im Gefängnis verbracht hat, kann Fiona nicht aufhören, sich damit zu beschäftigen. Immer wieder zieht es sie nach Idlewild Hall, einem verlassenen Internat, auf dessen Grund Debs Leiche gefunden wurde. Als sie erfährt, dass die verfallene Schule restauriert wird, beginnt sie für einen Artikel zu recherchieren. Das Gebäude selbst ist so baufällig, dass die Restaurierung Millionen von Dollar kosten wird und niemals Gewinn abwerfen kann. Warum sollte sich jemand also die Mühe machen?
„120, Rue de la Gare“ ist ein Roman von Léo Malet aus dem Jahr 1943. Hier stellt uns der Autor seine Figur Nestor Burma vor, die aus dem Wunsch entstand, einen hartgesottenen Detektiv nach amerikanischem Vorbild mit einem Hauch englischer Detektivgeschichten zu schaffen. Malet hatte nämlich unter dem englischen Pseudonym Frank Harding mit amerikanischen Figuren und Schauplätzen in den USA zu schreiben begonnen, bevor er auf die Idee kam, einen französischen Roman zu schreiben, der in Frankreich spielt und in dem französische Figuren auftreten.
In der Gesamtausgabe
Nestor Burmas kritische, ironische und mit Sarkasmus gespickte Äußerungen über Institutionen, Profiteure, Wohlhabende und die gesamte französische Gesellschaft der zweiten Nachkriegszeit decken sich zwar mit den säuerlichen, zynischen und desillusionierten Aussagen der großen Ermittler des amerikanischen Noir-Krimis. Burma ist jedoch nicht einfach ein französisierter Klon seiner Vorbilder(etwa von Sam Spade). Es ließ sich nicht vermeiden, dass viel von Malets eigener Persönlichkeit in die Figur Burmas einfloss (seine Unabhängigkeit, sein freies Reden, seine finanziellen Schwierigkeiten und seine Pfeife).
Aus diesem Grund nimmt „Nestor Burma einen privilegierten Platz in Léo Malets Werk ein: Was Malet selbst erlebt hat, hat er auf seinen Helden übertragen; was er selbst nicht erleben konnte oder wagte, hat er ihm ebenfalls zugestanden, wodurch die Figur zu seinem wahren Doppelgänger wurde. Obwohl er die Figur unsympathisch machen wollte, gibt Malet zu, dass ihm das nicht gelungen ist:
„Da ich, ohne es zu wollen, ein wenig von mir selbst einbringen musste, erschien er trotzdem sympathischer, als ich gedacht hätte.“
Es dauerte übrigens eine Weile, bis sich der Krimi seines innovativen Charakters bewusst wurde. Während der Besatzungszeit wurde das aus den USA importierte Genre im besetzten Frankreich zur Persona non grata. So wie der angelsächsische Film die Kinos nicht mehr füllte, verschwanden die amerikanischen Romane einfach aus den Schaufenstern der Buchhandlungen. Die deutsche Zensur griff durch und beendete die Sehnsucht nach den Ländern jenseits von Kanal und Atlantik. Aber die Leser, die diese Art von populärer Literatur gierig verfolgten, waren nicht mit dem Krieg verschwunden. Sie verlangten stillschweigend nach den Stereotypen des Genres: tropfnasse Trenchcoats mit Umlegekragen, dunkle Gesichter unter zerknitterten Stetsons, Zigaretten, Kaugummi und Femmes fatales in Seidenstrümpfen, Whisky on the rocks, Handfeuerwaffen, schweinische Charaktere und Heldentum in Ich-Form, Slang, sarkastischer und desillusionierter Humor … Action und Drama im Überfluss.
Malet eliminiert jedoch die englischen und amerikanischen Zutaten seiner Geschichte und konzentriert sich thematisch auf das besetzte Frankreich (der Weg Burmas in „120, Rue de la Gare“ beginnt in einem deutschen Stalag, geht weiter in die Freie Zone in Lyon und endet im besetzten Frankreich in Paris). Weniger angelsächsisch geht nicht.
Edition Moderne
Nestor Burma wird als der berühmte Detektiv vorgestellt, der die Agentur „Fiat Lux“ leitet. Der Leser hat also nicht unbedingt das Gefühl, das erste Abenteuer dieses Helden zu erleben, obwohl dies tatsächlich der Fall ist. Im Stalag lernt Nestor Burma einen seltsamen Mann kennen, der sein Gedächtnis verloren hat. Der Mann wurde während des Krieges mit verbrannten Füßen im Wald gefunden. Seitdem weiß er nicht mehr, wer er ist. Umso erstaunlicher ist es, dass er Burma seine letzten Worte in völliger Klarheit zuruft: „Sag Hélène, 120, Rue de la Gare!
Nach seiner Entlassung aus dem Stammlager will Nestor Burma nach Paris zurückkehren, doch als sein Zug in der Gare de Lyon hält, steht Colomer, ein ehemaliger Mitarbeiter seiner Detektei, auf dem Bahnsteig. Nestor ruft ihm aus dem Zugfenster zu, und Colomer eilt zu Burma, kann aber nur noch „120, Rue de la Gare“ rufen, bevor er erschossen wird, ohne dass man weiß, von wem.
Nestor Burma ist alles andere als ein Idiot. Zwei Menschen, die in ihrem Verhalten und ihrem Lebensort so weit voneinander entfernt sind wie der seltsame Gefangene und sein ehemaliger Partner, die sterben, nachdem sie die Adresse „120, Rue de la Gare“ ausgesprochen haben, das kann kein Zufall sein.
Léo Malet legt uns einen Roman vor, bei dem die Handlung nicht die Hauptqualität darstellt. Die eigentliche Stärke des Buches ist unbestreitbar das Charisma von Nestor Burma, und es ist verständlich, dass der Autor ihn viele Abenteuer erleben lassen wollte. Dennoch darf man im Laufe der Seiten nicht den Faden verlieren, muss sich an die Hinweise halten, die die falschen Fährten bis zur endgültigen Enthüllung nähren, muss sich an die anderen erinnern, an das, was sie tun, sagen oder nicht sagen. Hier spürt man den englischen Kriminalroman, der von den verschachtelten Details der laufenden Ermittlungen lebt. Gute Arbeit beim Aufbau des Puzzles, auch wenn die Zufälle manchmal nicht ganz glaubwürdig sind.
