Brouillon

Zeitskala

Zerrissenheit ist ein etwas schäbiges Wort für gelebten Polyismus, aber gar nicht so sehr willentlich. Poesie ist eine Art völligen Denkens, gesättigt sozusagen an unendlich vielen Substanzen. Das Zukünftige, das ich zuerst schreibe, das Gegenwärtige, das ich danach schreibe und das Vergangene, das ich zum Schluss schreibe, kehrt die Zeitskala gar nicht so sehr um.

Poeme

Das Fräulein am Nichtstun (Auch: Zeit löffelt ein anderer)

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Sandsteinburg

Dort beim Hexenkraut

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Brouillon

Dass sich hinter meinem Rücken selbst viele Rätsel aufgestaut haben

Mir sind jene Geschichten lieb, in denen jemand nach seiner verlorenen Vergangenheit sucht. Herausgefunden habe ich diese Vorliebe für diese spezielle Form der Queste, als ich vor Jahrzehnten Tabucchis Indisches Nachstück las. Es war mir stets ein Ereignis, von einer melancholischen Vergesslichkeit zu träumen, die unmittelbar auf die Vergänglichkeit verweist.

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Bouquinist

Blutige Nachrichten / Stephen King

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Es kam in den letzten Jahren immer wieder vor, dass vor allem jene Fans, die Stephen King wegen seiner Horror-Element lieben, enttäuscht waren von dem, was er ihnen zu bieten hatte; nicht weniger als eine Perfektion seiner Prosa und eine meisterliche Beherrschtheit seiner Themen, die sich hauptsächlich um Sterblichkeit und Freundschaft drehen (während ein noch größeres Thema die Opferbereitschaft war und ist). Obwohl King schon immer ein außergewöhnlicher Autor war, legt er mittlerweile eine Perfektion an den Tag, die aus schierer Erfahrung resultiert. Stephen King beherrscht als Schriftsteller alles. Seine Romane können ausufern und mäandern, sie können kontrolliert sein, erschreckend, phantastisch, ungehobelt und fein gesponnen. Und wenige Romanciers beherrschen zudem noch die kurze Form, oder die Novelle. Nimmt man es genau, ist in „Blutige Nachrichten“ vom titelgebenden Kurzroman über die längere Erzählung bis zur Kurzgeschichte alles vertreten, und es ist nach Frühling, Sommer, Herbst und Tod und Four Past Midnight die dritte Sammlung, in der vier Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind.

Warum also sollten viele Fans davon enttäuscht sein? Weil sie oft genug vergessen, dass Kings Werk vermuten lässt, dass Freundlichkeit oder eine kurze Phase der Zufriedenheit an den schrecklichsten Orten zu finden ist. Viele seiner Erzählungen, gerade der älteren, sind schwarz bis auf die Knochen, oft gab es dort keine Illusion der Hoffnung, aber meistens interessiert sich King dann doch für die Warmherzigkeit und das Mitgefühl, die der Dunkelheit am Rande der Grauzone trotzen. Sein Werk hat einen sowohl warmen Charakter als auch eine beruhigende Vertrautheit, die das Grauen im Innern mildert. Und das hat sich über die Jahre nicht unbedingt verstärkt, aber noch präziser herauskristallisiert.

Jede der in „Blutige Nachrichten“ versammelten Geschichten ist für King-Leser eine Rückkehr auf bekanntes Gebiet, aber zum größten Teil sind sie mit einem solchen Charme geschrieben, dass das Altbekannte in seiner Aufrichtigkeit erfrischend wirkt. Und in der Tat ist Aufrichtigkeit ein Schlüsselelement dieser Geschichten.

Blutige Nachrichten

Die Titelgeschichte, in der Holly Gibney, die Privatdetektivin, die sich in der Bill-Hodges-Trilogie und in The Outsider vom einer Handlangerin zur Heldin entwickelt hat, erneut auftritt, ist die längste Geschichte der Sammlung.

