(Am 25. Januar 1855 erhängte sich der heute weltberühmte Dichter Gérard de Nerval in Paris an einem Straßentor der Rue de la Vieille-Lanterne, einer Sackgasse, die es heute nicht mehr gibt. Bei sich trug er das Manuskript der Aurelia.)
Die ausgelassene Stimmung verpuffte jäh mit dem ersten Glockenschlag. Nicht die Mitternachtsstunde, in der die Geister früherer Zeiten tobten, ist die ungemütlichste der ganzen Nacht, es ist die Spanne zwischen drei Uhr morgens und dem Sonnenaufgang, die für die meisten Todesfälle sorgt. Zu diesem Zeitpunkt steht die absolute Schwärze in ihrem Zenit und jeder positive Gedanke ist nur ein hilfloses Konstrukt innerhalb der unüberwindbaren kosmischen Kälte.
Gerade noch war ein Glas am anderen erklungen, die Kehlen feucht, die Münder zum Gelächter verzogen, der Geruch prickelnder Bowle erfüllte die Luft und bahnte sich seinen betörenden Weg durch die Ausdünstungen der Freude, die von den Gastgebern und den Gästen gleichermaßen in die Aura des Hauses gestanzt wurden.
Doch jetzt war es drei Uhr und Gérard verließ das Gebäude durch eine der im Schatten liegenden Hintertüren. Sobald er sie hinter sich geschlossen hatte, hörte er nichts mehr. Er atmete tief ein und wieder aus, korrigierte den Sitz des Krawattenknotens und setzte sich in Bewegung. Die Nacht war unangenehm kalt und lag wie ein flüssiges Gift vor ihm. Die Schwärze ist ohne Klang und sie ist allein; allein ist auch das Nichts, das kein Lebewesen denken kann. Er benötigte einen kurzen Augenblick, um seine Gefühle zu sortieren. Mit diesem Andrang hatte er nicht gerechnet, obwohl er so viele Einladungen verschickt hatte wie noch nie in seinem Leben. Auch wenn in der Regel die Besucher ausblieben und er auch diesmal damit gerechnet hatte, eilte er sich im Badezimmer, zog seinen Mantel an, in dessen rechte Außentasche er das Manuskript seiner Aurelia steckte – der kurze Blick in den Spiegel zeigte nichts Überraschendes. Er ging hinaus, um das Defilieren zu seinen Ehren aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ja, es war Trauer, sonst wäre er überhaupt nicht erst hier. Ein bitterer Walzer ertönte und es war unklar, in welchem Takt er enden würde. Sämtliche Tanzbeine standen still, aber einige seiner Gäste begannen sich lässig zu drehen, nutzten dann aber das schnelle Rotieren ihrer eigenen Achse, um sich in die Erde zu graben. Aber das bildete er sich nur ein. Seine Beobachtungen waren darauf konditioniert, nach verlorenen Spuren zu suchen, Spuren, die einst so eindrücklich im Dreck der Welt zu sehen waren und jetzt verweht sind, ewige Körner, so klein und auf immer verschwunden. Und auch seine Erinnerung würde verblasse, sich neu anordnen zu einem Zauber, der nie war. Die Stille wird sich ebenso fremd anhören wie jeder Lärm. Wir sind nicht dort zu finden, wo wir einst glaubten, gewesen zu sein. Aber wenn das so ist, dann sind wir auch nicht in einer Gegenwart vorhanden, dann sind wir nicht vorhanden, dann sind wir nicht.
Vor kurzem erst war er aus der privaten Irrenanstalt des Dr. Esprit Blanche entlassen worden, aber die Bewunderer hatten ihn nicht verlassen, während er in Traumreichen reiste und bizarre Kunde aus einer anderen Welt zurückbrachte, die man für sein dichterisches Werk hielt. Aber sie verstanden nicht, dass er nicht länger unter ihnen weilen konnte, dass er dorthin zurückkehren mußte, wo er die Fragen, die ihn ein Leben lang quälten, in eindrucksvollen Bildern beantwortet bekam. Jenny hatte ihn verschmäht, weil sie das Unheil an ihm riechen konnte, wie sie sagte. Aber welches Unheil, und vor allem: wie roch es? Er fand sie wieder in einem Paris der überirdischen Sinne, wo kein Gestank die Erde trübte und die Körper nur aus einem Nebel bestanden, der sich manifestieren konnte, wo immer er wollte. Die vielen Welten, die es geben mochte, waren ein jeweils in sich geschlossener Sinnenapparat.
