Hexenwerch

Edith

Ich kann nicht sagen, wie viele Hände ins große Spargelfeld meiner
zweiten Mutter gesickert sind, und ob sie dort noch liegen.
Ich erinnere nur das:

Stets zur Mittagszeit refelten sich feinflechtig, an vier schwebenden
Stühlen aufgespannt, zwei rote Beine auf.
Ich blieb, um zu sehen, wie sie sich verflüchtigten.
Konvex blieb um mich herum der Wald als große Lungenblase
berstend gegen die Ortschaft stehen.
Es dauerte bis in den Abend hinein bis die Spannung seiner
Oberfläche einen Riss bekam, und er mir so sein dunkles Nadelmeer vor Augen spülte.

Es war wie eine gewaltige Traube, die barst.
Ich fand mich unter den Rücken der Tannen wieder.
Von Weitem rief Edith nach mir.
Ich lief zu ihr.
Sie nahm mich an ihre rechte Hand, einen schwarzen
Eimer, gefüllt mit Spargeln, in der linken.
Mich mit ihren durch die dickwandigen Gläser, die sie trug, stark
vergrößerten Augen anschauend, nahm sie mich mit sich.

Hexenwerch

Die Mädchen wehen die Bäume

A: Sie sagten, die Mädchen wehen die Bäume. Schließen Sie die Augen und versuchen Sie sich zu erinnern. Um was ging es? Warum wehen die Bäume? Wir müssen wissen, warum die Bäume wehen.

P: Ich weiß nicht so genau. Erinnere mich nur an diese eine Patientin, über Fünfzig war sie. Sie hat mir davon erzählt. Es ging um irgendwelche Mädchen, die über ihr wohnten bzw. vorbeikamen, um dort eine Radiostation zu betreiben, mit der sie das Wetter beeinflussen konnten und durch die sie sich mit ihr unterhielten, sie aber auch beschimpften. Die Mädchen wehen die Bäume, hat sie immer wieder gesagt. Die lackieren sich die Nägel auf Russisch. Das wären nämlich Russinnen, die sie „fertig machen“ wollen. Sie wäre ihr Hund oder so. Hat auch recht viele Redewendungen benutzt, nur immer sehr eigensinnig abgewandelt. Das Interessante war, so abstrus das alles klang, nach einer Weile kamen immer mehr Informationen hinzu, die die Lebensgeschichte dieser Frau dahinter durchschimmern ließen. Sie hatte Germanistik studiert und war mal Lehrerin in einer reinen Mädchenklasse. Das hat auch viel über ihr Selbstbild als Frau und aus dieser Zeit erzählt. Sie sagte immer wieder: Die Mädchen. Die Mädchen wehen die Bäume. Ich weiß nicht, wieso. Was wollen Sie von mir?

Hexenwerch

Schemenform (Proto)

Wieder lief ich des Weges, den ich einst nahm.
So oft warf ich meine Hände dabei ins Feuer.
Und jedes Mal in jeder Mitte dieses Waldes ließen
sie mein Haus, auf das sie mit ihren nachtlangen Fingern zeigten,
erneut in diesem großen Kessel versinken.
So lange habe ich dich hier nicht mehr gesehen.
Die Bäume brachen ihre Borken durchgehend stumm auf.
Fleischweiß ist es hier geworden. Einzig hinter der Tränenmauer
gingen Wölfe auf Zehenspitzen auf und ab.

Hexenwerch

Vom Erinnern (Inspiriert von: El lado oscuro del corazón. Von Eliseo Subiela.)

K: Du bist die Frau, mit der Oliverio fliegen kann, stimmt’s? 

F: Ja. Woher weißt du das? 

K: Er hat vorhin gelächelt als er dich gesehen hat. Da war ich bei ihm. Hat mitten im Satz aufgehört zu sprechen. Und dann schaute er ganz traurig. Hat auch nicht wieder angefangen. Ist einfach weitergelaufen. 

F: Und da kommst du zu mir? 

K: Ja! Weil ich von dir wissen will, wieso er dort ist und du hier? Versteckt ihr euch voreinander?

F: Nein, das tun wir nicht. Aber das ist auch nicht so einfach zu erklären. Oliverio und ich, wir beide brauchen Asyl, sind sehr schutzbedürftig, und auch nur, weil wir das bemerkt haben. 

