Hexenwerch

Chimäre Ich

Ich habe nur, was ich kann. Bringe mit, wie ich atme. Sonst nichts. Habe nicht einmal mich. Niemand hat irgendetwas. Ich bin absichtslos. Ich habe Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste und Freuden. Ich habe ein Bild von mir. Das Bild bin nicht ich. Das ist jemand, den ich annehme für mich, und das tue ich nur, weil es jemand anderen gibt, der nicht ich ist, der mir Spiegel ist, dem ich Spiegel bin, der nicht nur sich mitbringt, sondern auch diesen Menschen, den er sieht, wenn er auf mich reagiert. So bin ich etwas, was ich nicht bin. Bin eine Chimäre. Für mich und den Anderen. Nichts sonst. Habe nur das. Weil ich sie sehe durch dich, siehst du deine durch mich. Doch ist eine Chimäre immer eine Chimäre. Der Wunsch eines Werdens, einer durch Austausch erzeugten Annahme von mir. Das ist es, was ich kann, und ich kann es auch nur durch dich, durch deine, die ich sehe, deiner nicht gleich. So habe ich nichts. Habe eine Annahme, habe ein Bild von mir. Meine Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste und Freuden inkarnieren es.

Habe nichts. Nicht einmal mich. Nur das: Den Wunsch eines Werdens. Das könnte eine Absicht sein, die ich doch nicht haben kann, denn: Die Illusion ist, so sagte Aragon es schon, das Fleisch auf den Dingen. Und so werde ich niemals ganz werden, was ich für mich annehme, sein will. Ich würde zu einer Illusion, in der sich meine Seele löst, wieder einswird mit dem Universum, weil alle meine Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste und Freuden dann nicht mehr sind. Ich wäre die Ausgeburt meiner Phantasie. Wäre eine Erdichtung. Wäre eins mit dem Universum, wäre Alles und wäre gleichzeitig nicht. Ich wäre wohl heil. 

Hexenwerch

Subsistenz ( I put a spell on you)

Ich zog meinen Mantel aus, steckte die Hörgeräte in eine der Taschen. Hatte den Tag, jedes Wort nun bewältigt, obwohl ich nichts bewältigen wollte. Nein, ich wollte nichts bewältigen. Auch gingen mich diese Worte nichts an. Ich versuchte wieder etwas fern der Regulierung wahrzunehmen. Meine Ohren haben solchen Dingen immer den Vorzug gegeben. Das Unhörbare wahrgenommen. Das Nichtgesagte. Die stumme Liebkosung, die sich manchmal durch ein labendes Flüstern verrät, zu dem sie wird und so doch zur Welt kommen will. Ich sehnte mich alltäglich nach dem großen Hörverlust, der mich endlich ausgliederte. Ich lief durch den Flur unserer Gespräche. Das dauerte. Dauerte, je mehr ich mich in ihnen verlor. Draußen wuchs Schnelleres. Hier drinnen wuchs ich. Der Teppich dämpfte meine Schritte. Die Muster durchwandelten sich gegenseitig, durchwandelten ihren roten Wirt, formierten sich jedoch gleich wieder, die Energien, die Wärmen, die meine Fußabdrücke hinterließen, zu nutzen, sie zu speichern. Sie wollten nicht den Körper, der in sie schritt. Er gehörte nicht zu ihnen. Hier, wo wir waren, waren wir. Hier wurde der Alltag nicht bewältigt, wurde nichts hart berührt. Wurde nichts unempfänglich gemacht. Hier streiften wir die Dinge mit unserer Anwesenheit. Ich kniete mich ins Rot hinein. Die Wärme gab die Haut wieder frei. Muster leckten sie wach.

Hexenwerch

Stille

A: Fangen Sie einfach an. 
D: Ich habe Angst.
A: Vor was?
D: Vor nichts.
A: Was ist nichts?
D: Die Ungebärde. Der musiklose Automat. Laute Frauen zerstückeln Orpheus.
A: Haben Sie das denn gesehen?
D: Ja! Sie nicht?
A: Wieso sind die laut?
D: Sie kennen die Stille nicht. Stille ist Empfang.
Ich empfange dich in meiner Stille. Ich zerstückele dich nicht.
Nicht in meinem Haus. In meinem Hauthaus hält die Sprache an.
Bewegen sich Zweige. Bewege ich mich.
Manchmal instabil. Weil Lärm droht.
A: Was für Lärm? Und wieso droht er Ihnen?
D: Applaus!
Weil die klatschen und applaudieren wollen.
Weil sie analysieren wollen, was von der Musik übrig geblieben ist.
Für ihr Gehör.
Deswegen sind die so laut, wenn sie ihn zerstückeln.
Sie hören die Musik der Stille nicht mehr.
Nicht den Wald. Nicht den Berg. Das Meer. Die Wüste.
Sie müssen selbst laut sein.
Sonst sind sie nirgends.