Das erste Soloabenteuer von Holly wurde aus verschiedenen Gründen mit Spannung erwartet. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine direkte Fortsetzung von The Outsider, die geschilderten Ereignisse knüpfen jedoch direkt daran an. Hollys Detektei Finders Keepers konzentriert sich gewöhnlich auf entlaufene Hunde und Kautionsflüchtlinge, und das ist für Holly genau das richtige Umfeld, denn sie ist alles andere als eine Action-Heldin. Ihre Schrullen sind es, die sie zu einer so brillanten Figur machen, sensibel gezeichnet und realistisch durchdacht. Wie ihre Diagnose genau lautet, wissen wir nicht, nur so viel, dass sie höchst ängstlich ist. Mehr müssen wir aber auch nicht wissen, denn tatsächlich laufen die meisten Menschen, die an einer psychischen Grunderkrankung leiden, jahrelang undiagnostiziert durchs Leben, und wenn, sind die Diagnosen meistens falsch.

Häufig gehen die Neurosen oder Kämpfe der Menschen auf Ereignisse in ihrer Kindheit und auf die Beziehungen zu ihren Eltern zurück. King zeigt, dass er wie kein anderer weiß, was seine Aufgabe als Schriftsteller ist. Wir erhalten Einblicke in Hollys frühere Welt und erfahren mehr über die Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter, die ein Haupteinfluss für Hollys Problematiken ist. Die Figurenzeichnung ist präzise und emotional, und das ist ein Hauptmerkmal der ganzen Erzählung, die in der Tat kein Feuerwerk ist, sondern eher eine Vitrine, in der man einem Großmeister bei seiner Arbeit zusehen kann.

King beherrscht Komplexität gekonnt. Holly mag als eine verletzliche Figur erscheinen, als wäre sie aus Glas, aber die Tapferkeit und der Mut, den er ihr zugesteht, sind das, was die Dinge wirklich antreiben. Man will ihr die Hand reichen und sie beschützen, sie abschirmen; aber King schreit den Leser an: „Wagen Sie es nicht, sie ist die Heldin und beschützt Sie vor den Monstern“. Herauszufinden, ob es ihr gelingt, ist die ganze Freude bei der Lektüre dieser Geschichte.

Mr. Harrigans Telefon

„Mr. Harrigans Telefon“ verdankt den EC-Comics und den Twilight-Zone-Episoden, die der Autor immer wieder als seine frühen Inspirationen bezeichnet hat, offensichtlich sehr viel. Und wieder zeigt King, dass er auch Figuren in der ersten Person brillant zeichnen kann. Manchmal ist es so, als würde man einer Autobiographie folgen, so gut kennt er seine Charaktere, die man – und das wiederhole ich immer wieder – nirgendwo authentischer finden wird. Es ist nicht die einzige Geschichte mit einem gewissen Maß an Nostalgie (die nächste ist es nicht weniger), wenn der Meta-Kommentar darin enthalten ist, wie schnell sich die Dinge innerhalb von 15 Jahren verändert und entwickelt haben.

Die Hauptfigur, Craig, erzählt die Geschichte als Erwachsener. Die Wahl, die Geschichte in der jüngsten Vergangenheit anzusiedeln, zeigt, wie ernst King jeden Teil seines Handwerks nimmt. Wir denken, dass wir uns an ein, zwei Jahrzehnte spielend erinnern können, aber wenn es darum geht, die Tatsachen zu überprüfen, würden wir uns wahrscheinlich schwer tun. King bleibt relevant, weil er ein geschärftes Auge auf die Dinge wirft; diese Erzählung zeigt, dass er nicht so sehr ein Satiriker ist (für ihn steht die Geschichte immer an erster Stelle), sondern ein Mensch, der genug Veränderungen erlebt hat, um uns davon zu erzählen. Die Geschichte spielt in den frühen Jahren der mobilen Technik, hat aber eine so zeitlose Stimme, dass das mobile Telefon bereits ein unheimliches, anachronistisches Objekt zu sein scheint, noch bevor der überkandidelte Blödsinn, den wir heute haben, einsetzt.