1988 adaptierte Tardi das Werk von Léo Malet in einem meisterhaften Comic von 190 Seiten. Wie nicht anders zu erwarten, lehnt sich seine Sicht des Werkes eng an die des Romans an. Wenn ein Zeichner eine bereits existierende literarische Vorlage auf dem Zeichenbrett hat, versucht er in der Regel, das Szenario, das er umsetzen will, so getreu wie möglich wiederzugeben. Es ist fast eine Frage der Ehre, eine Hommage an denjenigen, der alles geschaffen hat. Der von Malet entlehnte Text ertränkt die Panels in einer unumgänglichen Prosa. Tardi behält jedoch die Kontrolle über das Geschehen, indem er ein angemessenes Schwarzweiß, eine Palette von Grautönen und einen charakteristischen Strich vorgibt, der die Strenge des architektonischen Hintergrunds mit der heiteren Art kontrastiert, in der Gesichter und Mimiken in schnellen Strichen dargestellt werden, sowie mit der Sorgfalt, mit der die architektonische Wiedergabe der Gebäude von Lyon und Paris ausgeführt wird… Der Roman ist das Rohmaterial, aus dem der Zeichner schöpft und das er auf ein Minimum reduziert. Man hat den Eindruck von schwarz-weißen Postkarten der Epoche, in die sich imaginäre Figuren einfügen. Das ist großartig, das bewundert man.
In jeder Erzählung steckt ein dramatisches Element, das auf dem Wechselspiel von Spannung und Entspannung beruht. Ob Stephen King oder Sally Rooney, die zentrale Frage bleibt immer dieselbe: Was wird geschehen? Spannungsromane und Krimis treiben diese Dynamik auf die Spitze, indem sie in die Schattenwelt der menschlichen Psyche eintauchen. Figuren, die sich moralisch relativieren und in kriminelle Machenschaften verstrickt sind, erhöhen den Einsatz und sorgen für eine kathartische Erfahrung. Eskapismus kann sowohl der Entlastung von den Schrecken des realen Lebens dienen als auch diese allegorisch verarbeiten. Denn das Erzählen solcher Geschichten spiegelt die Grundmechanismen unseres Gehirns wider: Informationen zusammenfügen, unsichere Szenarien antizipieren und – im besten Fall – daraus lernen.
„Genre“ selbst ist ein schwer fassbarer Begriff, der oft ebenso sehr von kommerziellen wie von kreativen Interessen geprägt ist. Das spezifische Vergnügen, in die Archetypen eines geliebten Milieus einzutauchen – vorausgesetzt, sie werden klischeefrei inszeniert -, bleibt jedoch unbestritten. Die Vermischung verschiedener Genres kann jedoch ein riskantes Spiel sein, da sie gelegentlich zu einem tonalen Ungleichgewicht führt. Dennoch ist der Spannungsroman eine der beständigsten und wandlungsfähigsten Formen des Erzählens. Er übersetzt das zentrale Strukturelement der Erzähldynamik auf vielfältige Weise und verwickelt die Leserinnen und Leser in kunstvoll austarierte Gedankenspiele. Im Kern geht es dabei immer um die Erkundung der Persönlichkeit – um das, was uns als Menschen ausmacht.
Der traditionelle Kriminalroman nimmt dieses Konzept wörtlich. Der einzigartige Charakter – oft in Gestalt eines Berufs- oder Amateurdetektivs – dient als Vehikel für die Erkundung der Handlung. Während sich die Erzählstränge allmählich zu einer Auflösung verdichten, erhalten wir gleichzeitig einen tiefen Einblick in die Weltsicht einer exzentrischen Hauptfigur. Doch diese Perspektive ist letztlich nur so faszinierend wie die Linse, durch die sie betrachtet wird. Die verschlungenen Plots eines Raymond Chandler verblassen hinter Philip Marlowes lakonischen Kommentaren zur Welt. Sein zynischer Heroismus entlarvt in präzise geschliffener Prosa persönliche und gesellschaftliche Heucheleien. Chandler erweitert die Grenzen des Kriminalromans, indem er Geschichten entwirft, die in ihrer Komplexität oft paradoxerweise näher am Realismus sind als stringenter konstruierte Erzählungen. So bleibt etwa das ungeklärte Schicksal eines Chauffeurs in „Der große Schlaf“ ein schwebender Faden – eine offene Frage, auf die nicht einmal Chandler selbst eine Antwort wusste. Aber auch bei eher klassischen Autoren wie Agatha Christie oder Georges Simenon sind es weniger die Details der Handlung, die in Erinnerung bleiben, als vielmehr die prägenden Charakterzüge ihrer Protagonisten – ein Beleg für die überragende Bedeutung der Figur gegenüber der Handlung.
Wer Spannung subtiler und abstrakter einsetzt, zeigt die Vielseitigkeit des Genres. Die Harlem Detectives von Chester Himes zum Beispiel schaffen dramatische Ironie, indem sie traditionelle Krimielemente mit Action und Sozialkritik verbinden. Während seine Detektive ihren Fällen nachgehen, enthüllen parallel erzählte Szenen Ereignisse, die ihnen immer einen Schritt voraus sind. Len Deightons Spionageromane wiederum beziehen ihre Spannung aus verwirrenden, undurchsichtigen Handlungssträngen, in denen selbst die Figuren selten genau wissen, was geschieht – eine Technik, die den psychologischen Realismus verstärkt, indem sie die Wahrnehmung des Lesers imitiert.
Diese abstrakteren Erzähltechniken sind letztlich immer figurenzentriert. Hinweise tauchen in Form von Gesten, Erinnerungen, Marotten oder scheinbar beiläufigen Dialogzeilen auf, die unterschwellig Entscheidungen ankündigen. So entwickelt sich die Geschichte organisch, ihr Gesamtbild klärt sich erst spät – idealerweise so spät wie möglich. Eine packende Erzählweise, die den analytischen Teil des Gehirns umgeht und gleichzeitig genügend Handlungsfäden in der Luft hält, macht es fast unmöglich, den weiteren Verlauf vorherzusehen. Viel einfacher ist es, sich einfach treiben und überraschen zu lassen – eine Strategie, die verhindert, dass auch oft wiederholte Handlungselemente irgendwann langweilig werden.
Viele Romane Vladimir Nabokovs, die man nicht primär mit dem Genre Krimi oder Thriller in Verbindung bringt, haben eine kriminelle Handlung als Dreh- und Angelpunkt. So sind Morde zentrale Katalysatoren in „Lolita“, „Gelächter im Dunkel“ und „Verzweiflung“. Letzterer ist ein besonders faszinierendes Beispiel für einen genreübergreifenden Spannungsroman. Ähnlich wie in „Lolita“ ist der Protagonist ein wahnhafter Außenseiter, dessen soziopathische Tendenzen ihn in eine finstere Verschwörung treiben. Nabokov nutzt die Ich-Perspektive, um eine trügerische Sicherheit und Empathie zu erzeugen – nur um uns am Ende mit einer schmerzhaft komischen Wendung den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Diese Überraschung gelingt, weil die blinden Flecken des Lesers geschickt ausgenutzt werden. Unzuverlässige Erzähler erzeugen genau diesen Effekt: Sie zwingen uns, die Welt gleichzeitig aus ihrer und unserer – hoffentlich rationaleren – Perspektive zu sehen, was zu spannungsgeladenen Dissonanzen führt. Ein Stilmittel, das auch Donald Westlake, Charles Willeford und Lawrence Block in ihren menschenfeindlichen Ich-Erzählungen meisterhaft einsetzen.
