Der Weinkeller (Brunswik Text 2)

So viele Räume, die er sich noch nicht angesehen hatte, weil er keine Zeit dafür erübrigen konnte, in fremnde Vergangenheiten einzudringen, die er nicht selbst zu wählen imstande war. Manchmal war er neugierig auf das, was ihm dort begegnen könnte, meistens kannte er die dunklen und schlammbespritzten Seelenhaine jedoch schon längst und er wollte nicht entdeckt werden. Je länger die Geister nichts von seinem Aufenthalt in diesem gebäude wussten, desto weniger bestand die Gefahr, sich ein neues Versteck suchen zu müssen.

Mit seinen Fingern zeichnete er etwas in den wallenden Zigarettenrauch. Die Worte würden einige Tage dort stehen bleiben, dann langsam verblassen und schließlich im Mauerwerk verschwinden. Da sie nur als Gedächtnisstütze dienten, reichte die Zeit aus. natürlich wusste Egon, dass es fahrlässig war, auch nur Teile seiner Gedanken in den Ziegeln archiviert zu wissen, aber so weit er das durchschauen konnte, legten sich seine Worte anonym zu den anderen, die schon seit Jahrhunderten dort verweilten, und niemand fragte je nach ihrer Herkunft.

Er schrieb: „Es gibt noch einen zweiten Keller. Sieh‘ doch bitte mal nach, wohin der führt.“
Vor ihm tanzten die Schwaden, die nicht gebraucht wurden, einen langsamen Walzer, der sich bei genauerem Hinsehen als Ländler entpuppte, er könnte also noch viel mehr schreiben, aber an den Rest konnte er sich auch so erinnern. Den zweiten Keller vergaß er nur deshalb ein jedes Mal, weil er im ersten stets vor dem Weinregal einschlief. Er gestattete sich, die Etiketten auf den unzähligen Flaschen so lange zu studieren, bis ihm die Augen zufielen, denn natürlich wollte er wissen, was er da trank. Was ihn wirklich ermüdete war nicht etwa der Suff, sondern der Werdegang einer jeden Traube, die ihm davon erzählte, was sie aufregendes in den Weinbergen erlebt hatte. das war meist nicht viel, aber einmal hatte ihm gleich eine ganze Flasche von einem heimtückischen Mord an einem geheimnisvollen Mädchen erzählt. Den Wein selbst konnte man nicht mehr trinken, aber er hörte bis zum Morgengrauen zu. Und als er einschlief, blieben seine Albträume aus. Das war der Grund, warum er den Fall, der 25 Jahre zurück lag, nicht lösen konnte.

Am nächsten Tag nahm er die Flasche mit nach oben, rief mit seinem blauen Telefon im Präsidium an und sagte: „Ich habe hier eine Zeugin zu Gast, die vor 25 Jahren einen Mord an einer Iva Kaminski beobachtet hat.“
„Ich notiere mir gerade den Namen. Die Zeugin solltest du allerdings so schnell wie möglich mitbringen; mich wundert, dass du vorher anrufst.“
„Das hat einen Grund“, sagte Brunswik, zögerte aber nicht, Frank, der Forelle auch sogleich besagtes Manko zu schildern: „Das Problem ist, dass es sich bei dieser Zeugin um eine Weinflasche handelt.“

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