Kemptener Tagelohn

Leseversuch in der Cucina Toscana

Cucina Toscana
Cucina Toscana, Hildegardsplatz, Kempten

Kaffee ist ein Stück Lebenskraft. Auch wenn ich meinen Konsum in den letzten Jahren etwas eingeschränkt habe, die Atmosphäre, die sich im besten Fall um den Kaffee dreht, war nie ganz von der Hand zu weisen. Bücher und kulinarischer Esprit haben sich schon immer gut vertragen, und was den Kaffee betrifft: Es gäbe tausend Geschichten zu erzählen. Dafür bräuchte man fast einen eigenen Blog. Nun wohne ich mit Kempten zwar nicht in einer kulturellen oder literarischen Hochburg (das ist Bayern und insbesondere das Allgäu im Allgemeinen nicht), aber es ist ein ganz außergewöhnliches Städtchen, in dem man sich wohlfühlen kann. Also dachte ich mir, ich schaue mir die kleinen Oasen, die es dann doch gibt, etwas genauer an. Vielleicht mit einem Buch in der Hand (ich habe mir inzwischen wieder angewöhnt, überall Bücher mitzunehmen und zu lernen, überall und in jeder Situation zu lesen, ob im Gehen oder Stehen). Das bedeutet eine völlige Veränderung meiner Lesegewohnheiten, denn mein Ausgangspunkt ist, dass ich sogar mit Ohrstöpseln in meiner Wohnung sitze, weil ich nicht den geringsten Lärm ertrage. Aber was wäre das Leben ohne Abenteuer?

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Kemptener Tagelohn

Gen Haubenschloßpark

Man kommt nur dann außer Haus, wenn man außer sich gerät und weder plant den Ort noch den Weg. Dann gerät man außer Haus wie ein Abenteurer und seine Konkubine (oder wie eine Dame und ihr Kofferträger); wartet auf die Kutsch, die vielleicht nicht fährt und steigt dann in eine ein, die sich von Weitem schon als die gleiche wie immer erkennen lässt. Es gibt da dieses Mangrovengeflecht im Gehirn, das aussieht, als käme man nie hindurch. In Wahrheit sind es Treppensteine, die hinauf führen; dafür wurden sie gemacht, es ist ihr Begehr und Dasein.

Treppen

Was dachtet ihr Römer, als ihr euch eine Stadt vorstelltet, die es noch nicht gab, die hier noch nie gewesen ist und die ihr vielleicht nie kennen lernen werdet?

Kempten Anhoehe
Kemptener Tagelohn

Ein Stück New York in Kempten

New York
Aufbau der Kirmes

Ein Parkplatz wird gerade ausgerollt wie ein gilber Teppich, um für den Kathreinemarkt, der am 20. Oktober beginnt, darauf vorbereitet zu sein, Leute durch die Gegend schütteln zu müssen. Bei einigen setzt sich dann ihr Menü neu zusammen (und vielleicht setzt sich auch etwas Grobgemahlenes auf ihre Zunge). Ein Scooter freilich schüttelt nicht, sondern scootet und bumst wie einst im Jahre 1906 in Coney Island, wo Neville’s Automobile Railroad diesen erschütternden Spaß zum ersten Mal präsentierte. Nur war es damals ein viel größeres Wunder und eine Bewertung dieses kleinen Fleckens käme einem Zerpflücken flauschiger Zuckerwatte gleich. Man darf natürlich wissen, dass ich mit den fränkischen Wiesen- und Schützenfesten aufgewachsen bin, weshalb mir nur ein bedauerliches Lächeln bleibt. Aber immer wenn ich den Königsplatz (ein spannender Name für einen Parkplatz) durchschreite und der angedachten Buntheit gewahr werde, kann ich mich zumindest an Zeiten erinnern, als solcherart hingepflanzte Buden einen Zauber verströmten, der – wie alle Zauber – über die Jahrzehnte hinweg ausradiert wurde.

Ich kennte Gnade, gäbe es eine Geisterbahn.

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Auch in Kempten gab es Eis

Wollmammut
Zum Anlass der Sonderausstellung im Kemptener Marstall vom 28. Oktober bis zum 14. April 2024 postiertes Eiszeitwesen.