Flannery O’Connors Werk basiert auf subtiler psychologischer Spannung. Ihre klassische Erzählung „A Good Man Is Hard To Find“ diente als Blaupause für Werke von „Psycho“ bis „The Texas Chainsaw Massacre“: Gewöhnliche, mit Fehlern behaftete Charaktere treffen auf Außenseiter, die das ungezügelte Ich verkörpern – eine Lesart, die sich mühelos mit ihren katholischen Themen verbinden lässt.
Elmore Leonard hingegen verzichtet darauf, seinem Publikum Informationen vorzuenthalten. Die Spannung ergibt sich vielmehr aus den Entscheidungen, die seine Figuren treffen, aus dem Aufeinanderprallen ihrer Persönlichkeiten, aus unerwarteten Allianzen und Verrat. Seine Plots dienen letztlich als MacGuffins – Vorwände, um seine Figuren in Aktion zu sehen. Dennoch sind seine Geschichten fast immer befriedigend, weil sie den inneren Entwicklungen seiner Figuren folgen.
Auch Roald Dahls Kurzgeschichten für Erwachsene offenbaren eine verdrehte Psychologie. In Erzählungen wie „Die Wirtin“ entsteht Spannung nicht durch Geheimnisse, sondern durch die wachsende Erkenntnis des Lesers – ein ebenso amüsanter wie unheimlicher Effekt. Am anderen Ende des Spektrums stehen Paul Austers „New-York-Trilogie“ und James Sallis’ „Lew-Griffin“-Reihe, die fast gänzlich auf konventionelle Krimiplots verzichten und das Genre als reine Identitätserkundung nutzen – ein riskantes, aber mitunter brillantes Unterfangen.
Letztlich dreht sich das Rätsel des Kriminal- und Spannungsromans aber immer um die Figur. Die unerschöpfliche Faszination des Genres liegt in seiner Fähigkeit, das ultimative intellektuelle Geheimnis zu entschlüsseln: das Geheimnis des menschlichen Geistes.
Ein wenig schade ist es schon, dass in der deutschen Übersetzung – wie so oft – die Anspielung auf das literarische Thema unterschlagen wird. Im vorliegenden Fall steckt in der Übersetzung „Hinter diesen Türen“ das Original von „The Turn of the Screw“ in Form von „The Turn of the Key“. Es mag sein, dass ich stets zu sehr auf unseren fragwürdigen Titeln herumreite, andererseits will ich nicht davon abweichen, etwas auf Akkuratesse zu bestehen, vor allem, weil das – wie gesagt – längst keine Einzelfälle mehr sind.
Wie dem auch sei, schauen wir uns einfach an, was wir hier vor uns haben.
Kreuzt man die abgelegene, malerische Atmosphäre der schottischen Highlands mit der überklaren, schnittigen Modernität eines „Smart House“, hat man sofort das Bild der Kulisse im Kopf, mit der Ruth Ware hier hantiert. Es versteht sich von selbst, dass in den meisten guten Kriminalgeschichten der Schauplatz eine ganz eigene Persönlichkeit und einen eigenen Charakter einnimmt. Das mag auch für andere Genres zutreffen, aber im Mystery-Genre gehört dieser Aspekt zu den allerwichtigsten.
Megan Miranda ist eine feste Größe im Thriller-Geschäft. Erst im letzten Jahr hatten wir mit „Der Pfad“ einen atmosphärischen Thriller, der sich in den Appalachen abspielte. Mit „Sieben Stunden“, der im Original mit „The Only Survivors“ wieder einmal besser transportiert, was im Roman passiert, haben wir diesmal einen psychologischen Thriller vor uns, der nicht nur als fesselndes Mysterium funktioniert, sondern auch als komplexe Untersuchung von Trauma, Schuld und der Zerbrechlichkeit der menschlichen Erinnerung. In ihrem unverkennbaren Stil webt Miranda eine Geschichte in zwei Zeitebenen, die den Leser zwingt, sich an der Seite der Protagonistin Cassidy Bent durch Vergangenheit und Gegenwart zu bewegen. Was dabei herauskommt, ist weniger ein konventioneller Kriminalroman als vielmehr eine tiefgründige Meditation über das Überleben an sich – sowohl über den buchstäblichen Akt, eine Katastrophe zu überstehen, als auch über die psychologischen Kosten des Überlebens anderer.
Eine der größten Stärken des Romans ist seine strukturelle Komplexität. Miranda arbeitet mit wechselnden Zeitebenen, wobei sie zwischen dem Treffen im Strandhaus in der Gegenwart und Rückblenden auf den tragischen Unfall zehn Jahre zuvor wechselt. Diese bruchstückhafte Erzählweise baut nicht nur Spannung auf, sondern dient auch als Erkundung, wie ein Trauma die Wahrnehmung verzerrt.
Cassidy, die im Mittelpunkt des Romans steht, ist die unzuverlässige Erzählerin par excellence – nicht im Sinne einer offensichtlichen Lüge, sondern in der Art und Weise, wie sie darum kämpft, ihre Erinnerungen mit der Realität in Einklang zu bringen. Indem Miranda die Ereignisse durch ihre Perspektive filtert, lässt sie den Leser an der instabilen Psychologie einer Überlebenden teilhaben, die sowohl Opfer als auch mögliche Verschwörerin ist. Sie spiegelt die Unzuverlässigkeit eines kollektiven Traumas wider, in dem die gemeinsame Erinnerung ebenso sehr von Auslassungen und Verdrängungen wie von Fakten geprägt ist.
Die nichtlineare Erzählweise unterläuft natürlich auch die Erwartungen des Lesers. Während Thriller in der Regel auf eine finale Enthüllung angewiesen sind, die frühere Ereignisse in einen neuen Kontext stellt, bietet dieser Roman eine schleichendere Wahrheit: Es gibt keinen einzigen Moment der Erkenntnis, sondern nur eine allmähliche Entlarvung der Selbsttäuschung. Miranda zwingt ihre Figuren – und damit auch ihre Leser -, sich mit der unangenehmen Vorstellung auseinanderzusetzen, dass das Überleben selbst ein moralisch ambivalenter Akt ist.
Jedes Mitglied der immer kleiner werdenden Gruppe von Überlebenden verkörpert eine andere psychologische Reaktion auf das Trauma, so dass ihre Interaktionen von Paranoia und Spannung geprägt sind. Cassidy verkörpert die Vermeidung und versucht, die Verbindung zur Gruppe abzubrechen, bis sie durch Ians Tod wieder in die Gruppe hineingezogen wird. Andere, wie Amaya, setzen auf Kontrolle als Bewältigungsmechanismus und organisieren die jährlichen Treffen, als ob die Aufrechterhaltung der Struktur das Chaos in Schach halten würde. Grace hingegen spielt die Rolle der Friedensstifterin und klammert sich an eine Scheinharmonie, die die darunter liegenden Brüche ignoriert.