Chucks Leben

Wenn „Mr. Harrigans Telefon“ an Kings frühe Romanen erinnert, dann ist „Chucks Leben“ eine angemessene Darstellung seiner späteren literarischen Experimente. Die Geschichte wird in drei verschiedenen Teilen erzählt, von denen jeder in einem anderen Genre angesiedelt ist, durch die King den Leser auf eine umgekehrte Tour durch Momente in Chucks Leben von der Schwelle zur Sterblichkeit zurück in seine Kindheit führt. Der erste Teil ist ein apokalyptischer Alptraum, der durch einen netten metaphysischen Trick mit Chucks bevorstehendem Tod verbunden ist, während der letzte Teil einen Blick auf seine Kindheit in einem einzigartigen Spukhaus wirft. Aber es ist der Mittelteil, der am hellsten strahlt, als ein Stück emotional getriebener, nostalgischer Charakterarbeit, die Art von Schreiben, die King am häufigsten dann gelingt, wenn er gerade außerhalb des Horror-Genres arbeitet.

Hier begegnen wir Chuck im frühen mittleren Alter, als sich sein Weg mit einer einsamen jungen Frau und einem Straßenmusiker kreuzt. Ihre kurze Begegnung ist nicht lebensverändernd oder gar besonders bedeutsam, aber es ist die Vergänglichkeit des Augenblicks, die der Vignette eine solche Schärfe verleiht. Die Regeln von Chucks Welt sind vorübergehend außer Kraft gesetzt, und die Geschichte bietet einen vorbehaltlos positiven Moment des menschlichen Engagements. King ist in der Lage, aus so kleinen Begebenheiten Freude zu zaubern, dass sich der Leser fragt, wie der Trick zustande kam.

Ratte

Und wenn das Schreiben eine Art Magie oder seltsame Alchemie ist, dann erforscht die letzte Geschichte in Kings Sammlung sowohl die hellen als auch die dunklen Hälften dieser Verzauberung. Die titelgebende Ratte sieht die Version des treuen (und wiederkehrenden) fiktiven Stellvertreter des Autors in einer Hütte im Wald für kurze Zeit sein Domizil errichten. Drew ist dort, um einen Roman zu schreiben, etwas, das ein erhebliches Risiko birgt, da frühere Versuche ihn fast in den Wahnsinn getrieben haben. Während anfangs alles gut läuft, ziehen bald (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne) Gewitterwolken auf. Ein unkluger Handschlag und die Anwesenheit einer seltsam gesprächigen Ratte verwandeln die Geschichte von der Angst eines Schriftstellers in ein faustisches Schnäppchen.

„Ratte“ ist Kings bester Versuch, den Druck und die Klaustrophobie des Schreibprozesses seit Misery (Sie) zu vermitteln. Wir spüren Drews Aufregung über das leere Blatt und die endlosen Möglichkeiten, die es bietet. Es ist eine Aufforderung zu den (kreativen) Waffen. Die ersten 30 Seiten lassen vielleicht Sehnsucht nach einer eigenen Hütte im Wald aufkommen, um frei von den Verpflichtungen eines normalen Lebens zu sein. King schreibt mit absoluter Klarheit über die schriftstellerische Frustration und vergleicht sie in einem denkwürdigen Bild mit Drews Sohn Brandon, der fast an einer Tomate erstickt: „So ähnlich ist es bei mir“, sagte er. „Nur dass es bei mir im Hirn steckt statt im Hals. Ich ersticke zwar nicht richtig, aber ich bekomme nicht genügend Luft. Deshalb muss ich das Ganze zu Ende bringen.“

Als Drew anfängt, „seine Worte zu verlieren“, und seine Möglichkeiten sowohl kreativ als auch in Bezug auf das Überleben eingeschränkt werden, verwandelt sich „Ratte“ in eine poetische Geschichte von Wahnsinn, Isolation und Besessenheit. Jeder, der jemals all seine Bemühungen in ein persönliches, kreatives Projekt gesteckt hat, wird Drews Perspektivenverlust erkennen, sobald der Roman damit beginnt, allumfassend zu werden.