Vor 26.000 Jahren kam er hier an und erstarrte. Das kleine Wollmammut fraß wahrscheinlich gerade eine Dino-Heuschrecke (um sich nach getaner Wanderschaft und einer Menge frischer Luft belohnt zu fühlen), und da spürte er es: hier würden irgendwann die Römer (was sind Römer?) eine der schönsten Kleinstädte errichten (was sind Kleinstädte?). Es war diese Vision, die er kurz darauf wieder vergessen würde, aber später – viel später, würde er in die Geschichte eingehen als Dr. Kalle Mamm, jenes Wollwesen nämlich, das die Science Fiction in der Mastodon-Familie begründete. Man hatte ja nicht viel in der Eiszeit. Das Feuer war zwar schon bekannt, aber es zeigte sich nie dort, wo man es brauchte: im Kamin der eigenen Höhle nämlich.

Kemptener Tagelohn

Der Hexenschuss am Abend

Es ist die dritte Nacht, in der mich die Poltergeister drangsalieren. Heute war es die Hexe mit ihrem Hexenschuss (wahrscheinlich habe ich mir einen Nerv im Steiß eingeklemmt), so dass ich bei jeder Drehung aufwachte. Als ich schließlich den Abort aufsuchen musste – ein Drang, der weißgott nicht zu ignorieren ist, will man überhaupt noch ein Auge zutun – kam ich nicht in die Höhe. Nach einer Viertelstunde hatte ich mich zumindest an der Bettkante aufgesetzt. Es gelang mir, mich in die Küche zu schleppen, um etwas Voltaren aufzutragen und siehe da, es wurde zumindest in der Weise erträglich, dass ich mich Bewegen konnte.

Tagsüber war davon überhaupt nichts zu spüren, das Flanieren über den Flohmarkt an der Allgäuhalle war sogar wieder sehr ertragreich. Drei Plattenstände abgegrast und bei jedem fündig geworden. Selbst Raritäten wie Larry Coryells The Restful Mind waren zu finden. Eine wirklich erstaunliche Entwicklung für Kempten.

Selbst ein kleines Spitzweg-Gemälde fand seinen Umschlag. Der gute alte Biedermeier-Stil – hier der „ewige Hochzeiter“, was ja nun wirklich kein unbekanntes Gemälde ist. Interessant ist die Rahmung, die aus alten österreichischen und schweizer Abbruchhäusern aus dem 16ten bis 19ten Jahrhundert rührt und zusammengesetzt wurde. Leider ist das Gemälde nicht komplett gefasst, sondern nur die Blumengabe an der Treppe. Natürlich ist ein Begriff so gut wie der andere; wenn man bedenkt, dass der Biedermeier vor dem „Realismus“ angesetzt war – eine Epoche, die im Grunde zur Verlogensten überhaupt gehörte (was der Name „Realismus“ ja schon aussagt), ist es kein Wunder, dass in permanenter Unstetigkeit ein Elysium aus Behaglichkeit auch heute noch bei empfänglichen Menschen durchschlägt, vor allem deshalb, weil sich heute mehr das Irrationale und völlig Menschenverachtende des Realismus durchgesetzt hat.

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Straßenbau im Neunzehnten Jahrhundert

Haggenmüllerstraße
Haggenmüllerstraße, Kempen (Foto: A. Anders)

Die Bagger werden zwar nicht mehr mit Dampf betrieben, weil die Kessel, in denen er produziert werden kann, mittlerweile kaum noch auf einem Flohmarkt zu finden sind und die Beschaffungskosten astrale Höhen zeitigen, aber das trübt das Gesamtbild nur marginal. Die Zeitreisenden freut es sicherlich zu erfahren, dass Kempten in diesem Jahr damit begonnen hat, sämtliche Straßen und Bürgersteige abzureißen, damit die Bevölkerung sich wieder am Matsch und am naturbelassenen Schlagloch erfreuen kann. Kinder werden ihre Papierschiffe wieder mitten auf der Straße kentern lassen können und auch Pferdescheiße wird bald wieder die glückliche Luft um uns herum erfüllen. Gegenwärtig ist das Pilotprojekt in der Haggenmüllerstraße zu bewundern, und ich kenne niemanden, der nicht vor Aufregung zittert, weil es endlich wieder in ein Jahrhundert voller Sonnenschein und Muse geht. Brechen wir gemeinsam auf.

Kemptener Tagelohn

Der Kobold am Forum

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Die Geschwister Grimm in Kempten

„Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. DAS ist doch merkwürdig!“

(Zitat von „Die-mit-dem-Dichter-spricht“)

Das Allgäu ist übervoll mit Menschen, an denen der Nonsense der heutigen Zeit zwar nicht abprallt, aber hier und da dann doch für das genommen wird, was er ist: eine vorübergehende Erscheinung. Gerade in den Bergen und in den Randbezirken gibt es noch eine Menge Zauber.