Stets waren seine Träume finsterer Natur. Sie begannen in völliger Schwärze, und nach einer Aufblende vermittelten sie den Eindruck einer beschädigten Kamera. Aber durfte er das, was er sah, wirklich Träume nennen? Zunächst hatte er nur die Vermutung, dass diese Bilder tief aus der Erde kamen, über eine Verbindung, eine kommunizierende Röhre erreichten sie sein Rückenmark, und dieses wiederum sorgte für Impressionen, die zwar scheinbar nichts mit ihm zu tun hatten, dabei aber doch für ihn bestimmt waren. Eine Erklärung für diese Absonderlichkeit vermochte er lange nicht zu finden, obwohl er alle Möglichkeiten auszuschöpfen gedachte, die ihn zu einem Verständnis dieses Phänomens führte, denn er wurde von Krämpfen geplagt, die sich tagsüber in seinen Bauch genistet hatten. Die Schmerzen begannen zaghaft und ließen nach einer Weile wieder nach, aber sie kehrten in immer stärkeren Intervallen zurück, so, als wolle sein Innerstes seinen Körper abstreifen, der sich aber an Sehnen und Knochen verheddert hatte und dadurch nicht abzuschälen war.
Unter den Fundamenten rieb sich die Erde auf, verdichtete sich zu fremdartigem Gestein, der in Jahren ohne Sommer an die Oberfläche drängte. Die Erderschütterungen hatten die Gebäude gebrandmarkt, das Erkennen in den Erkern, die auf einen nutzlosen Garten spuckten. Überall ging eine seltsam gefärbte Saat auf, die sich allerdings wieder zurückziehen mußte, als eine neue Straße über die Hügel gezogen wurde. Die Maschinen waren dem Menschen heute so nahe wie früher die Gerüche, die aus den Ställen drangen und in denen neuerdings Küchen betrieben wurden.
In manchen Träumen, die nach Erde rochen, stieg er innerhalb einer allumfassenden Dunkelheit stets in einen knochenbleichen Kahn, der an einem Steg vertäut nur auf ihn wartete. Er bewegte sich geräuschlos auf und nieder, fast zärtlich schlug sein Heck gegen die Pfosten. Der Himmel war von der gleichen Farbe wie das leicht über das Ufer schwappende Wasser, das von einer mit Disteln bewachsenen Dammschulter in seinem Bett gehalten wurde. Nichts spiegelte sich zwischen den leichten Wellen, denn seine Augen waren die einzigen Lichtquellen, auch wenn sie weder glühten, noch leuchteten. Er vermute, daß die Dunkelheit – so tief und dick – alles, was er dennoch sehen konnte, umgab, wie es sonst nur in den weit von der Oberfläche entfernten Niederungen des Ozeans vorkam. Wer wird bestreiten wollen, daß der Traum ein Ozean ist, vielleicht sogar das Urmeer selbst, das einst die ganze Erde dominierte, bis sie von Lebewesen und Ländern träumte, um eines Tages die ganze Aufmerksamkeit aller Universen auf sich zu ziehen.