Bouquinist

Die Augen der Heather Grace / David Pirie

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Wir sind nie in den Genuss der bemerkenswerten Krimis gekommen, die David Pirie anfangs der 2000 für die BBC produzierte. Die zweiteilige Geschichte „Murder Rooms: The Dark Beginnings of Sherlock Holmes“ wird auf der Insel zu den besten Präsentationen gezählt, die das Fernsehen auf diesem Sektor je geschaffen hat. Allerdings muss man dazusagen, dass es zu dieser Zeit die Sherlock-Serie noch nicht gab, die erst 2010 ausgestrahlt wurde.

Insgesamt sollte es die Serie, die an die frühen Hammer-Filme und den amerikanischen Film Noir der 1940er Jahre erinnert, auf sechs Filme bringen. Dass sie trotz des Erfolges eingestellt wurde, ist nach wie vor eines der großen Rätsel, hat aber wohl mit BBC-Interna zu tun. Sie kam viele Jahre zu früh und würde heute ganz anders behandelt werden.

Die Informationen, die Pirie für die Filme als auch für die Bücher verwendet hat, und die eine der Grundlagen für die Entwicklung der Figuren Holmes und Watson (hier Bell und Doyle) bilden, basieren zum Teil auf den Briefen und Schriften des Dr. Joseph Bell, der Doyles Lehrer und Mentor war, als der junge Autor als Medizinstudent an der Universität Edinburgh eingeschrieben war.

Dr. Joseph Bell wird die Geburtsstunde der forensischen Wissenschaft zugeschrieben, da er bei seiner Arbeit wissenschaftliche Beobachtungstechniken einsetzte und diesen Aspekt erstmals in die Verbrechensbekämpfung einbrachte.

Es wird berichtet, dass Dr. Bell an einer Reihe von kriminalpolizeilichen Ermittlungen beteiligt war, indem er der Polizei durch seine Beobachtungen Informationen über das Opfer eines Verbrechens, den Tatort und den möglichen Täter lieferte.

Einigen Berichten zufolge war er sogar an den Ermittlungen bei der Jagd nach Jack the Ripper im Jahr 1888 in London beteiligt. Gerüchten zufolge untersuchte Dr. Joseph Bell die Tatorte der Ripper-Morde und nutzte seine Beobachtungen, um den Namen eines Verdächtigen herauszufinden, der in einem Umschlag versiegelt wurde. Allerdings wurde über diesen Verdächtigen nichts weiter bekannt.

Es ist zwar seit etwa 1890 allgemein bekannt, dass Dr. Bell das Vorbild für Sherlock Holmes war, wobei gesagt werden muss, dass Joseph Bell eben nicht Sherlock Holmes ist. Einen ganz erheblichen Einfluss hatte nämlich Edgar Poe mit seinem Auguste Dupin, ohne den Doyle die Feder vermutlich gar nicht in die Hand genommen hätte.

Für die drei Romane, die den jungen Arzt Conan Doyle als Erzähler auftreten lassen, kann man als Sherlock-Holmes-Fan nicht dankbar genug sein. Es steht zwar zu vermuten, dass jene Leser, die ihren Fokus nicht so sehr auf dem Viktorianischen oder Holmes haben, nicht ganz so begeistert reagieren – vor allem, weil sie die zahlreichen Hinweise gar nicht genießen können -, aber dennoch ist das hier ein außerordentlicher Beitrag zum Genre, der n einigen Stellen ganz bewusst auch an die damals sehr beliebten Penny Dreadfuls erinnert, die auf den viktorianischen Geschmack des Makabren ausgerichtet waren, denn bei aller Etikette waren die Leser des vereinten Königreichs zu dieser Zeit sehr an der Sensation interessiert.