Diese psychologischen Profile spiegeln die klassischen Reaktionen auf ein Trauma wider – Kampf, Flucht und Schwäche -, was Mirandas akribische Herangehensweise an die Psychologie der Charaktere unterstreicht. Ihre gemeinsame Vergangenheit verbindet sie, doch anstatt Trost zu spenden, wirkt sie wie ein Käfig. Das Strandhaus, das normalerweise mit Entspannung und Flucht assoziiert wird, verwandelt sich in eine Arena der Klaustrophobie, in der alte Wunden wieder aufbrechen. Mirandas größter Triumph ist hier ihre Fähigkeit zu zeigen, wie die Überlebenden statt Dankbarkeit oft Schuldgefühle empfinden, die sich in einer toxischen Gruppendynamik manifestieren.
Darin ist Cassidys eigene Handlung besonders überzeugend. Sie ist keine klassische Krimiheldin, die aktiv ein Rätsel löst, sondern vielmehr gezwungen wird, sich selbst in Frage zu stellen. Sie ist gefangen zwischen der moralischen Gewissheit der Vergangenheit und der zwiespältigen Realität der Gegenwart. Am Ende des Romans hat sich ihr Verständnis des Unfalls – und ihrer Rolle darin – verändert, was Mirandas größeres thematisches Anliegen widerspiegelt: die Erinnerung als Beschützerin und Betrügerin zugleich.
Die Schuld des Überlebenden und die Bürde des Geheimnisses
Der Roman hat mehrere thematische Ebenen, wobei die Schuld der Überlebenden die wichtigste ist. Miranda hinterfragt die vereinfachte Vorstellung, dass das Überleben einer Katastrophe an sich positiv ist. Stattdessen untersucht sie, wie das Erleben eines Traumas zu einer anderen Art von Belastung werden kann, insbesondere wenn das Überleben mit moralischen Kompromissen verbunden ist.
Die jährlichen Treffen, die angeblich der Ehrung der Toten dienen, sind Rituale der Selbstbestrafung. Das Beharren der Gruppe auf Geheimhaltung dient nicht nur der Vermeidung von Konsequenzen, sondern ist ein Versuch, die Kontrolle über die gemeinsame Erzählung zu behalten. Der Begriff der „Wahrheit“ ist in diesem Roman fließend; was die Figuren erinnern, ist oft weniger wichtig als das, was sie glauben müssen, um mit sich selbst überhaupt leben zu können.
Jeder Überlebende hat sich auf seine Weise durch den Unfall definiert, ob er es zugibt oder nicht. Das gilt auch für Cassidy, die einen Großteil des Romans in dem Glauben verbringt, sich von der Vergangenheit lösen zu können, um dann festzustellen, dass ihr ständiges Ausweichen ihre eigene Form der Verstrickung ist.
Der Strand als Grenzraum
Das Strandhaus dient hier als physische Repräsentation der Kernkonflikte des Romans. Das weite und gleichgültige Meer symbolisiert sowohl die Flucht als auch die Auslöschung und spiegelt den Kampf der Überlebenden mit der Erinnerung wider. Es ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, an dem die Vergangenheit trotz ihrer Bemühungen nicht begraben werden kann.
Auch das Wetter spielt eine entscheidende Rolle für die Stimmung des Romans. Der heraufziehende Sturm ist eine Metapher für die Enthüllung von Geheimnissen – was als langsamer Aufbau von Spannung beginnt, steigert sich zu einer unausweichlichen Abrechnung. Der Strand, ein scheinbar friedlicher Ort, wird durch Mirandas sorgfältige Manipulation der Atmosphäre zu einem bedrohlichen Ort, der verdeutlicht, wie ein Trauma selbst die idyllischsten Orte in Orte des Grauens verwandeln kann.
Letztlich ist Mirandas Roman eine tiefgründige Erforschung der menschlichen Psyche unter Zwang, ein literarischer Thriller, der versteht, dass die schrecklichsten Geheimnisse nicht die sind, die wir vor anderen verbergen, sondern die, die wir vor uns selbst verbergen.
Eva García Sáenz de Urturi entführt uns mit „Die Stille des Todes“ in die mystische Atmosphäre der baskischen Stadt Vitoria und in einen komplexen, vielschichtigen Kriminalfall, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwebt.
Ein Serienmörder kehrt zurück
Vor zwanzig Jahren erschütterte eine grausame Mordserie die sonst so beschauliche Stadt Vitoria. Der brillante Archäologe Tasio Ortiz de Zárate wurde als Hauptverdächtiger verurteilt und sitzt seitdem hinter Gittern. Doch kurz vor seinem ersten Hafturlaub geschieht das Unfassbare: Die Morde gehen weiter. In der alten Kathedrale von Vitoria wird ein junges Paar tot aufgefunden, nackt und mit mysteriösen Bienenstichen in Mund und Rachen. Kurz darauf geschieht ein weiterer Doppelmord in einem mittelalterlichen Gebäude der Stadt.
Der Ermittler: Ein Getriebener auf der Jagd
Inspektor Unai López de Ayala, besser bekannt als „Krake“, ist Experte für Täterprofile und besessen von seiner Arbeit. Für ihn ist dieser Fall nicht nur eine berufliche Herausforderung, sondern auch eine persönliche Obsession, denn eine Tragödie aus seiner Vergangenheit lässt ihn nicht los. Gemeinsam mit seiner Kollegin Estíbaliz Ruiz de Gauna macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit. Doch ihre unorthodoxen Methoden stoßen bei ihrer Vorgesetzten Alba Díaz de Salvatierra, die gerade nach Vitoria versetzt wurde, auf Skepsis. Während die Zeit gegen sie arbeitet, wächst die Bedrohung: Wer wird das nächste Opfer sein?
Seit ihrem Durchbruch 2015 mit „The Girl on the Train“ hat sich Paula Hawkins als meisterhafte Erzählerin psychologischer Spannungsromane etabliert. „Die blaue Stunde“ bleibt dieser Linie treu und bietet eine Geschichte, die sich langsam entfaltet, dabei aber zunehmend an Intensität gewinnt. Es ist kein klassischer Krimi oder Thriller, sondern vielmehr ein atmosphärisch dichter Roman, der einer kunstvoll geknüpften Intrige gleicht: Man weiß, dass man irgendwann das Zentrum erreichen wird, doch was einen dort erwartet, bleibt lange ungewiss.
Die Inspiration für den Schauplatz des Romans kam Paula Hawkins während eines Urlaubs, als sie wegen einer Verletzung ans Bett gefesselt war. Sie sah eine Insel und begann darüber nachzudenken, welche Geschichten sich dort abspielen könnten. Ihre Liebe zur Kunst spielte ebenfalls eine große Rolle bei der Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander.
Natürlich erfahren wir auch, was es mit dieser „blauen Stunde“ auf sich hat:
… wenn die Nacht langsam näher rückte und der Himmel sich allmählich mit Sternen zu füllen begann …
Im Mittelpunkt steht die Künstlerin Vanessa Chapman, die bereits seit fünf Jahren tot ist. Doch durch ihre Tagebücher, ihre Kunstwerke und die Erinnerungen der Menschen, die ihr nahestanden, bleibt sie weiterhin präsent. Einer dieser Menschen ist James Becker, Kurator am Fairburn House, der sich intensiv mit ihrem Werk beschäftigt. Als in einer von Vanessas Skulpturen ein menschlicher Knochen entdeckt wird, droht ein Skandal. Wer war der Tote? Und wusste Vanessa von der makabren Einlage in ihrer Kunst?