Er setzte sich in den Kahn und erst dann tauchte hinter ihm eine Präsenz, die er nie zu sehen bekam, ihren Stab in das schwarze Wasser. Es kam ihm ganz natürlich vor, ins Nichts getragen zu werden, denn es war keineswegs ein See, auf dem das Boot über die Oberfläche glitt. Bald umgaben ihn Nebelschwaden und formierten sich zu befremdlichen Szenen, durch die ihn der Ferge stakte. Gérard erkannte Wesen, wie sie in der Mythologie überliefert und beschrieben worden waren – aber mit unheimlichen Abweichungen. So erblickte er – um nur ein Beispiel zu nennen – einen Pferdemenschen seinen stolzen muskulösen Oberkörper zur Schau stellen, als er einen gewaltigen Bogen spannte, um ein unbekanntes Ziel anzupeilen; an seinen Oberschenkeln aber drängten sich Geschwüre aus dem Fell, die mit fratzenhaften Gesichtern versehen waren, bei denen es ich genausogut um Schrumpfköpfe gehandelt haben könnte, die sich der Krieger um die Läufe gewickelt hatte, aber es schien ihm aus einem nicht näher zu bezeichnenden Grunde töricht. Sobald er seinen Blick auf eine andere dieser zahlreichen Nebelwolken richtete, nahm er aus den Augenwinkeln das Erstarren der zuvor beobachteten Ereignisse wahr. Der Pfeil des Kentauren löste sich nicht von der Sehne.
Die sich überlagernden Bilder eines Höllenbreughel, die sich über ihm auftürmten und durch seinen Traumleib wehten waren über alle Maßen unbeschreiblich. Kein visueller Eindruck davon blieb in seinem Gedächtnis haften, sondern nur eine groteske Ahnung des Gleichzeitigen, ein wucherndes Pandämonium, das keinen Raum benötigt, in den hinein es seine Schreckensbilder wirft. Die Erde träumte von ihm und er selbst erweitere wiederum ihre Träume, indem er Sterne erfand, die diesem Planeten ein Dasein unter vielen ermöglichte. Durch seine Ahnungslosigkeit füllte er die Leere mit Materie, die sich auf seinen stummen Befehl hin in bekannte und unbekannte Objekte verwandelte.
Er sah den Schatten besiegter Heere, wie er um einen Kenotaphen hing, die Gebeine der Gefallenen ruhten nicht mehr hier. Sie alle hatten sich erhoben; dreimal beim Namen genannt fühlten sie sich eingeladen, durch die Welt zu streifen, sich in Mooren und im Dickicht der Wälder zu verstecken, auf der Suche nach Leben, das sie nirgendwo fanden.
Seine Blicke fielen auf einen Ziegenbock, der von diesem untoten Heer der vielen Völker als Lichtgestalt gepriesen wurde. Aber er war auch das Krokodil in so vielen Seen, hatte dort die Flüsse aufgepeitscht, das Wasser mit seinen Füßen verschmutzt, die Fluten aufgewühlt. Sein geschändetes Fleisch wurde auf den Bergen ausgelegt und die Täler mit seinem Aas gefüllt, das Land ertrank unter der Flut seines Blutes und Finsternis legte sich darüber. Das Schwert von Babel war über den Fürsten von Rosch, Meschech und Tubal gekommen. Zyklopenhafte Wände und Mauerzüge im modellierenden Licht unsichtbarer Scheinwerfer überschwemmten das Bild der öden Wüste, deren Sand ockerfarben vom Blut in der plötzlichen Dunkelheit erkaltete. Eine seltsam bannende Kraft lag in diesen Mauerresten. Erdmasse aus Mergel. Nymphen, Faune und Mänaden, ein Satyr auf einem Esel reitend, pralle Hüftstücke unbekleideter Damen, durch Spiegel vervielfältigt. Selige Ekstase folgte dem Tod, Perlhühner und Wägelchen mit Weintrauben bespannt. Enten, Pfaue, Feigenbäume. Säulen, Kapitelle, Gesimse, Grabdenkmäler, Reliefs und Skulpturen verschwammen in traumhaften Symbolen. Und immer wieder sah er Pferdemenschen, wie sie durch ein Nebelband hetzten, Schaum schimmerte auf ihren Gesichtern, die Augen in die weite Ferne gerichtet und starr. Vor ihnen lag nichts als die große, gähnende Schlucht Ginnungagap. Hier in dieser gewaltigen Leere, mitten zwischen Licht und Dunkel, sollte alles Leben seinen Anfang nehmen in der Begegnung zwischen Eis und Feuer. Langsam begann der Schnee zu schmelzen; geformt aus der Kälte, aber von der Hitze zum Leben erweckt, entstand ein seltsames Wesen, der Größte aller jemals existierenden Riesen mit dem Namen Ymir.