Dass die drei Bücher etwas stiefmütterlich behandelt wurden, liegt wohl gerade daran, dass man der Vermischung von Film und Literatur allgemein skeptisch gegenüber steht und das natürlich auch zurecht. Wenn ein Buch verfilmt wird, kann man wie selbstverständlich davon ausgehen, dass der Film hier den Kürzeren zieht, wenn aber ein Buch erst nach der filmischen Umsetzung geschrieben wird, wittert man – in den meisten Fällen völlig zurecht – ein absolut minderwertiges Produkt. Mit Piries Die Augen der Heather Grace haben wir es allerdings nicht mit einem Buch zum Film zu tun, sondern mit einem brillanten Krimidebüt, das zwar Elemente übernimmt, die auch in der Serie vorkommen, aber sich dennoch völlig davon unterscheidet. Das ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass Pirie in erster Linie ein Autor ist, der sich intensiv mit der Schauerliteratur als auch mit dem frühen Horror-Kino auseinandergesetzt hat.

Als Drehbuchautor hat sich Pirie einen Ruf für seine originellen Noir-Thriller, Klassikeradaptionen und zeitgenössischen Gothic-Stoffe erworben. Er wurde für seine Verfilmung des Romans „Die Frau in Weiß“ von Wilkie Collins hoch gelobt.

Der junge Dr. Doyle, der nach einem tragischen Verlust versucht, einen Neuanfang zu machen, verstrickt sich in die Angelegenheiten einer Patientin mit ungewöhnlichen Augen, Miss Heather Grace. Die künftige Erbin, die den Angriff eines Verrückten überlebt hat, der ihre Eltern ermordet hat, wird nun von einer alptraumhaften Gestalt terrorisiert, die ihr auf dem Weg zu und von ihrem neuen Zuhause folgt. Die Handlung leiht sich Elemente aus mehreren Holmes-Geschichten („Das gefleckte Band“, „Der einsame Radfahrer“ und „Wisteria Lodge“), die angeblich nur „fiktionalisierte“ Versionen des realen Rätsels sind, mit dem sich Bell und Doyle auseinandersetzen. Dass sich Doyle in seine Patientin verliebt, verkompliziert seine und Bells Ermittlungen in mehreren Mordfällen. Zu den Verdächtigen gehören der furchteinflößende Onkel der jungen Frau, der eine große Sammlung giftiger Kreaturen unterhält, ihr ewig lächelnder Verlobter und ein skrupelloser Arzt. Pirie versteht es meisterhaft, Spannung zu erzeugen, und einige Passagen sind wirklich schauerlich. Doyle, eine schmerzhaft menschliche und sympathische Figur, deren Schwächen die Handlung vorantreiben, und Bell, ein sehr glaubwürdiger Holmes-Ersatz, sind ihrem subtilen und gerissenen Antagonisten ebenbürtig. Die beunruhigende Auflösung ist ein perfektes Ende für diesen schwer fesselnden und atmosphärisch dichten Thriller.

Bouquinist

Das Meer kam um Mitternacht / Steve Erickson

Obwohl wir die Zeit als linearen Fluss nach vorne erleben, in dem eine unerbittliche Sekunde nach der anderen von der Uhr läuft, kennt unser Gedächtnis keine derartigen Einschränkungen. Die Literatur von Steve Erickson auch nicht. Vielleicht dringen seine Bücher deshalb derart in die Psyche ein, als ob sie sich von unten nach oben graben würden, anstatt vom Leser aus der Vogelperspektive gesehen zu werden. Das Lesen selbst ist ein Akt, der der Erfahrung des Erinnerns sehr nahe kommt, und wenn man einen Roman von Erickson liest, wird die Unterscheidung zwischen beidem vernachlässigbar. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen und führen durch eine Art Prosa-Wurmlöcher zueinander. Charaktere gleiten vor dem Leser her, verfolgen ihn, werden gar zu ihm selbst. Identität ist eine Sache des Augenblicks, und in der Erinnerung können Geschehnisse kunstvoll neu arrangiert werden. Und selten wurden sie so kunstvoll arrangiert wie in Steve Ericksons Das Meer kam um Mitternacht. Ericksons Labyrinth einer Geschichte ist zugleich schwungvoll, bewegend, und extrem suggestiv. Die eleganten Schleifen und Spiralen fesseln den Leser durch Erinnerungen, die so klar sind, dass sie aus einen unbelebten Teils des Lebens des Lesers selbst zu kommen scheinen.