K: Versteckt ihr euch vor ihr, dem Tod? 

F: Ja, das kann man wohl so sagen. Du musst wissen, wir haben beide vom langen Vergessen getrunken und uns erinnert. Zwei, das macht eine ganze Welt aus, weißt du. Auch du verstehst das einmal. Irgendwann. Ganz sicher. 

K: Ich weiß, er hat gesagt, ihr müsst euch wie Hunde auf der Straße herumtreiben. Das ist traurig. Habt nichts als den Himmel über euch. Er sagt, das ist grauenhaft. Flucht auch sehr viel deswegen. Ich mag das nicht. Er erzählt auch immer irgendwas von einer Unverborgenheit. 

F: Ja, das ist leider so! Wir sind unverborgen. Sind nicht geborgen. Immer dann, wenn wir zusammen sind. Alle sehen uns das an. Obwohl wir etwas sehen. A-létheia. Etwas, das den Spross will. Etwas, das die Blüten beleckt, ihre Farben, sie mit roten Fingerkuppen der Sonne öffnet. Es ist ein Blick. Einer, den man hat, wenn man im Herzen glücklich ist. 

K: Deswegen schaut Oliverio immer so komisch! Das will er also sehen? 

F: Das hat er längst. 

K: Malst du mir meine Fingerkuppen rot? 

F: Du willst wieder zu ihm, nicht wahr? 

K: Ja! Ich will meine Hände wie ein Dach über ihn halten. 

F: Ja dann …

(K: Kind; F: Frau, mit der Oliverio fliegen kann)

Hexenwerch

Vom Fliegen (Inspiriert von: El lado oscuro del corazón. Von Eliseo Subiela. Und dir.)

K: Oliverio hat gesagt, sie, der Tod, kann ihn noch nicht haben. Verstehst du das?  

F: Ja, ich kann Oliverio verstehen.  

K: Wieso?  

F: Er sucht die Frau, mit der er fliegen kann. Deswegen kann sie ihn noch nicht haben.  

K: Fliegen ist toll!  

F: Ja, sehr sogar! Alle wollen fliegen. Brauchen den Anderen dazu. Nur Kinder allein können das noch und nur für sich. So wie du. Sonst nur Vögel, Insekten und Fabelwesen. Erwachsene brauchen sich gegenseitig.  

K: Aber was ist mit der Frau, mit der er fliegen kann? Wo ist sie?  

F: Sie sitzt im Dunkeln, nackt auf einem Stuhl, die Beine gespreizt. Sie weiß, wie wunderschön das Fliegen ist. Hat ihre Hand auf ihr Geschlecht gelegt. Damit es nicht wegfliegt, weißt du. Sie muss es schützen. Für sich und Oliverio. Lauscht den Geräuschen der Welt. Spürt nur die Wärme. Die Brustkorbhebung. Die Brustkorbsenkung. Sie denkt an Oliverio. Weint. Auch weil sie weiß, wenn sie ihre Hand auf die Brust legt, dass sich durch die abgegebene Wärme ihre Milchgänge weiten. Gänge, durch die vielleicht nie etwas fließt. Strahlenförmige Galaktogänge sind das. Denn Milch, erst wenn sie austritt, erhält durch das Sonnenlicht ihre stillende Farbe, in der alle Farben sind.  

K: Warum aber ist sie wegen ihm traurig, wenn sie doch mit ihm fliegen kann?  

F: Na, weil das Fliegen eben schön ist. Weißt du doch! Und manchmal weinen wir Erwachsenen auch dann. Weinen, wenn uns etwas stärkt, wenn es uns gut tut. Aber du hast Recht! Denn ja, sie ist deswegen auch traurig. Weil sie noch mehr als mit ihm zu fliegen auch den Boden mit ihrem Geschlecht berühren will. Auch dafür braucht sie ihn. Allein kann sie das nicht. Und sie will es auch nur, weil sie beide fliegen können. Weil er ihr diese Kraft gibt. Ich kann Oliverio verstehen. Verstehst du ihn jetzt auch?  

K: Ja! Er ist ein bisschen wie ich.

(K: Kind; F: Frau, mit der Oliverio fliegen kann)