Die Spur führt Becker auf die abgelegene Insel Eris, wo Vanessa einst mit ihrer engen Freundin und Mitbewohnerin Grace lebte. Grace, eine ehemalige Ärztin mit schroffer Art, hütet die Geheimnisse von Vanessas Vergangenheit und zögert, Becker alle Antworten zu geben. Doch nach und nach fügen sich die Bruchstücke eines düsteren Puzzles zusammen: das mysteriöse Verschwinden von Vanessas Mann Julian, die Abgründe ihrer Ehe und die Spuren ihres inneren Kampfes, die sich in ihrer Kunst widerspiegeln.
Die Atmosphäre des Romans ist von einer ständigen Unruhe durchzogen. Vanessas Schlaflosigkeit, ihre nächtlichen Wanderungen am Strand, das bedrohlich glitzernde Meer – all das schafft eine surreale, traumartige Stimmung, die sich in ihren Werken manifestiert. Ihre Kunst ist düster, von persönlichen Tragödien geprägt und offenbart tiefe seelische Risse.
Gleichzeitig ist „Die blaue Stunde“ eine vielschichtige Charakterstudie. Nicht nur Vanessa, sondern auch Becker und Grace stehen im Zentrum einer psychologisch fein gezeichneten Erzählung. Während Becker versucht, die Wahrheit hinter Vanessas Leben und Werk aufzudecken, kämpft er mit seinen eigenen Dämonen: Seine Frau erwartet ein Kind, doch er ist zunehmend besessen von Vanessas Geschichte. Grace wiederum ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Loyalität zu Vanessa und den düsteren Wahrheiten, die sie mit sich trägt.
Paula Hawkins gelingt es meisterhaft, die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Das Buch verlangt (wie jedes gute Buch) Geduld – es entfaltet sich langsam, aber mit jeder Enthüllung werden die Leserinnen und Leser dann durchaus belohnt. Und letztlich stellt sich die entscheidende Frage: Was bleibt von einem Menschen, wenn er geht? In „Die blaue Stunde“ lebt Vanessa Chapman weiter – in ihrer Kunst, in den Erinnerungen anderer und in den Schatten der Geheimnisse, die sie hinterlassen hat.
Übersetzt von Birgit Schmitz Erschienen am 9. Januar 2025
Die Brücke im Nebel ist einer der Romane, in denen Léo Malet als sein Alter Ego Nestor Burma am meisten von sich selbst und seiner Jugend verarbeitete. Von seinen Erinnerungen an anarchistische Milieus getrieben, begibt sich der Detektiv zusammen mit einer jungen, schönen Zigeunerin auf die Suche nach dem Mörder eines seit langem bekannten Trödlers. Es handelt sich um einen der düstersten Romane Malets, in dem die Nostalgie nie zu kurz kommt.
Den Schauplatz an der Tolbiac-Brücke wiederzufinden, ist angesichts der Veränderungen, die das dreizehnte Arrondissement seit dem Bau der Bibliothèque François Mitterrand in den 1990er Jahren erfahren hat, eine Herausforderung. Es ist quasi ein neues Viertel am Ufer der Seine, das heute Universitäten, Wohnungen und Geschäfte beherbergt.
Der Roman beginnt 1956 am Gare d’Austerlitz, wo Burma in einem Waggon der Metrolinie 5 sitzt, der unter einem Glasdach fährt, das von einer Eiffel’schen Stahlkonstruktion getragen wird. Der Detektiv fährt mehrmals mit dieser Linie, die sich über die Seine erhebt und dann eine lange Kurve macht, als würde die Metro absichtlich langsamer fahren, damit man die roten Backsteine des gerichtsmedizinischen Instituts besser bewundern kann. Das Krankenhaus Salpêtrière, das er später aufsuchen wird, um die Leiche seines ehemaligen anarchistischen Gefährten Abel Benoit zu identifizieren, ist nicht weit entfernt.
Nachdem Burma die Treppe zwischen der Rue du Chevaleret und der Rue de Tolbiac genommen hat, trifft er auf einen der Orte seiner Jugend, das 1932 von Le Corbusier erbaute Heim der Heilsarmee in der Rue Cantagrel, das Anfang 2016 nach einer Renovierung wiedereröffnet wurde. Am Ende der Rue du Loiret ist der Bahnhof Petite Ceinture in einem traurigen Zustand und die Rue Watt, die unter den Eisenbahngleisen hindurch zum ehemaligen Bahnsteig des Bahnhofs (heute Quai Panhard et Levassor) führt, ist nur noch ein anonymer Tunnel, seit Bürogebäude und Stadtentwicklungen die volkstümliche Wohnkultur verdrängt haben.
In der Geschichte kreuzen sich mehrere Handlungsstränge: die Ermittlungen von Inspektor Balin, die 1936 beginnen und 1955 mit seiner Ermordung enden; die Ereignisse, die mit dem Leben von Burma und anderen Protagonisten der Erzählung im „veganen Heim“ im Jahr 1927 zusammenhängen; und die laufenden Ermittlungen (1955). Die einzige Verbindung besteht darin, dass sich alles im gleichen Arrondissement abspielt. Es geht also um die Einheit des Ortes. Und dieses Arrondissement gefällt dem Detektiv, der nach dreißig Jahren seine Vergangenheit wieder aufleben sieht, nicht besonders. Zu sehr riecht es nach Elend, Scheiße und Unglück. Malet gibt sich große Mühe, die Schauplätze seiner Erzählung genau zu lokalisieren (er selbst wohnte Mitte der 1920er Jahre in der Rue de Tolbiac 182). Wahrscheinlich will er damit zum Ausdruck bringen, dass es einen Determinismus der Orte gibt und dass es unter diesen Bedingungen schwierig ist, seinem Schicksal zu entkommen…
Die Brücke im Nebel wurde 1981 in der Zeitschrift A suivre veröffentlicht und ist Tardis erste Adaption eines Kriminalromans aus der Reihe Les Nouveaux Mystères de Paris von Léo Malet. Der Zeichner nutzt die Gelegenheit, um Paris in alle Richtungen zu durchstreifen, bevor er die urbane Atmosphäre der Hauptstadt in der Nachkriegszeit gekonnt einfängt. Glänzendes Kopfsteinpflaster, der Geruch von nassem Makadam, Metallarchitekturen: Tardis Grafik, in Schwarz-Weiß gehalten und mit grauen Flächen akzentuiert, ist unübertroffen, wenn es darum geht, die Atmosphäre der Stadt ins Bild zu setzen. Ein düsterer, faszinierender und schicksalhafter Krimi.