Wie im Leben, so wird auch dieser Roman weniger gelesen als miterlebt. Kristin, die zuerst aus einem kleinen Inselstädtchen im Sacramento River Delta geflohen ist, begegnet auf ihrer Flucht einem Kult, der nur noch eine weitere Frau braucht, um am 31. Dezember 1999 um Mitternacht mit ganzen 2000 Personen von einer Klippe in den Tod zu springen. Sie entkommt jedoch und löst damit eine Kettenbreaktion aus, die den Roman über vierzig Jahre hinweg in der Zeit hin- und herbewegen lässt. In der muschalartigen Architektur des Romans findet der Leser Kristin versklavt von einem von der Apokalypse besessenen, aber ansonsten anonym bleibenden Mann, der sich in einem Vorort in Südkalifornien aufhält, einem Traum-Kartographen, einem Porno-Filmemacher und einem Arbeiter in einem rotierenden Erinnerungshotel in Tokio … wer nicht weiß, was das ist, wird Überraschendes hierüber und auch über Traumkapseln in Erfahrung bringen.

Erickson zieht den Leser gekonnt mit einer trotz der Komplexität des Themas verständlichen, transparenter Prosa in das Geschehen hinein, indem er mühelos Figuren erschafft, die lebendig sind: Kristin, Der Bewohner, Lulu Blue, Carl der Kartograph, um nur einige zu nennen – multiplizieren sich, verwischen die Grenzen, verschmelzen und dämmern aus einer rekursiven Chronologie herauf. Kristins Geschichte entfaltet sich Seite für Seite, überlagert und verzahnt sich mit anderen Figuren und anderen Geschichten. Ericksons mehrschichtige Herangehensweise an die Charakterbildung stellt sicher, dass der Leser eindrückliche Offenbarungen erlebt, während sich die komplexen Beziehungen langsam entfalten, um in einem Moment klar aufzuleuchten. Hat man den Roman beendet, bleiben diese Figuren mit ihren Details genauso in der Erinnerung haften wie jene Menschen, die man einst kannte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Ericksons komplexe Handlung selbst eine Figur in diesem Roman ist. Er verbindet die intensiven und persönlichen Momente mit gewaltigen Bewegungen, die aus einer Leinwand aus Raum und Zeit besteht.

Von Paris bis Japan, von den 1960er Jahren bis ins Kalifornien nach der Jahrtausendwende springt die Handlung großartig und mühelos von einem Höhepunkt zum anderen. Die wahre Freude an diesem Roman besteht dann auch darin, jedem einzelnen dieser Gipfel zu folgen, um herauszufinden, wo und wann Erickson seinen Fokus verlagern wird. Erickson operiert mit seinen Bruchstücken und Sprüngen auf der unangreifbaren Basis der Intuition, wodurch der Roman zwar einen improvisatorischen Charakter bekommt, aber eben von jener Art, die das Ergebnis zu einer perfekten Kunstform machen.

Bei aller Intensität und Improvisation, seiner Handlung und seiner eigenwilligen Chronologie ist Ericksons eigentliche Prosa trotzdem leichtfüßig und angenehm zu lesen. Er zeigt einen schön zurückhaltenden Sinn für Humor und eine Liebe zur Sprache, die sich in denkwürdigen Witzen und Phrasen äußert. Wenn der Leser sich dem Chaos hingibt und auf der Welle der Worte reitet, dann ist „Das Meer kam um Mitternacht“, das bei uns schon seit 2002 vorliegt, ein wilder und eindrucksvoller Ritt, ein Rausch von der ersten Seite an. Das Buch verdient es, in einem einzigen Zug gelesen zu werden.