Journal

Alien – Xenomorphe

Giger Alien von Pablo Municio
HR Giger-Ausstellung in Wien; (c) Pablo Municio

Starbeast sollte es ursprünglich heißen, wie auch der erste Film selbst. 6 Hauptfilme kann es seit 1979 bereits verbuchen. Nicht alle stammen von Ridley Scott, es drehte auch David Fincher (Alien 3), sowie James Cameron (Aliens – Die Rückkehr.) Auch 2 Crossoverfilme (Alien vs. Predator I / II) gehören dazu. Science-Fiction ist es. Und doch entspringt es offenbar einem uns sehr nahen Horror, der nicht erst das Jahr 2122 braucht. Eine Mutter und zwei Väter hat es. Ein Elterntrio, das sich namentlich sehen lassen kann: HR Giger, Ridley Scott und Sigourney Weaver. Einen Oscar hat es Giger eingebracht, in der Kategorie Visuelle Effekte. Selbst ist es sehr daran interessiert, viele viele Abkömmlinge zu haben. Derlei viele, dass wir sehr schnell verstehen, dass es dieser Spezies allein um die Zeugung neuer und eigenständiger Nachkommen geht, um die Sicherung seiner Art, um die Sicherung eines Bestandes, der die ultimative Vermehrung der Anzahl der eigenen Exemplare ins Auge gefasst hat.

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Bouquinist

Am liebsten mag ich Monster / Emil Ferris

Die Erstveröffentlichung in den USA – der Comic schlug ein wie eine Bombe – fand am 14. Februar 2017 statt. Zu uns kam er am 25. Juni 2018 und ist bei Panini Comics erhältlich.

Emil Ferris

Es ist Emil Ferris‘ Erstlingswerk. Ca. zehn Jahre hat sie es mit sich herumgetragen und daran gearbeitet, sogar als sie zeitweise obdachlos war. Über 400 Seiten zählt der mehrfach prämierte (unter anderem Gewinner des Eisner Awards: in drei Kategorien) erste Teil dieses Meisterwerkes. Eines, an dem eine in die USA eingeschleppte infizierte Stechmücke nicht unwesentlich ihren Anteil hatte. Mit dem West-Nil-Virus infiziert, der Ferris von der Hüfte abwärts lähmte, auch der rechte Arm (wie auch ihre Hand) war betroffen, eroberte sie sich zeichnend ihren Körper weitestgehend zurück und machte sogar einen Abschluss im „Kreativen Schreiben“ an der School of the Art Institute of Chicago und erhielt zudem 2010 das Toby Devan Lewis Fellowship in den Bildenden Künsten. Emil Ferris, die wie ihre zehnjährige Protagonistin Karen Reyes selbst in den turbulenten 1960er Jahren aufgewachsen ist und dort heute noch lebt, war in einem früheren Leben Illustratorin und Spielzeugdesignerin für diverse unterschiedliche Kunden. Nach eigener Aussage liebt sie alles, was mit Monstern oder Horror zu tun hat.

Große Arbeit haben auch geleistet: Alessio Ravazzani, der für das Lettering zuständig war, wie auch Torsten Hempelt, der sich um die deutsche Übersetzung gekümmert hat.

Ein wahrlich monströses Kunstwerk!

Dieses üppige Kunstwerk in Form einer großen Kladde in Softcoverversion, an dessen Skizzen, kindlichem Gekritzel, Portraits, Szenenbildern, die teils wie Radierungen wirken, Panels und Gemälden von real existierenden Gemälden ich mich kaum sattsehen konnte, ist zugleich ein mysteriös monströser Psychothriller, ein Familiendrama, ein Geschichtsepos, eine Coming-of-Age-Geschichte, wie auch ein düsterer Krimi. Es ist eine Hommage an die vergangene Ära der Horror-B-Movies, sowie der Pulpmagazine. Liniertes, gelochtes Ringbuch-Schreibpapier, Kugelschreiber, Blei- und Farbstifte waren dabei alles, was Emil Ferris brauchte, um diese düstere aber enorm bezaubernde Geschichte in die Welt zu heben. Alles Utensilien, die den tagebuchartigen Stil noch verstärken. Dabei wird der Comic durch die von Emil Ferris nachgezeichneten Titelbilder der Horrormagazine der 60er Jahre in so etwas wie Kapitel unterteilt. Es ist sprichwörtlich neben dem Gang durch die, wie bereits erwähnt, Zeit- und Kulturgeschichte einer Ära, auch ein Gang durchs Museum. Auch lernen wir die Lebensgewohnheiten und -bedingungen der damaligen ausländischen und armen Arbeiterschicht kennen. Neben den abergläubischen Bräuchen von Karens Mutter kommt auch die griechische Mythologie nicht zu kurz. Die vielen Handlungsstränge, die uns nach und nach eröffnet werden, entwickeln einen enormen Sog. Sprunghaft, uns immer wieder auf Zeitreise schickend, entwickelt Ferris dabei die Geschichte(n) vor unseren Augen, lässt uns aber zugleich verweilen. Dies geschieht zum einen durch die Kraft ihrer Bilder und Details, wie z.B. die kleinen versehentlichen Schmierereien und erkennbaren Eselsohren, oder durch kleine gemalte Notizen, die wir finden können, zum anderen, durch ihre Erzählart, in Szenischem in die Tiefe (in die Seele der kleinen Protagonistin) zu gehen, wie z.B. während der Besuche im Museum, wenn Karen in die Gemälde klettert, oder ein andermal, wenn sie sich im Auge ihrer Mutter auf einer kleinen Insel wiederfindet.