„Ich würde Sie niemals als Hexe bezeichnen!“
„Ich mich aber schon“

Naturheilkundige finden hier ihr Mekka. 1775 wurde die letzte Hexe in Kempten zum Tode verurteilt, aber nicht verbrannt. Sie starb eines natürlichen Todes. Vielleicht geht es Kempten deshalb so gut. Wer im schöpferischen Element tätig ist, der weiß, dass diese Kraft weiblich ist, auch wenn es Männer gibt, die das leugnen. Ich selbst wäre ohne die weibliche Urkraft seelisch wie körperlich bankrott. Deshalb die Große Mutter, deshalb Hexen. Aber mir geht es hier nicht um Elementarkräfte und deren Herkunft. Es ist ziemlich erstaunlich, dass sich Kräuterfrauen und solche, die sich selbst „Hexen“ nennen nicht nur in den Allgäuer Dörfern finden, sondern mitten in der Mall, die gesichtslosen Konsum über ihre Jünger schüttet, die jeden Tag erneut anbranden, um dem Abfall der Industrie anheischig zu werden.

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Fleischsauce am Haken

Gäbe es eine Disziplin der Unmöglichkeiten, wäre Fleischsauce am Haken ein Dauerbrenner. Kempten hat noch sehr viele echte Fleischer, Haudegen am Hackebeil, am Viehschußgerät und am Rippenzieher. Die Auswahl fällt schwer, ein Qualitätsproblem gibt es hier nicht, die umgebundenen Schürzen der Metzger sehen besser aus als die im Klinikum, hygienischer auch, schließlich ist es beim Tier nicht egal, wie es verreckt.

Vinzenzmurr

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Kaffee bei Birnstiels

Kaffee gibt es in den unterschiedlichsten Höhenlagen, deshalb natürlich auch in Kempten. Wer es gerne hat, dass sein Kaffee nach alten Zeitungsrollen und Druckerschwärze schmeckt, der beehre den Herrn Birnstiel, seines Zeichens freilich kein Kaffee-Ausschenker wienerischer Couleur, sondern hoheitlicher Marketender für Druckartikel aller Art – und einer der letzten einer aussterbenden Zunft.

Presse Birnstiel

Heute empfing er den Meister ganz im Blüschen, mit Schlips und ordentlicher Bommelei, festlich und fesch, gekämmt und adrett. Ein stattlicher Zeitungswaren-Vorzeiger (der sich auch mit Tabak, Haschischpfeifen und – nur so zum Spaß – einem Kaffeeautomaten brüsten kann. Man kann sich hier im Laden schlicht über alles unterhalten: Knötchen in der Brust, wo bekommt man ein bezahlbares Hirschgeweih, war die Fußpflegerin heute wieder schick?; bei Presse Birnstiel tobt der Figaro-Gedanke wie sonst nirgends mehr. Hätte Kempten eine Mutter, dann hieße sie Herr Birnstiel. Weiland kaufe ich meine wie auch immer gearteten Heftchen dort, die dann, Opfer jeder Sammlung, irgendwo im Keller lagern. Aber nicht diesmal. Diesmal bin ich auf der richtigen Spur, die da lautet: Hochphilosophie. Im Zeitungsschlabberladen? Oh ja, denn ich habe es auf die Buchrücken der LTBs abgesehen, Kater Karlo als intergalaktischer Schurke. Ist das nicht very well by the way? Tröstet euch: auch wenn der Kaffee für umme war, er schmeckte nicht besser als ein angebohrtes Leitungsloch und ich habe ihn dennoch getrunken. Wird das Auswirkungen auf meine Gesundheit haben? Ich glaube nicht, denn selbst die schlimmste Kloake verwandelt sich in Kempten in ein übersinnliches Tröpfchen aus dem Acheron.

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Der Fall Sissi

Der Traum vieler Mädchen, eine Prinzessin zu sein, lässt sich leicht mit der von Romy Schneider selbst gehassten Rolle der jungen Kaiserin, die sie im gleichnamigen Gummi-Film von 1956 spielte, in Verbindung bringen. Ein strammes Korsett hat die leibhaftige Kaiserin ja tatsächlich bis zu ihrer Ohnmacht hin geschnürt.

Ob Elisabeth hingegen etwas mit Magenta und rosarotem Plüsch anfangen konnte, bezweifle ich. Dazu war ihr Leben viel zu tragisch. Wie das aber bei Tortenbauern und Zuckerschmieden so ist, liebt man das glitzernde Süß über alle Verhältnisse hinweg, und wenn dann in der Familie die cinemascopische Legendenbildung mit den vielleicht persönlichen Vorlieben, Puppen an- und auszukleiden, eine genetische Tatsache darstellt, hat man den Salat, beziehungsweise das prunken=trunkene Gebäck.

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