13. Dezember 2024

Egon Brunswik: Die Villa

Er stand auf der heruntergekommenen Plattform seiner Veranda und rauchte, während er in die Nacht hinaus blickte. Sein Blick fing keine noch so geringe Bewegung ein, es war windstill. Und es war spät. Hinter ihm tanzten die Rauchwolken durch die geöffnete Glastür und bauten sich hinter ihm auf, bevor sie sich mit der Nacht verbanden und den Anschein erweckten, als wären sie Teile des Nebels, der hinter den Brombeerbüschen den Fluss bedeckte. Egon Brunswik rauchte gerade in den Nächten zu viel, wenn er gerade aufgeschreckt war, einem neuerlichen Albtraum entkommen und mit einem dünnen Schweißfilm überzogen, den er stets in der kühlen Nachtluft trocknen ließ.

Heute waren es die Mägen im Innern der Erde, die ihm den Schlaf geraubt hatten, grüngelbe Seen voller zersetzender Säure und darin eingetauchtes Fleisch, das sich zappelnd wehrte.

All das musste so bald wie möglich aufhören, auch wenn er mittlerweile einen Umgang mit den nächtlichen surrealen Landschaften seines Unterbewusstseins gefunden hatte. Er brachte ihnen Interesse entgegen. Er bot ihnen an, die Werkstatt ihrer ausufernden Kreativität zu sein, wenn sie ihn nur schlafen ließen, wohlwissend, dass es sich bei seinem Vorschlag um einen Interessenkonflikt handelte. Er durchpflügte die Dunkelheit mit seinen Augen und dachte daran, dass auch dort draußen das Ungewisse lauerte. Er konnte es zwar gerade nicht sehen, aber wenn er hinaus ginge, würde er in einen Mahlstromm stürzen und möglicherwese genau dort landen, wovon er geträumt hatte. Es konnte zu jeder Zeit alles geschehen und sich dann wieder zurückziehen. Träume hinterließen keine sichtbaren Spuren, aber die Welt um ihn herum tat dies um so mehr. Hier gab es so viele Spuren, die sich kreuzten, widersprachen, in ihrer Fülle unbegreiflich waren, dass es jenen, die diese Spuren nicht lesen konnten, so schien, als wären überhaupt keine Spuren vorhanden.

Doch Egon benötigte die Albträume auch. Sie waren seine Verbindung zur Vergangenheit; andere Spuren, die zwar flüchtiger waren als Fußabdrücke, Briefe, Scherben oder andere Hinterlassenschaften, dafür aber die Verbindungen zwischen den Dingen besser demonstrierten.

Und dennoch hatte sein Weg von einer Niederlage zur nächsten geführt. Er stand immer nur da und erfühlte die Atmosphäre, in der sich viele Jahrhunderte kulminierten, wo er doch den Ort untersuchen solte, um durch Beweise einen Ablauf rekonstruieren zu können.

Die Villa hinter ihm ächzte. Dass es sich bei ihr um ein Spukhaus handelte, erleichterte die Sache in vielerlei Hinsicht. Niemand würde ihn freiwillig hier aufsuchen. Die meisten Nachbarn wussten gar nicht, dass sie existierte. Einmal wurde er gefragt, woher er käme und er sagte: „Aus der alten Villa“.

„Ich dachte, die hätte man schon länsgt abgerissen“, war die Antwort, die stellvertretend für andere stand. Und vielleicht hatten sie recht. Es gab keine Villa für sie. Er war der einzige, der sich hier aufhalten konnte, hier in der Vergangenheit, einer ruhigen Zone in den Falten der Zeit. Und die Albträume sagten ihm, wohin er als nächstes gehen musste.

*

So viele Räume, die er sich noch nicht angesehen hatte, weil er keine Zeit dafür erübrigen konnte, in fremnde Vergangenheiten einzudringen, die er nicht selbst zu wählen imstande war. Manchmal war er neugierig auf das, was ihm dort begegnen könnte, meistens kannte er die dunklen und schlammbespritzten Seelenhaine jedoch schon längst und er wollte nicht entdeckt werden. Je länger die Geister nichts von seinem Aufenthalt in diesem gebäude wussten, desto weniger bestand die Gefahr, sich ein neues Versteck suchen zu müssen.

Mit seinen Fingern zeichnete er etwas in den wallenden Zigarettenrauch. Die Worte würden einige Tage dort stehen bleiben, dann langsam verblassen und schließlich im Mauerwerk verschwinden. Da sie nur als Gedächtnisstütze dienten, reichte die Zeit aus. natürlich wusste Egon, dass es fahrlässig war, auch nur Teile seiner Gedanken in den Ziegeln archiviert zu wissen, aber so weit er das durchschauen konnte, legten sich seine Worte anonym zu den anderen, die schon seit Jahrhunderten dort verweilten, und niemand fragte je nach ihrer Herkunft.