Karen Reyes

Karen Reyes, deren Vater Mexikaner ist und deren Mutter zu einem Teil von irischen Siedlern aus den Appalachen abstammt und zum anderen von amerikanischen Indianern, ist eine Außenseiterin, die nunmehr gemeinsam mit ihrer kranken Mutter und ihrem Bruder Deeze – ein Frauenschwarm und Künstler – in einer kleinen Wohnung in einem turbulenten Chicago lebt, das bald von der Ermordung Martin Luther Kings in politische Unruhen gestürzt wird. Karen hat es in der Welt nicht leicht, von ihren Mitschülern gehänselt, behauptet sie sich als Werwölfin, Zeichnerin und Detektivin. Dabei untersucht sie nicht nur den Mord (der Hauptstrang) an ihrer verrückten Nachbarin und Freundin Anka Silverberg, einer Holocaustüberlebenden. Sie gräbt auch immer tiefer in ihrer eigenen Lebensgeschichte, wie auch in der ihrer weiteren Nachbarn, die alle, wie auch ihre eigene Familie, irgendwie in den Mordfall verstrickt zu sein scheinen. Währenddessen entdeckt sie ihr Geschlecht, ihre Liebe für andere Mädchen. Dabei lernt sie unter anderem Sandy und Franklin kennen, zwei Kinder, die nicht weniger kurios und seltsam sind wie sie es ist. Sie nimmt die beiden unter anderem mit ins Museum, wo sie auf ihre „zuverlässigen“ Freunde (die Figuren in den Bildern) trifft, die sie ansonsten oft mit ihrem Bruder besucht, der ihr die Bildende Kunst schon als kleines Kind näher gebracht hat.

Emil Ferris, die besonders von Künstlern wie Goya, aber auch von anderen, den Pulpmagazinen, Horror-Movies beeinflusst wurde, bekam von ihrer Großmutter die illustrierten Dickens-Romane von Colliers, voll mit Stahlstichen. Als Kind ihrer Zeit und in Anbetracht ihrer eigenen familiären Biografie und Sicht auf die Welt der Menschen hat sie sich mit der Werwölfin Karen Reyes auch ein wenig selbst verewigt.

Expressionistisch und surrealistisch

Einen ungeheuren Sog entwickelt dieses üppige, farbstrotzende Kunstwerk, das ich kaum aus den Händen legen konnte, und das ich, obwohl ich es bereits gelesen habe, immer wieder zur Hand nehme, um darin zu blättern und erneut zu lesen. So stark sind die Bilder, so fein und bedacht ist die Sprache. Nichs ist zuviel, alles ist wesentlich. Man kann sich bis ins kleinste Detail, sei es nun wichtig oder nur beiläufig, verlieren. Die Gesichtsausdrücke sind hierbei besonders stark. Es ist ein düsteres Wunderland, in dem selbst ein kleiner, kurz auftauchender weißer Haushase seinen eigenen witzigen Kopf hat. Die gesamte Figurenentwicklung ist grandios, es sind allesamt extreme Charaktere, die uns in ihren Bann ziehen, unter deren Oberfläche, obwohl sie aussehen wie von sich selbst gezeichnete Karikaturen, dunkle und spannende Geschichten wabern. „Am liebsten mag ich Monster“ ist surrealistisch, expressionistisch und extrem atmosphärisch. Eine absolut dichte, bezaubernde und nicht selten sehr poetische Erzählung.

Bouquinist

Charlie Brown (Der ewige Melancholiker)

Peanuts
Peanuts
Carlsen

Er gilt als die Hauptfigur der Peanuts. Kein Name der anderen Protagonisten kommt schneller aus der Pistole geschossen, bis auf der seines härtesten Konkurrenten: Snoopy. Er ist das Kind eines Friseurs und einer Hausfrau. Er ist der große Bruder von Sally. Und obwohl er noch zur Schule geht, trägt er bereits, bis auf ein gelocktes Haar, dicht über seinen Augenbrauen und drei Härchen am Hinterkopf, eine Glatze. Er ist ein großer Fan des fiktiven Baseballspielers Joe Shlabotnik und Chef seiner eigenen Baseballmannschaft, die nur ein einziges Mal gewonnen hat. Ein Sieg, den sein Hund Snoopy verbucht und der deshalb anstelle von Charlie auch vom Team gefeiert wurde. Snoopy, sein Hund mit eigener Hütte, der sich wie alles verhält aber nicht wie ein Hund. Auf den wir noch gesondert eingehen werden, denn nicht umsonst gilt er als der Star der kultig amerikanischen Bande, die uns beim Lachen zu Tränen rührt.

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Journal

Lars von Triers Antichrist

Lars von Triers 2009 erschienenes Psychodrama, das sich dem Publikum – schaut man es unter dieser Prämisse – auch in Form einer pathologischen Studie darbietet, setzt dem Horror in ganz eigener Weise Hörner auf. Es ist nicht allein nur eine Studie, die sich die uns hier gezeigte Paarbeziehung zum Gegenstand genommen hat, um einen abnormen Verlauf nachzuzeichnen, es ist auch eine, die sich die nach und nach offenbarte und somit festgehaltene Krankheitsgenese der beiden zum Anlass nimmt, das womöglich eigentliche Thema von Interesse herauszupellen. Und zwar beim Zuschauer. Der vielleicht, wie ich es tue, nach dem Wissensstand der medizinischen Psychologie von heute fragt, vor allem aber nach ihrer Praxis und Anwendung. Eine Studie also, die sich den Patienten anschaut, der ihre heutigen Dienstleistungen in Anspruch nimmt.