Freuds Entdeckung der Psychoanalyse mag heute fast in Vergessenheit geraten sein oder nur noch selten praktiziert werden – zu zeitaufwendig, zu teuer, nicht ausreichend wissenschaftlich dokumentiert -, aber sein schriftstellerisches Können ist sicherlich immer noch da, um von uns nachgeahmt und genossen zu werden. Nicht umsonst hat er den Goethe-Preis erhalten. Besonders in seinen fünf berühmten Fallgeschichten, die sich wie Krimis lesen, können wir diese Kompetenz bewundern. Vielleicht ist die früheste seiner Fallgeschichten, die 1905 veröffentlicht wurde und als der Fall Dora bekannt ist, das beste Beispiel dafür. Dora, die in Wirklichkeit Ida Bauer hieß, entkam nach dreimonatiger Behandlung, was es Freud aufgrund der Kürze des Falles ermöglichte, ihn leichter aufzuschreiben. Dora, die die Behandlung verweigerte, gab ihm gewissermaßen das Geschenk der Fallgeschichte.
Schon in den ersten Zeilen des Falles macht Freud deutlich, dass er das Material beherrscht, indem er den Kern der Sache erst nach und nach enthüllt und die Informationen genau in dem Moment auftauchen lässt, in dem wir eine Frage stellen wollen. Die Fallgeschichte beginnt am Ende, oder zumindest in der Mitte, mit der Patientin und dem Geheimnis ihrer verschiedenen Symptome: Husten, körperliche Schmerzen, ein Abschiedsbrief, dessen Bedeutung unser Sherlock Homes herausfinden muss, während die Patientin selbst uns unseren Watson gibt.
Freud hat ein großartiges Gespür für Timing. Wie Dostojewski zu Beginn von Die Brüder Karamasow, wenn er vom Tod des Vaters spricht, „von dem ich [d. h. der Autor] an der richtigen Stelle erzählen werde“, führt uns Freud allmählich durch die komplizierte Auflösung dieses eng geknüpften und komplizierten Knotens. Wie Nabokov im Vorwort zu seiner Lolita fesselt Freud unser Interesse, indem er uns mitteilt:
„In dieser einen Krankengeschichte, die ich bisher den Einschränkungen der ärztlichen Diskretion und der Ungunst der Verhältnisse abringen, konnte, werden nun sexuelle Beziehungen mit aller Freimütigkeit erörtert, die Organe und Funktionen des Geschlechtslebens bei ihren richtigen Namen genannt, und der keusche Leser kann sich aus meiner Darstellung die Überzeugung holen, daß ich mich nicht gescheut habe, mit einer jugendlichen weiblichen Person über solche Themata in solcher Sprache zu verhandeln.“
Freud, Werke, Bd. 5
Wer von uns könnte einer solchen Einladung zum Weiterlesen widerstehen?
Sowohl Nabokov als auch Freud sprechen von der Notwendigkeit, die Identität ihrer Figuren zu verbergen. Nabokov kündigt an:
„Abgesehen von Korrekturen offenkundiger Flüchtigkeitsfehler und der sorgfältigen Ausmerzung einiger hartnäckiger Einzelheiten, die «H.H.»s eigenen Bemühungen zum Trotz in seinem Text als Wegweiser und Grabmale stehen geblieben waren (Hinweise auf Orte und Personen, die der Anstand mit rücksichtsvollem Schweigen zu übergehen gebietet), geben wir diese außerordentlichen Aufzeichnungen unverändert heraus.“
Vladimir Nabokov, Lolita, Vorwort, Rowohlt
Freud erzählt uns von seinen Versuchen, die Identität der echten Dora zu verbergen.
„Ich habe eine Person ausgesucht, deren Schicksale nicht in Wien, sondern in einer fernab gelegenen Kleinstadt spielten, deren persönliche Verhältnisse in Wien also so gut wie unbekannt sein müssen.“
Freud, Werke, Bd 5
Geht es bei diesen Aussagen nur um die Wahrung der Privatsphäre? Oder sollen sie uns auch – in erster Linie sogar – neugierig machen? Wie viel Wahrheit verbergen sie? Wie auch immer, es wird ein Geheimnis geschaffen, und es werden Fragen in unseren Köpfen geweckt.
Es ist Freuds Fähigkeit, ein Geheimnis zu schaffen und uns gleichzeitig genaue Details zu geben, die uns Doras Dilemma sehen, hören und verstehen lässt. Wir fragen uns von Anfang an, was diese Siebzehnjährige, die Freud als „in der ersten Blüte der Jugend“ beschreibt, so tief beunruhigt.
Freud hat hier eine Geschichte mit hohem Einsatz gewählt. Man könnte sie sogar mit einem Seifenopernquartett gleichsetzen. Doras Vater, der von Freud erfolgreich gegen Syphilis behandelt worden war, bringt seine junge Tochter, ein intelligentes, lebhaftes Mädchen, zu ihm und erklärt ihm, sein Ziel sei es, sie zur Vernunft zu bringen. Er behauptet, sie sei durch ungeeignete Lektüre in die Irre geführt worden, und fügt hinzu, sie habe sich eine ganze Szene nur eingebildet, in der ein gewisser Herr K. versucht habe, sie zu verführen.
Herr K, so stellt sich heraus, ist in Wirklichkeit der Ehemann der Frau, mit der Doras Vater eine Affäre hat und die ihr Vater deckt, indem er ihm als Ausgleich seine Tochter anbietet. Freud steigert die Spannung, indem er sagt: „Ich hatte mir von Anfang an vorgenommen, mein Urteil über den wahren Stand der Dinge so lange aufzuschieben, bis ich auch die andere Seite [d. h. Doras] gehört hatte.“ Auch wir möchten natürlich die andere Seite hören und identifizieren uns mit dem unglücklichen Mädchen.
Es fällt uns leicht, uns in die Lage dieses Mädchens zwischen ihrem sechzehnten und achtzehnten Lebensjahr zu versetzen. Wir erkennen sofort, dass ihre Situation verzweifelt war. Die drei Erwachsenen, denen sie am nächsten stand und die sie am meisten liebte, verschworen sich offenbar – einzeln, im Tandem oder gemeinsam -, um die Realität ihrer Erfahrung zu leugnen. Freud hört zumindest zu und lässt auch uns zuhören bei dieser Geschichte, die auch heute noch schockierend ist. Wer würde nicht mit diesem verletzlichen jungen Mädchen mitfühlen, das als Spielball des Ehebruchs seines Vaters behandelt wird, als Teil eines teuflischen quid pro quo: „Du nimmst meine Tochter, und ich nehme deine Frau.“
Wie viele erfahrene Krimiautoren verwendet Freud oft eine binäre Struktur mit Wiederholungen und Umkehrungen. Wir erfahren von zwei Verführungsszenen: Die erste findet im Büro von Herrn K. statt, als Dora erst 13 Jahre alt ist, und er hat vorgeschlagen, sie zusammen mit seiner Frau zu treffen. Stattdessen kommt er allein, drückt sie an sich und beginnt sie gewaltsam zu küssen. Empört reißt sie sich los und flieht, ohne irgendjemandem etwas von der Szene zu erzählen.
