Willi hat zu viel Zeit zum Nachdenken, zu wenig Zeit, etwas zu verändern. Vielleicht hat sich die Tür, die offenstand, wie es uns das Unterbewusste lehrt, mit lautem Krachen geschlossen, vielleicht ist dies das Geräusch, das er hört, bevor er in Aufruhr gerät und stets zur selben Stunde erwacht : »Hier spricht die Zeit! Bleiben Sie stehen und hören Sie gut zu, denn ich werde mich nicht wiederholen!« Und auch die Bewegung, die er jetzt ausführt (es ist nur ein Streifen mit den Fingern an der Schläfe entlang), wird er nicht noch einmal machen. Frischluft wirbelt einsam in der bodennahen Grenzschicht herum, windkateraktreitende Pollen, Nacktsamer, Bedecktsamer. Nichts könnte tauglicher sein für ein tägliches Brunchen mit der Feder als jenes Fragment 91 des dunklen Heraklit. Alles plätschert oder fließt also, und man wird nicht zweimal in das gleiche Flussbett pinkeln. Aber die Zeit fließt nicht wie ein Fluss, sondern tickt wie eine Uhr, wobei jedes Ticken einer Planck-Zeit von 10-43 Sekunden entspricht, genauer gesagt, die Zeit im Universum fließt mit dem Ticken unzähliger Uhren. Bei einem Tick ist die Materie da, beim nächsten Tick ist sie verschwunden – eigentlich wird das Ticken durch das Verschwinden definiert. Aber zwischen den Ticks existiert die Zeit nicht; es gibt so wenig ein Dazwischen wie es Wasser zwischen zwei benachbarten Wassermolekülen gibt. Doch das Beunruhigende an der Zeitfluss-Metapher ist nicht der Fluss, der sich von der Kaverne hervor aus dem Quell greint, sondern dass wir selbst es sind, die nie wieder dieselben sein können. Ein Gedanke, der uns ontologisch gebeutelten Wesen sagt, dass es Sein an sich nicht gibt, dass Werden und Bewegung bereits alles ist. Wir können sagen, dass es unsere Fiktionen von uns selbst sind, die sich im Werden befinden, dass wir die Weltgeschichte entziffern, indem wir sie erfinden.
Unter dem gleißenden Mittag sorgt ein behütendes Vordach für den wohligen Verbleib. So nennen wir das Leben. Aber Willi sitzt auf einem Balkon, der sich trotz aller phantastischen Anstrengung nicht in eine Veranda verwandeln will, und versucht, hinter den Fensterscheiben, die von den anderen Häusern auf die Straße spiegeln, Schatten zu erkennen. In das gepinselte Azur hinein steigt der Blick, sieht in allen Schäfchen, die dort Bläue grasen, Gebilde seiner eigenen Natur. Die Wissenschaft beweist, dass alles Unsinn oder Profit zu sein hat. Willi stellt sich vor, vom nachträglich an das Gehäuse geschraubten Balkon zu fallen, ohnmächtig bereits in der Luft, vor dem tunichtguten Aufschlag. ›Im Grabe sind wir alle gleich!‹ – stimmt nicht, denn noch am Sarge und am Leichenschmaus sollst du erkennen… die übriggebliebene Bande frisst das, molekular gesehen, schon merkwürdige Fleisch, die Würmer aus den Ritzen. Freie Gedanken verwehen, der Ein- oder Andere verrät ihn für ein warmes Mittagessen. An Tagen der Erinnerung ziehen sich die Schuhe von selber aus, die Kälte beißt in die Zehen wie eine ungeimpfte Altweltmaus.
Der Verkehrslärm windet sich aus der Verantwortung, Ohrenpest zu sein, wird mitsamt dem Blechbefall von einem A-93-Tunnel bei Unterweißenbach geschluckt, aber leider nicht verdaut. Das wär’ ein Spaß: in der sauren Suppe blasblubbernd das chitinzersetzende Spektakel der Heliamorpha beklatschen zu dürfen. Der Sumpfkrug beginnt unweit des Selber Vorwerks am Vorderen Berg und taucht passend am Hinteren Berg wieder auf.
›Wo leise ich mich wenden kann, dort bin ich reich!‹
Willi bedauert nicht, in der Milch seiner Erinnerungen zu schwimmen, ganz kremig und zart, sieht dort zwar Muster, kann aber kaum etwas anfangen mit den Gestalten, die er in die Wolken kogniert. Oft sieht er Wolkentrickfilme, das wunderschöne Wort ›Wolkenpumpe‹. Als ob er nicht ausschließlich in sich selbst zum Leben käme, sitzt er da und öffnet die Schleusen für die Bilder und Worte, wobei ihm Bilder immer Worte sind, die Früchte belebten Lebens.