Antichrist

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Bouquinist

H.P. Lovecraft: Die Gruft

„Die Gruft“ ist eine frühe Erzählung Lovecrafts, die sich von seinen folgenden stark unterscheidet. Im Juni 1917 soll er sie geschrieben haben, wie auch kurz darauf „Dagon“, eine seiner heute berühmtesten. Zu verdanken ist das William Paul Cook, einem Amateurjournalisten (Mitglied der UAPA und NAPA), der zudem ein großer Connaisseur unheimlicher und phantastischer Literatur war. Cook, der eine Freundschaft mit Lovecraft pflegte, druckte zunächst dessen Magazin „The Conservative“, in der Amateurpressezeitschrift „The Vagrant“ ließ er mehrere Erzählungen von ihm erscheinen, darunter auch „Die Gruft“. Ermutigt hat er ihn, unheimlich-phantastische Erzählungen zu schreiben, etwas, das Lovecraft schon fast aufgegeben hatte. Hatte er doch, wie er selbst einmal Clark Ashton Smith gegenüber bekannte, als Achtzehnjähriger sämtliche seiner Geschichten verbrannt und den Entschluss gefasst, von nun an nur noch Verse verfassen zu wollen, da er zu dieser Zeit überzeugt war, dass ihm das Handwerk fehle.

Die Gruft

Wir sind in Neuengland. Die Erzählung beginnt mit einer Leseransprache, in der sich der Ich-Erzähler auch vorstellt:

„Mein Name ist Jervas Dudley und ich bin schon als Kind ein Träumer und Visionär gewesen. Reichtum enthob mich von der Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit und weil ich mich für die üblichen Studien und gesellschaftlichen Zerstreuungen meiner Bekannten nicht eigne, habe ich schon immer in Bereichen geweilt, die nicht so recht zur sichtbaren Welt gehören.“

Jervas gibt an in einer Irrenanstalt zu sein, in die man ihn – die Geschichte, die er dem Leser erzählen will, wird es erklären – gesteckt hat. In seiner Ansprache gibt er dem Leser Gedanken wie diese an die Hand:

„Es ist eine unglückliche Tatsache, dass ein Großteil der Menschheit in seiner geistigen Sichtweise zu eingeschränkt ist, um mit Geduld und Intelligenz jene vereinzelten Phänomene zu erforschen, die nur von einigen wenigen psychologisch Feinfühligen gesehen und gefühlt werden und die außerhalb der alltäglichen Erfahrungen liegen. Menschen mit höherer Intelligenz wissen, dass zwischen dem Realen und dem Irrealen keine scharfe Grenze verläuft und dass wir nur durch feine, individuelle, körperliche und geistige Sinne alle Dinge um uns herum so erfassen können, wie wir es tun. […] Aber allzu viel darf ich nicht darüber erzählen, da ein ausführlicher Bericht die grausamen Verleumdungen über meinen Geisteszustand bestätigen würde, die ich manchmal belausche, wenn die durchs Haus schleichenden Pfleger miteinander tuscheln.“

Jervas erzählt, wie er sich als Kind in alte Bücher vergraben hatte und sich oft in einer bewaldeten Talsenke aufhielt, die hinter seinem Familienhaus lag, in der er las, träumte und grübelte statt mit anderen Kindern zu spielen. Er erzählt von einem einsamen Grab, das er eines Tages im dunklen Unterholz in einem der Hänge entdeckte. Es ist die Gruft der Hydes, einer alten ehrwürdigen Familie, deren letztes direktes Mitglied schon viele Jahre vor der Geburt Jervas zur Ruhe gebettet worden war. Und auch der Wohnsitz des Geschlechts stand einst auf dem Abhang des Hanges. Er ist jedoch schon vor langer Zeit durch einen Blitzschlag den Flammen zum Opfer gefallen. Ein Mann der Familie war dabei ums Leben gekommen. Die Bauern der Gegend sprechen hierbei vom „Zorn Gottes“. Kurze Zeit nach der Auswanderung der gesamten Familie in ihr ursprüngliches Land, wurde der leere Sarg des umgekommenen, letzten Familienmitgliedes zurückgeschickt, um ihn in der Gruft beizusetzen.

Die Grabstätte zieht von nun an die volle Aufmerksamkeit Jervas auf sich, der sie Tag für Tag besucht und versucht in ihr Innerstes zu dringen, doch sie ist verschlossen. Alles was ihm bleibt, ist ein kleiner Spalt. Er schwört, eines Tages hineinzugelangen. Im darauffolgenden Jahr stößt Jervas im Speicher seines Elternhauses auf eine Übersetzung von Plutarchs „Parallelbiografien“, in der ihn besonders der Abschnitt anspricht, in dem von Theseus und dem großen Stein berichtet wird, unter dem der Jüngling seine Bestimmung finden sollte, sobald er alt genug ist, dessen enormes Gewicht anzuheben. Jervas glaubt daher, dass die rechte Zeit demnach noch nicht ist. Vorsichtig holt er in der Gegend Erkundungen über die Gruft in die Familie ein, ohne etwas von seinem Fund und seinem Vorhaben zu verraten. Er spürt, dass diese Grabstätte die Familie repräsentiert, weiß, ohne dass ihn seine Eltern jemals mit auf einen Friedhof genommen hätten, den kalten Lehmboden auf unbestimmte Weise mit dem atmenden Körper in Zusammenhang zu bringen. Er fühlt sich mit diesem Ort körperlich und seelisch verbunden, verbringt seine Nächte nun immer häufiger auf Kirch- und Friedhöfen und verändert sich in seinem Wesen, weiß von Dingen, mit denen er die Menschen seiner Umgebung erschreckt, ohne dass er sie gelesen oder erzählt bekommen hätte. Auch findet er heraus, dass er mütterlicherseits eine zumindest schwache Verbindung zur als ausgestorben geltenden Familie Hyde aufwies. Er sieht sich nun als den letzten Nachkommen dieser Familie.