Um die Krämpfe während seiner Wachphasen in den Griff zu bekommen, bewegte sich Gérard viel. Sportlich war er nie veranlagt, aber er fand heraus, daß ihm ausgiebige Spaziergänge etwas Linderung verschafften. Täglich erweiterte er die Runde um sein Haus, bis er eines Tages auf eine Hütte stieß, vor der ein Topf auf einer offenen Feuerstelle kochte. Ausgebleichte Felle hingen an Stangen und waren an die Hütte genagelt, manche von ihnen waren voller Schwamm, dabei handelte es sich um das Gekröse der Schlafenden, die sich am Abend ihrer Innereien entledigten und sich dann nicht mehr zusammenbekamen. Leer lagen die Hüllen ihrer Körper um das Feuer herum, im Topf entstand derweil die Welt, die sie, wenn sie von der Sonne geblendet erwachten, zu beleben gedachten. Es stank wie auf einem Schlachtfeld. Er ging näher heran, nur um zu sehen, dass er sich geirrt hatte. Nicht alle lagen tot vor der Hütte, manche saßen um ein anderes Feuer, das in einer Tonne loderte und das er zunächst nicht wahrgenommen hatte, herum und starrten ihn jetzt aus rußschwarzen Augen an. Sie trugen Felle um ihre Schulter und sahen ganz und gar aus wie Troglodyten. Und sie forderten ihn nicht etwa auf, seinen Mantel abzulegen, um sich neben ihnen nieder zu lassen. Ihre Gesten konnte er nicht deuten, bis einer von ihnen sich erhob und ihm einen scharf geschliffenen Knochen reichte, aber gleich erkannte, dass er noch immer nicht begriffen hatte. Das hier, sagte er sich, war kaum ein Wahnkonstrukt seiner überreizten Sinne, unterlag nicht seiner Diagnose, die auf Dämonomanie lautete.
„Um ein Gott zu werden, musst du dich entleiben“, sprach der Höhlenmensch ihn an. Etwas später, als er wieder durch die Pariser Nacht eilte, war er der Meinung, dass er genau das getan hatte. Er hatte sein Innenleben mit einem Knochen herausgeschnitten, das Gedärm kochend zu Boden sinken sehen, bevor er sich zu den anderen legte, die vor der Hütte um den Kessel mit dem alchemistischen Dämpfen gruppiert waren. Jemand nahm sein Innerstes vom Boden auf und nagelte es auf eines der Felle, das die Hütte zierte. Dann wusste er nur noch, dass er plötzlich im Regen stand. Doch er war sich sicher, dass er noch am Leben weilte, dass in ihm alles am rechten Fleck pulsierte und pumpte, was dazu gedacht war, ihn an das irdische Dasein zu fesseln. Er spürte seinen Magen, der sich wie eh und je unter Krämpfen bemerkbar machte.
Als er das Haus betrachtete, in dem seine Gäste noch immer ausgelassen feierten, war ihm klar, dass er es nicht mehr betreten konnte. Was ihm noch blieb war der Ruhm seiner Aurelia, die er in der Tasche hatte. Kaum würde man von seinem Manuskript ebensolche Notiz nehmen wie eins von seiner Übersetzung, die er dem Faust angedeihen ließ. Unweit der Place du Châtelet, an der Grenze zwischen erstem und viertem Arrondissement, begab er sich in die dunkle Rue de la Vieille-Lanterne. Der Teufel nahte sich nicht, als er in einer Sackgasse stand, kein Engelschor verbürgte sich für seine Entscheidung, dort zu hängen wie ein Mahnmal.
Der Clan der Gestaltlosen streunt um die verlassene Hütte herum. Der Topf brodelt noch, aber nichts von seinem Inhalt geht verloren. Die Dämpfe kehren zurück in den Sud. Das tun sie jeden Tag aufs Neue.