Die zweite Szene findet zwei Jahre später an einem See statt, an dem die Familie ein Haus besitzt. Dora hat zuvor von der Erzieherin der K-Kinder erfahren, dass Herr K., während er der Erzieherin „leidenschaftlich den Hof machte“, geklagt hatte: „Ich bekomme nichts von meiner Frau.“ Die gleiche sexuelle Anspielung verwendet er bei Dora in einer ähnlichen Liebes-Ouvertüre. Beleidigt und traumatisiert von dieser plumpen Annäherung ohrfeigt sie ihn, flieht und berichtet schließlich ihrem Vater von seinem Verhalten. Als sie am selben Nachmittag von einem Nickerchen erwacht, findet sie Herrn K. wieder neben sich, der darauf besteht, dass er eintreten kann, wann immer es ihm passt. Doch der Vater bestreitet die Wahrheit von Doras Schilderung und führt sie darauf zurück, dass sie unpassende Literatur gelesen habe. Wir fragen uns, wo in all dem die Wahrheit liegt?
Wie in jeder gelungenen Novelle werden uns auch hier zwei Träume präsentiert, um die herum die Fallgeschichte aufgebaut ist.
Wie wunderbar suggestiv diese Träume sind, zeigt sich daran, dass sie von verschiedenen Schriftstellern immer wieder als Inspiration verwendet wurden, so auch in D.M. Thomas‘ „Das weiße Hotel“.
Henry James sagte einmal: „Erzähle einen Traum, verliere einen Leser“. Aber das ist nicht das, was hier geschieht. Wer könnte Doras ersten Traum von einem brennenden Haus und dem Schmuckkästchen, das gerettet werden muss, vergessen? Oder ihren zweiten Traum, in dem es um einen Bahnhof, einen Brief und den Tod ihres Vaters geht? Diese beiden Träume beschwören viele mysteriöse Gefahren herauf: Feuer, Tod, Reisen.
Freud führt das Geheimnis auch durch die Verwendung eines verschleiernden Erzählers in der dritten Person ein. So kann er behaupten, er wolle die Vertraulichkeit wahren, hat aber auch die Möglichkeit, Argumente vorzubringen, um uns von seiner Meinung zu überzeugen.
Im Wesentlichen gibt Freud wie ein unzuverlässiger Erzähler seine eigene Version dessen wieder, was ihm seine Patientin angeblich erzählt hat. Hier beschreibt er, wie Dora nach dem berühmten Kuss ihr Bein nachzieht:
„So geht man doch, wenn man sich den Fuß übertreten hat. Sie hatte also einen „Fehltritt“ getan, ganz richtig, wenn sie neun Monate nach der Szene am See entbinden konnte.“
Freud, Werke, Bd 5
Eine Vermutung, nämlich dass eine Schwangerschaft aus einem Kuss resultieren könnte, führt ihn zur nächsten, nämlich dem „falschen Schritt“. Akzeptiert Dora das alles? Wir wissen nur, was uns Freuds Ich-Erzähler erzählt: „Und Dora stritt die Tatsache nicht mehr ab.“ Die arme Dora!
Freuds Bedürfnis, sich zu beschränken und gleichzeitig das Wesentliche in der Darstellung seiner Analyse auszuwählen, wird, wie er uns sagt, durch die „Widerstände des Patienten und die Formen, in denen sie zum Ausdruck kommen“, verstärkt. Dieser Widerstand war natürlich für Freud als Krimiautor nützlich, auch wenn er seine Aufgabe als Therapeut vielleicht erschwert hat. Der Widerstand ermöglicht es ihm, Konflikte zu schaffen. Als er zum Beispiel das Schmuckkästchen in ihrem Traum mit ihrer Vagina vergleicht, sagt Dora in einem der wenigen Momente, in denen wir ihre Stimme direkt hören dürfen: „Ich wusste, dass Sie das sagen würden!“ Wir stimmen ihr sofort zu, denn was hätte Freud auch sonst sagen sollen!
Was auch immer „Widerstand“ klinisch bedeuten mag, er ermöglicht es Freud, seine Enthüllungen bis zum richtigen Zeitpunkt zu verzögern, nicht nur für den Patienten, sondern auch für den Leser. Wir werden in Spannung gehalten und allmählich dazu gebracht, wie Hänsel und Gretel, die den Krümeln im Wald folgen, das als Realität zu akzeptieren, was sonst vielleicht unglaublich erscheinen würde.
Und er enttäuscht uns nicht: hinter jeder Enthüllung steckt immer eine noch tiefere. Die vierte Hauptperson in diesem Quartett, die wir nach Dora, ihrem Vater und Herrn K. entdecken, ist die Frau von Herrn K. Alle drei Erwachsenen verraten Dora auf unterschiedliche und entsetzliche Weise. Schon früh erfahren wir, dass Frau K ein Schlafzimmer mit Dora geteilt hat, obwohl sie wusste, dass ihr Mann woanders schläft. Sie hat die Geheimnisse ihrer schwierigen Ehe mit Dora geteilt, die von ihrem „bezaubernden weißen Körper“ angetan ist. Wie sich herausstellt, fühlt sich Dora in Wirklichkeit zu ihr hingezogen und nicht zu ihrem Mann. Auf diese Weise schafft Freud eine viel interessantere und ungewöhnlichere Dreiecksbeziehung, die für ein so junges Mädchen sicherlich glaubwürdiger ist, und enthüllt dies geschickt zum richtigen Zeitpunkt. Auf diese Weise führt er das Thema der Bisexualität ein, das ihn damals sehr beschäftigte, wie aus den Briefen an Fließ hervorgeht, in den er selbst verliebt gewesen sein könnte.
Wie in einem guten Krimi ist nichts so, wie es scheint: Hinter jedem Gegenstand, jeder Geste, jedem Wort verbirgt sich sein Gegenteil. Letztlich führt uns Freud mit Wiederholungen und Umkehrungen wie jeder gewiefte Krimiautor. Was Dora als Ekel empfindet, ist, wie Freud uns versichert, Begehren. Liebe und Hass werden einander gegenübergestellt: das ist das Beste und das Schlimmste zugleich, wie in einer Dickens’schen Welt. Die Wahrheit bleibt schwer fassbar, aber was hier zählt, ist das Geschick des Autors, unser Vergnügen an dieser gut erzählten Geschichte und vor allem die tieferen Wahrheiten über die menschliche Natur, die wir hier wie Gold verstreut finden und die von unserem unzuverlässigen Erzähler, Freud, selbst herausgeholt werden müssen.
Auch hier ist es wieder, das Phänomen einer literarischen Sprache, die unserem Land völlig abgeht. Das Buch erschien bereits 2017 im Ullstein-Verlag, ist aber bei uns völlig unbekannt geblieben.
Ein verlassenes Haus strotzt vor Regalen mit Fingernägeln und Zähnen. Ein dämonisches Idol wird auf einer Matratze durch die Straßen der Stadt getragen. Ein abgemagerter, nackter Junge liegt angekettet im Hof eines Nachbarn. Mitten in der Nacht klopfen unsichtbare Männer an die Fensterläden eines Landhotels.