Eines Nachts, als Jervas in seiner Laube vor dem Grab Wache liegt, vernimmt er Stimmen durch den offenen Spalt der Gruft:

„Über ihre Eigenschaften will ich mich nicht äußern, doch ich kann zumindest sagen, dass sie in der Wortwahl, der Betonung und der Aussprache beklemmend abweichend klangen. Jede Färbung des neu-englischen Dialekts schien in diesem schattenhaften Zwiegespräch vernehmbar zu sein, von den groben Silben der puritanischen Kolonisten bis hin zur klaren Rhetorik, wie sie vor fünfzig Jahren gesprochen wurde […].“

Jervas bemerkt zudem, als er erwacht, dass ein Licht in der Gruft gelöscht wurde. Von dieser Nacht an verändert er sich stark. Zuhause angekommen, findet er flugs in einer verrotteten Truhe auf dem Speicher den Schlüssel für die Gruft und öffnet sie auch Tags darauf. Zwischen den Särgen und Marmorplatten fühlt er sich zu Hause und legt sich sogar in einen leeren Sarg. Jervas hat sich nun so stark verändert, dass es alle Dorfbewohner sogleich wahrnehmen. Er führt sich auf wie ein „Mann von Welt“, verhält sich kühn und übermütig, verfügt nun über eine eigentümliche Bildung und gibt fröhlich weinselig eine georgianische Ballade des 18. Jahrhunderts zum Besten, die in keinem Buche steht:

Kommt her, meine Freunde, den Krug voll mit Bier, 
Und trinkt auf das Jetzt, solang‘ wir noch hier; 
Häuft auf dem Teller den Braten zum Genuss, 
Denn Speis und Trank vertreiben jeden Verdruss: 
So füllt euch das Glas, 
Denn das Leben ist Spaß; 
Wenn ihr tot seid, bleibt auf ewig geschlossen das Fass!

Anakreons Nase war rot, so heißt es manchmal; 
Doch wenn man feiert ist das völlig egal. 
Gott verdamm‘ mich, ich bin lieber hier und rot, 
Als weiß wie ’ne Lilie und seit Tagen schon tot! 
Ach, Betty, mein Schatz, 
Gib mir ’nen Schmatz; 
In der Hölle ist für Wirtstöchter wie dich doch kein Platz!

[…] usw.

Zu dieser Zeit entwickelt sich bei Jervas auch eine Angst vor Feuer und Gewitter. Häufig versteckt er sich am Tage im verfallenen Keller des niedergebrannten Hauses der Hydes. Besorgt über die Veränderungen ihres Sohnes beauftragen die Eltern einen Spion, der den Jungen verfolgen und beobachten soll. Was ihm auch gelingt, da Jervas ihn eines Morgens in einem Dickicht entdeckt, als er gerade die Gruft wieder verschließen will. Der Späher aber gibt dem Vater nur an, Jervas hätte die Nacht in seiner Laube vor der Familiengrab verbracht, mit offenen Augen auf den Spalt starrend, der ins Innere der Gruft führt. Der Sohn ist zunächst erleichtert, fühlt sich durch eine übernatürliche Macht beschützt und gibt sich daraufhin sogar ungeniert der Leichenfledderei hin.

Doch in einer Nacht ist es nicht der Ruf der Gruft, die Jervas nach draußen treibt, es ist der Ruf des verkohlten Kellers, der ihn, als wäre ein Dämon zugegen, zu sich lockt. Die Talsenke phosphoresziert. Vor seinen Augen steht das Herrenhaus der Hydes, so prachtvoll wie einst, als wäre es niemals abgebrannt. Scharen des Bostoner Großbürgertums fahren mit Kutschen heran, Edelleute der Gegend gesellen sich hinzu, um der Feier beizuwohnen, die im Herrenhaus gegeben wird. Jervas mischt sich unter die illustre Gesellschaft als hätte er nie etwas anderes getan als zu feiern:

„Die grässlichen Blasphemien strömten mir fröhlich über die Lippen und bei meinen schockierenden Ausbrüchen würdigte ich weder ein Gesetz Gottes oder der Natur.“

Mit einem Mal fährt ein Blitz in das Haus ein, die Gesellschaft flieht in alle Richtungen, nur Jervas bleibt erstarrt auf einem der Stühle sitzen. Der Gedanke, er könne verbrennen und seine Asche in alle Himmelsrichtungen verweht werden, ist für ihn dabei ein erschreckender:

„Stand mein Sarg denn nicht schon für mich bereit? Hatte ich denn nicht das Recht, in aller Ewigkeit unter den Nachfahren von Sir Geoffrey Hyde zu ruhen? Oh doch! Ich würde mein Totenerbe einfordern, selbst wenn meine Seele dafür durch die Jahrhunderte streifen müsste, auf der Suche nach einer neuen körperlichen Hülle, um meinen Platz dort in der leeren Nische des Grabgewölbes einzunehmen. Jervas Hyde wird niemals das traurige Los des Palinuros teilen!“