Er schrieb: „Es gibt noch einen zweiten Keller. Sieh‘ doch bitte mal nach, wohin der führt.“
Vor ihm tanzten die Schwaden, die nicht gebraucht wurden, einen langsamen Walzer, der sich bei genauerem Hinsehen als Ländler entpuppte, er könnte also noch viel mehr schreiben, aber an den Rest konnte er sich auch so erinnern. Den zweiten Keller vergaß er nur deshalb ein jedes Mal, weil er im ersten stets vor dem Weinregal einschlief. Er gestattete sich, die Etiketten auf den unzähligen Flaschen so lange zu studieren, bis ihm die Augen zufielen, denn natürlich wollte er wissen, was er da trank. Was ihn wirklich ermüdete war nicht etwa der Suff, sondern der Werdegang einer jeden Traube, die ihm davon erzählte, was sie aufregendes in den Weinbergen erlebt hatte. das war meist nicht viel, aber einmal hatte ihm gleich eine ganze Flasche von einem heimtückischen Mord an einem geheimnisvollen Mädchen erzählt. Den Wein selbst konnte man nicht mehr trinken, aber er hörte bis zum Morgengrauen zu. Und als er einschlief, blieben seine Albträume aus. Das war der Grund, warum er den Fall, der 25 Jahre zurück lag, nicht lösen konnte.

Am nächsten Tag nahm er die Flasche mit nach oben, rief mit seinem blauen Telefon im Präsidium an und sagte: „Ich habe hier eine Zeugin zu Gast, die vor 25 Jahren einen Mord an einer Iva Kaminski beobachtet hat.“

„Ich notiere mir gerade den Namen. Die Zeugin solltest du allerdings so schnell wie möglich mitbringen; mich wundert, dass du vorher anrufst.“

„Das hat einen Grund“, sagte Brunswik, zögerte aber nicht, Frank, der Forelle auch sogleich besagtes Manko zu schildern: „Das Problem ist, dass es sich bei dieser Zeugin um eine Weinflasche handelt.“

*

„Einst ging die junge Iva durch den Berg, man sah sie vorn und hinten mit Haube, mit Bluse, mit Mieder, mit Rock und Schürze, mit Halsband, ohne Schuhe und Krug. Wo sie nicht war, sah man sie freilich nie.“

Die Trauben sprachen von einer kalten Nacht mit Glitzerfrost auf Gräsern und Gesträuch. Der Mond warf jenes Silber, das er zu viel hatte, gönnerhaft nach unten. Möge sich jemand am Licht gütlich tun, möge sich jemand weniger verirren.

„Sie war dem Bacchus angetraut und hielt’s wohl für einen Spaß, den man macht, um das Dasein unterm Strich erträglicher zu halten. da ist sie eingestellt wie wir, die wir kugelrund aus den Reben drängeln, um nachher schön auszusehen, wenn der ganze Strauch im Abendgolde glänzt.“

Brunswik konnte in seinem Zustand keine Fragen stellen, er konnte weder einhaken, noch sich das Erzählte von vorn beginnen lassen. In der Traubenwelt fühlte er sich wie in Arkadien und schaute die fabelhafte Welt der Trunkenheit bizarrer Gestalten, die nichts anderes im Sinne hatten, als nach Abenteuern und Schäferstunden zu spechten. Er musste auf den richtigen Zeitpunkt warten und die Informationen so ordnen, dass er die gesuchte Stelle wieder fand, wenn er im Diesseits danach suchte. Die Unendlichkeit hinterließ Symbole an ihrer statt, so wie ein Ei den Vogel vermisst, und wenn es ein Vogel ist – das Ei.

Die Weinkönigin spazierte ziellos umher, als suche sie sich bereits ihr Grab, doch einer musste sie schließlich hineinstoßen, sonst wär‘ das ganze Spiel ungültig, nichts wert.

Hätte er seine Albträume zur Verfügung gehabt, hätte er das grauselige Schauspiel verfolgen müssen, aber dadurch auch gewusst, wie sich die Tragödie zugetragen. Doch in Arkadien scherten ihn bald nur noch die Knochen Ivas, die zu finden alles war, was er sich wünschen konnte. Fleischlose Stecken. Wer würde ihm glauben, sobald er den Mund auftäte, um zu verkünden, der große Gott Pan selbst sei etwas zu grob zur Weinkönigin gewesen? Ihre Knochen hatten hingegen eifersüchtige Mänaden verschleppt, schick wie Rehlein, aber mörderisch wie Harpyen.

Tatsächlich fand er lediglich ihr Jochbein, es lag abgenagt in einem verlassenen Fuchsbau. Brunswik grübelte noch ein Weilchen, während Frank, die Forelle ihm beim Grübeln zusah, indem er seine Rasur auf der linken Wange fokussierte. Von Pan kam Brunswik sehr schnell ab, denn er erinnerte sich an das Säuseln einer ganz besonderen Traube und stufte den Mord dadurch als eine Tat aus Eifersucht ein.

„Ich mochte die zerronnenen Vetteln sehr gerne, auch wenn sie die Jugend ihrer Zofen zogen, um zumindest einen Teil des aufziehenden Gewitters von ihren Abgründen fern zu halten. Ihre Haut bestand aus kostbarsten Stoffen, die unter der Hand gehandelt wurden, aber zusammengerollt ein eigenes Schloss ergaben. In den Mund nahmen sie nichts weiter als fremden Lebenshauch. Wer sie „Hexen“ nannte, bedurfte einer Tracht Prügel im Schnee vor dem Haus, denn die Erde, aus der sie bestanden, wurde von Vulkanen gereinigt. Der Stein ihrer Augen hielt ihre Sippe geschlossen. Sie stifteten die Vogelscheuchen den großen Parks der Stadt; und niemand soll sagen, dass je ein Vogel sich am Saatgut der Weinberge verging. Der es aber doch tat, sah die Fehler im teuflischen Licht.“

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