Diese gespenstischen Bilder flimmern aus diesen Geschichten hervor. Ihre Figuren werden Zeugen von Gräueltaten oder deren Schatten oder Nachbildern. All diese Geschichten werden aus der Sicht einer Frau erzählt, oft einer jungen Frau, und sie scheinen dem Grauen, das sie lockt, nur so lange standhalten zu können, wie über es erzählt wird. Schließlich gehen die Mädchen und Frauen von Enriquez freiwillig auf das zu, was sie am wenigsten sehen wollen. Sie öffnen die Tür, öffnen den Schrank, überqueren die Grenze.
Die psychische Innerlichkeit der Auseinandersetzung mit der eigenen Dunkelheit ist die Hauptstütze der Horrorliteratur. Und doch verlagert Enriquez diese Innerlichkeit nach außen in eine Landschaft, die von politischen und wirtschaftlichen Kräften grauenhaft zerrüttet wurde. Kinder, die auf der Straße leben, ein Mädchen, das nach einer illegalen Abtreibung auf dem Bürgersteig stirbt, Gefangene, die in einer Haftanstalt gefoltert werden, machen keinen Unterschied zwischen dem hellen Tag und der tiefen Nacht. Das Grauen ist ständig um uns herum.
In Der schmutzige Junge schüttelt ein bettelndes Kind demonstrativ die Hand von U-Bahn-Fahrgästen und beschmutzt sie absichtlich. In ähnlicher Weise küsst in der Titelgeschichte ein grässlich verbrannter Bettler die Wangen von Pendlern, und begeistert sich an ihrem Unbehagen. Die Gewalt stellt sich zur Schau und dringt in den Alltag ein. Während die meisten vor ihr zittern, werden die Frauen von Enriquez von ihr angezogen, als ob sie sehen wollten, was sie damit anfangen können.
Enriquez verbrachte ihre Kindheit in Argentinien während der Jahre des berüchtigten Schmutzigen Krieges, der endete, als sie zehn Jahre alt war. Zehntausende wurden gefoltert, getötet oder „verschwanden“ unter Umständen, die später durch eine pauschale Amnestie aufgehoben wurden. Es liegt auf der Hand, dass diese Taten und die damit einhergehende wirtschaftliche Instabilität und Korruption den Boden für Enriquez‘ Erzählungen bereiten.
Sie entstammt auch einer Tradition argentinischer Fabeldichter, beginnend mit dem verehrten Jorge Luis Borges. Borges und seine Freunde, die Schriftsteller Adolfo Bioy Casares und Silvina Ocampo, waren so sehr vom Horror angetan, dass sie mehrere Ausgaben einer Anthologie makaberer Geschichten gemeinsam herausgaben. Die Mischung aus Horror, Phantastik, Verbrechen und Grausamkeit hat einen besonderen argentinischen Stammbaum. Dabei handelt es sich nicht um Fantasy, die von der Realität losgelöst ist, sondern um eine schärfere Wahrnehmung der Übel, die wir durchwaten.
Die Protagonisten in Enriquez‘ Erzählungen sind sich meist ihres Privilegs bewusst, wenn man es es ein Privileg nennen kann, gerade so einen Ort zum Leben zu haben, genügend Nahrung und ein Gesicht, das nicht grotesk entstellt ist. Die Nähe zu jenen, die diese grundlegenden Annehmlichkeiten nicht haben, schafft eine Zerbrechlichkeit der vermeintlich Bessergestellten, was nicht daran liegt, dass diese Protagonisten ein Abgleiten in die Armut befürchten, sondern, dass die Vorzüge ihres Lebens so deutlich auf finsterem Dreck sitzen. Das hier Gebotene ist natürlich etwas völlig anderes als der Mainstream-Horrortrip, bei dem sich oft jemand unbekümmert dem Grauen nähert – die Begräbnisstätte unter der Wohnsiedlung oder das fade Mädchen, das nichts von den Klauen des Schlitzers ahnt. In der Welt von Enriquez ist niemand ausreichend abgeschirmt. Den verhätschelten Vorstädter gibt es nicht. Ihre Erzähler müssen sich im Alltag an fast unerträglichen Anblicken vorbeischleichen. Dadurch gewinnt der Akt des Schauens enorm an Bedeutung. Die Folgen sind schrecklich, aber es gibt dennoch ein Gespür für Handlungsfähigkeit, um zumindest den Blick in die richtige Richtung zu lenken.
Eine der herausragendsten Geschichte in der Sammlung ist wohl Tief unten im schwarzen Wasser, die einen lokalen Mord der Polizei an zwei Jugendlichen detailliert beschreibt. Indem sie die Staatsanwältin Marina Pinat einsetzt, um den Fall zu untersuchen, streift Enriquez das allgegenwärtige Problem der Korruption, der hoffnungslosen Kriminalität und der verantwortungslosen Verschmutzung, und erzählt eine eindringliche, schwarze und erschütternde Geschichte.
Einige der Frauen von Enriquez tauchen aus solchen Erfahrungen wieder auf. Die meisten tun das nicht. Aber sie zeigen sowohl Mut als auch Empörung über den schrecklichen Dreck, in den sie getaucht sind. In „Spinnennetz“ unternimmt eine Frau, die in einer missbräuchlichen Ehe gefangen ist, eine Reise über die Grenze nach Paraguay. Dort verbinden sich sowohl die Wildheit des Militärs als auch der ungezähmte Dschungel zu einer Geisterfalle, in der die Geschichte ins Paranormale abdreht und der Frau einige unerwartete Optionen eröffnet. Auch diese Erzählung bekommt einen plötzlichen Ruck, da der fein geschliffene Realismus plötzlich Fäden eines tieferen und mysteriöseren Ursprungs aufscheinen lässt.
Die Titelgeschichte knüpft fast dort an, wo „Spinnennetz“ aufgehört hat: Frauen protestieren gegen häusliche Gewalt mit eigener Gewalt. Silvina, die Protagonistin von Was wir im Feuer verloren, ist noch nicht ganz in der Protestbewegung engagiert. Die Geschichte endet mit einem verweilenden Blick auf ihren beispielhaften Gewaltakt, der bald folgen muss. Diese Pause vor dem Unvermeidlichen ist der Raum der fabulierfröhlichen Fiktion, die die starren Regeln der Realität aufdreht, um eine Lücke der Möglichkeit zu schaffen.
Das unermessliche Vergnügen an Enriquez‘ Fiktion ist die Schlüssigkeit ihrer Zweideutigkeit. Wir wissen nicht, wer ein verschwundenes Mädchen entführt, ein Kind ermordet oder einen Ehemann verschwinden ließ. Sie mussten einfach gehen. Die Welt verlangt ihr Opfer. Wir wissen nicht, was das schreckliche Gespenst ist, grau und triefend, das mit seinen blutigen Zähnen auf dem Bett sitzt. Aber wir wissen, dass es durch eine unausweichliche Logik, durch ein intensives Bewusstsein für die Welt und all ihr Elend da ist.