Jervas findet sich schreiend und um sich schlagend in den Armen zweier Männer wieder, einer von ihnen ist der Späher. Auch sein Vater ist zugegen, doch sein Sohn fordert, man solle ihn in gefälligst in sein Grab legen. Ein Blitz hat sichtlich in die Kellerruine eingeschlagen, die herannahenden Dorfbewohner entdecken eine altmodische Kiste, die dadurch zum Vorschein kam. Sie enthält neben Dokumenten und wertvollen Gegenständen auch eine kleine Porzellanminiatur, eines jungen Mannes mit gelockter Zopfperücke, die versehen ist mit den Initialen >J. H.<. Die Miniatur sieht Jervas zum verwechseln ähnlich.

Nunmehr in einer Irrenanstalt inhaftiert, wendet sich Jervas an einen alten Dienstboten namens Hiram, den er als Kind sehr mochte, der ihn weiterhin bezüglich der Gruft informieren soll. Jervas wird regelmäßig von seinem Vater besucht. Dieser aber erklärt ihm, er hätte das Portal zur Gruft niemals passiert. Er selbst habe es sogar untersucht und keinerlei Einbruchsspuren an dem Schloss finden können. Das ganze Dorf soll darüber Bescheid gewusst haben, man habe Jervas immer nur in der Laube schlafen gesehen, mit halb offenen Augen, auf den Spalt starrend, der ins Innere des Familiengrabes führt. Jervas kann seine Erlebnisse nicht beweisen, da er den Schlüssel in der Nacht des Blitzeinschlages verloren hat. Hiram aber berichtet ihm, dass er die Kette, die die Gruft verschließt, gesprengt hat und ins Innere gestiegen ist. Er fand dort auf einem Sockel in einer Nische einen leeren Sarg, auf dessen Tafel der Name Jervas stand. Noch immer glaubt Jervas, dass er einst in diesem Grab bestattet werden würde, da man es ihm versprochen hat.

Der Einfluss Poes

„Die Gruft“ präsentiert sich, im Gegensatz zu seinen auf sie folgenden Erzählungen, in einem völlig anderen Gewand. Lovecrafts Bewunderung für das Oeuvre Edgar Allan Poes ist hier nicht nur durch die Konstruktion der Erzählung wahrnehmbar, sie ist auch atmosphärisch eingefangen. Was den verwandten Stil betrifft, so schrieb Lovecraft in einem Brief an Richard F. Searight, dem nachgesagt wurde, er habe eine seiner Geschichten im Stile Lovecrafts verfasst:

„Ich kann dies nicht in irgendeinem erwähnenswerten Maße feststellen. Eher würde ich sagen, dass Sie schlicht dieselben allgemeinen sprachlichen Ausdrucksmittel gewählt haben, die auch ich bevorzuge – die jedoch bereits, lange bvor ich geboren wurde, Hunderte andere bevorzugt verwendet haben. Viele meinen, dass ich diesen Stil ausschließlich von Poe übernommen habe – was (ungeachtet des starken Einflusses, den Poe auf mich ausgeübt hat) ein weiterer typischer Denkfehler eines kurzsichtigen Modernismus ist. Besagter Stil ist keine spezielle Eigenart Poes, sondern schlicht die traditionell vorherrschende Art, erzählende Prosa auf Englisch zu verfassen. Wenn ich durch irgendeinen speziellen Einfluss zu diesem Stil gekommen bin, dann vielleicht eher durch die Literatur des 18. Jahrhunderts als durch Poe.“

S. T. Joshi jedoch schreibt im ersten Teil seiner Biografie „Lovecraft – Leben und Werk“:

„[…] dass hier ein guter Teil Selbstinszenierung mit im Spiel ist. Es trifft durchaus zu, dass Lovecraft in seinen Erzählungen gewissermaßen den Stil der Essayisten des 18. Jahrhunderts mit demjenigen Poes verbindet, und zu dem Zeitpunkt, als er die obigen Zeilen schrieb (1935), hatte er sich in der Tat von jeder direkten Imitation des Poe’schen Stils längst gelöst. Doch es ist nicht zu leugnen, dass die Sprache, die Lovecraft in seinen frühen Erzählungen entwickelt – dicht, etwas überhitzt, durchsetzt mit archaischen und dunklen Begriffen -, ebenso wie sein Erzählstil, mit seiner beinahe vollständigen Abwesenheit realistischer Charakterzeichnung und dem starken Gewicht, das er auf Exposition und Narration legt, während Dialoge fast vollständig fehlen, offensichtlich auf Poe zurückgehen und nicht die „traditionell vorherrschende Art, erzählende Prosa auf Englisch zu verfassen“, repräsentieren – wovon man sich schnell überzeugen kann, wenn man diesem Stil die Prosa Hawthornes, Thackerays oder Joseph Conrads gegenüberstellt.“

Des Weiteren schreibt er: „An anderer Stelle schätzt Lovecraft den stilistischen Einfluss Poes auf seine Arbeit etwas aufrichtiger ein“ und übergibt ihm das geschriebene Wort, das er einst an Clark Ashton Smith richtete (1930):

„Da Poe von allen Horror-Schriftstellern den größten Einfluss auf mich ausübte, beginnt für mich eine Geschichte nicht richtig, wenn sie nicht etwas von seiner Manier hat. Ich könnte mich nie abrupt in eine Sache hineinstürzen, wie es die populären Schriftsteller tun. Für mein Dafürhalten muss man zunächst eine Szenerie & einen Weg, über den man sich der Sache nähert, etablieren, bevor die eigentliche Vorstellung beginnen kann.“

Der zu erzählenden Geschichte des Ich-Erzählers ist, wie bereits erwähnt, eine einleitende Leseransprache vorangestellt, in der er dem Leser Informationen gibt, auf welche Weise er mit den nun folgenden Informationen umgehen soll. Womit sie, die „eigentliche“ Geschichte, zu einem Tatsachenbericht mutiert, der vom Ich-Erzähler vorwegnehmend in einen Kontext seiner Weltanschauung gebettet wird, in dem er bereits Partei für sich ergreift, es aber doch dem Leser überlässt, was er von der nun folgenden Geschichte hält. Etwas, das auch bei Poe häufig Anwendung fand.

Joshi geht auch auf die häufige Verwendung von Ajektiven ein, die der Poes entspricht, hält den Kritikern, die Lovecraft „Adjektivitis“ vorwerfen, aber dagegen, dass sie vergessen:

„[…] dass die Technik der Adjektivhäufung, insbesondere wenn es sich um eine in der ersten Person verfasste Erzählung handelt, oft zur Beschreibung des Geisteszustandes des Protagonisten dient und damit zu einem Element der Charakterzeichnung wird.“

Wir können festhalten, dass Lovecraft grundsätzlich von Poes Werk beeinflusst war, besonders seine frühen Arbeiten lassen das erkennen, wir halten aber auch fest, dass Lovecraft sich dadurch sehr schnell eigene Prinzipien zur Komposition seiner Erzählungen geschaffen hat, die ihrerseits das Schreiben vieler Autoren beeinflussten und bis heute beeinflussen. Und schaut man sich die Biographie und Interessen der beiden an, wird man besonders auf diesen Feldern feststellen, sie sind sich gar nicht so unähnlich.

Der Träumer und Visionär Jervas Dudley

Wir wissen, dass Jervas Dudley in einer Irrenanstalt sitzt, wir wissen, dass er ein Träumer und Visionär ist, der wenig übrig hat für das Treiben seiner Zeit. Wir wissen, dass er sich gerne in Bücher vergräbt und darüber hinaus über ein erstaunliches Wissen verfügt, das ihm auf andere Weise zukommt als durchs Lesen. Wir wissen, dass die Familiengruft der Hydes ihn magisch anzieht, dass er sich mit ihnen mehr und mehr verbunden fühlt. Wir wissen aber auch durch seinen Vater und den Spion, wie auch durch die Aussagen der Dorfbewohner, dass Jervas Dudley die Gruft niemals betreten hat. Was also hat es mit seinem Erleben auf sich? Woher weiß er die vielen Dinge, die er weiß. Woher seine zunehmende Wesensveränderung?

Eines ist klar, schon die Selbstbeschreibung Dudleys verrät, dass er ein Sonderling ist, anders als alle anderen. Er träumt, hängt seinen Gedanken nach, lässt sich auf das ihn Umgebende ein:

„Auf diesen moosbedeckten Hängen habe ich als kleines Kind meine ersten Schritte getan und um ihre grotesken, gichtigen Eichenbäume die ersten fantastischen Einfälle meiner Kindheit gewoben. Die Dryaden, die über diese Bäume wachten, kannte ich sehr gut und oft habe ich ihre wilden Tänze in den schwankenden Strahlen des abnehmenden Mondes beobachtet […].“

Wir können davon ausgehen, dass Jervas über eine sensiblere Wahrnehmung verfügt als andere, eine, die es ihm ermöglicht in seinem Alltag in Bereiche vorzudringen, die dem Auge und dem Geist ansonsten verborgen sind. So verborgen, wie es die Gruft der Hydes selbst ist. Der Familienname Hyde lässt uns unwillkürlich an die Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson denken. Kein Zufall, würde ich meinen, vollzieht Jervas doch eine Wandlung, die die Geschichte der Familie Hyde für ihn zu Tage fördert, eine Geschichte, die sonst, viele Jahre nach der Feuerkatastrophe verborgen geblieben wäre. Es scheint, als nehme Jervas die Wesenszüge eines Familienmitglieds der Hydes an. Und sein unbedingtes Beharren, in „seinen“ Sarg in der Hydegruft gelegt zu werden, verrät uns, dass sich hierbei um den bei dem Brand Umgekommenen handeln muss, der Besitz von ihm nimmt. Es ist, als wollte der Geist der Hydes dafür sorgen, dass das leerstehende Grab nicht leer bleibt, dass es einen Körper bekommt. Der Umgekommene trug offenbar den selben Vornamen. Ein Seelenwanderungsmotiv wie es auch Poe oft verwendete. Zudem wissen wir, dass auch Jervas herausgefunden hat, dass er mütterlicherseits mit den Hydes verwandt ist. Etwas, das seine Empfänglichkeit für diese Familie und ihre Geschichte noch verstärkt. Da es Jervas gelingt in die Gruft zu gelangen ohne körperlich anwesend zu sein, und er sogar mit dem Besuch des Festes im Herrenhaus der Hydes, gewissermaßen in der Zeit zurückreist, können wir ihn als eine Art Psychonauten verstehen. Das Auffinden der Porzellanminiatur verstärkt das Doppelgängermotiv.

Doch vergessen wir bei all diesen geschilderten übernatürlichen Phänomenen nicht, dass nur Jervas Dudley all das erfahren hat. Es könnte sich dabei also auch um einen rein psychischen Vorgang handeln. Diese Möglichkeit besteht zumindest, auch wenn wir geneigt sind, uns auf die Seite Dudleys zu stellen. Was wiederum an Lovecrafts Zeichnung der Figur liegt, die anders ausstaffiert ist als seine vom Leser gewohnteren Protagonisten. Vor allem die psychologische Tiefe, die er ihm verleiht, trägt zur Identifikation des Lesers bei. Er gibt häufig Auskunft über seinen seelischen Zustand, der Leser leidet mit ihm. Ein wenig erinnert er in seinen Zügen auch an seinen Erfinder selbst. Und lesen wir diese von Lovecraft an Alfred Galpin verfassten Zeilen (April 1920), verstehen wir, wieso es Jervas Dudley brauchte:

„An einem Junitag im Jahre 1917 spazierte ich mit meiner Tante über den Swan Point Cemetery und bemerkte einen zerbröselnden Grabstein, auf dessen Schieferoberfläche sich schwach ein Schädel und gekreuzte Knochen abzeichneten. Die Jahreszahl 1711 war noch gut erkennbar. Das Ensemble brachte mich zum Grübeln. Hier stand ich vor einem Bindeglied zu meinem über alles geliebten Zeitalter der gepuderten Perücken – dem Leichnam eines Mannes, der eine Allongeperücke getragen und vielleicht die Originalblätter des Spectator gelesen hatte. Hier lag ein Mann, der zur selben Zeit wie Mr. Addison gelebt hatte und der ohne weiteres Mr. Dryden hätte begegnen können, wenn er im richtigen Moment im richtigen Teil von London gewesen wäre! Warum konnte ich nicht mit ihm sprechen und tiefer in das Leben meines auserwählten Zeitalters eindringen? Was fehlte seinem Körper, dass er nicht mehr in der Lage war, sich mit mir zu unterhalten? Lange betrachtete ich dieses Grab, und am Abend, nachdem ich nach Hause zurückgekehrt war, begann ich meine Erzählung „The Tomb“.“

Das Trinklied

Auch beim Trinklied spekuliert S. T. Joshi, Lovecraft hätte sich hier an Poe gehalten, der in „The Fall of the House of Usher“ und „Ligeia“ jeweils gekonnt ein eigenes herausragendes Gedichte implementierte. Zwei Gedichte, die wie dieses mit der jeweiligen Erzählung stark verwoben sind. 1963 wurde das Trinklied in Lovecrafts „Collected Poems“ aufgenommen. Dass das Trinklied sogar schon vor der Entstehung der Erzählung ersonnen wurde, belegt ein Manuskript in der John Hay Library, es gehört zu einem Brief, dessen erste zwei Seiten fehlen und der abrupt auf der fünften endet. Vielleicht, so Joshi, hat Lovecraft nur diese Seiten aufgehoben, weil ihm das Lied gefiel und er davon ausging, es irgendwann einmal zu verwenden. Als Quelle der Inspiration gilt unter anderem ein Lied aus Thomas Mortons „New English Canaan or New Canaan“ von 1637. Aber auch ein Lied, das in Sheridans Komödie „School for Scandal“ von 1777 gesungen wird, wird in Betracht gezogen, denn in seinem Brief soll Lovecraft selbst angedeutet haben, er habe versucht, ein georgianisches Trinklied nachzuahmen und kein jakobitisches.

Ein gelungenes Stück Prosa, das Lovecraft, ganz im Gegensatz zu den meisten seiner frühen Erzählungen, selbst sehr mochte. Ein sehr erstaunliches gar, bedenkt man, dass er es nach neunjähriger Prosaabstinenz verfasste. Schrecklich und komisch zugleich zeigt sich das Übernatürliche in „Die Gruft“, manifestiert sich im Innen wie im Außen des Protagonisten, der bis zum Schluss verlangt, was nach ihm verlangt. Ein großer früher Anstoß Lovecrafts über Wahrnehmung und Realität nachzudenken.

Journal

Darren Aronofskys „mother!“

Am 5. September 2017 feierte dieses psychologisch herausragende transzendentale Drama Premiere. Es wurde bei den 74. Filmfestspielen in Venedig gezeigt. Am 14. September kam es zu uns in die Kinos. Nicht wenig Applaus, aber auch jede Menge Buh-Rufe hat es geerntet. Als misogyn oder platt-feministisch wurde es bewertet. Gar biblisch wurde es ausgedeuet.

Jennifer Lawrence; (c) Paramount Pictures
Jennifer Lawrence; (c) Paramount Pictures

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Lumiere

Die Hand

„Doch weder aus dem Nebel noch von hinter den Blechwägen trat jemand auf ihn zu, um ihn bei der Hand zu nehmen. Es war nur ein Traum, komm jetzt mit nach Hause! Wie wäre das? Wie wäre es, zu erwachen? So viele Welten, die sich als Sterne tarnten, starrten zu ihm hinunter, wo es doch kein Hinunter mehr gab.“ (Sandsteinburg)