Journal

Die alte Angst

H.P. Lovecraft schrieb einst den berühmten Satz:

„Das älteste und stärkste Gefühl der Menschheit ist Angst, und die älteste und stärkste Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.“

Ich bin weit davon entfernt, dem Propheten aus Providence zu widersprechen, will allerdings anmerken, dass die älteste Angst die Angst vor dem Tod ist. Das Unbekannte ist in der Regel nur beängstigend, wenn Sie der Meinung sind, es könnte Sie verletzten – oder Schlimmeres. Unsere prähistorischen Vorfahren ängstigten sich vor einem Geräusch in der Dunkelheit, weil sie, oft aus gutem Grund, fürchteten, die Ursache des Geräuschs könnte sie töten. Und diese Urangst hat uns nie verlassen. Es steckt fest verankert in unseren Köpfen als ein Mechanismus der Selbsterhaltung. Die Angst vor dem Tod hat uns überleben lassen. Und sie hört nicht auf, uns zu faszinieren.

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Hundertprosa

Montsegur (Prosa)

In dieser Nacht wird sie das Leben verlassen, es wird ihnen aus den Höhlen gerissen, die unter ihren Gärten lagen.
Der Teer des Harzbaumes, die Pechtröge der Hölle entsprangen hier. Aufgrund der wenigen Zeit, die den Verteidigern zur Verfügung stand, war es noch stark terpentinhaltig und somit dünnflüssig, auch ging das Brennholz zur Neige. Man schaffte bereits die Linnenkleidung heran, zunächst das, was man nicht am Leibe trug. Als aller Brennstoff verbraucht war, legte man schließlich Hand an sich und rieb, da man nun nackt zu kämpfen bereit war, die Muskeln aber in der Kälte nicht starr werden durften, den Körper mit dem nicht mehr wehrfähigen, bereits in den Gießpfannen angetrockneten Resten des Pechs ein. Auch deshalb ging das Gerücht durch die Jahrhunderte, die Mohren hätten den Heiligen Gral entführt. Wahr ist hingegen, daß er an diesem denkwürdigen Tag, dem 16. März 1244, das Castrum Montsegur verließ und nie mehr gefunden werden konnte. Sechs von pechschwarzer Gestalt wagten sich hinaus in die Mördergrube aus Piken, Schwertern, Rammböcken, den Katapulten der königlichen Armee, entkamen ungesehen, weil die Nacht sie als die ihren erkannte, ihnen anbot, von nun an Schatten zu sein, aber Schatten bleiben zu müssen. Tief ins Blut taucht ein Zahn, betrinkt sich, gerinnt Blut im Castrum Montsegur. Aus dem Burggraben kriecht ein schwarzes Reptil, nimmt die legendäre Schale für immer in seinen Magen, während die Katharer auf dem Feld des Vorgebirges brennen. Und die Sonne verdunkelt sich und auch die Nebel werden schwarz. Die Register der Orgelpfeifen werden später erfunden und später verstummen. Das Blut hat die Möglichkeit genutzt, sich mit dem edelsten der Metalle zu verbinden und ein neues Element sickert durchs Geröll, der Reptilienhain verschwindet geschützt vom Aschefall. Nur wenige Gewänder blähen sich auf und stoßen gegen den Wind. Kein Körper ziert die Nahten, die im Hitzewall zerschmelzen. Die Vortex-Reise hat begonnen.

Hundertprosa

Die Falter des Zwielichts

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Lumiere

Der wohltemperierte Gong

Zeit sei kein Ort, hörte ich es sagen; wohl wusste der Sprecher nicht, dass Zeit von Raum nicht zu trennen ist, und dass selbst Raumklang eine Verortung in der Seele erfährt. Seit heute ist ein weiterer Schritt im Projekt „Zurück in das Wahre und Gute“ getätigt (denn alles Gegenwärtige und Künftige ist mehr oder weniger eine Kloake).

Eine Kaminuhr des Uhrenherstellers Mauthe aus dem Schwarzwald, manifestiert in den 50er Jahren, gesellt sich nun zum Wesentlichen und bildet besagten Raumklang durch sein konstantes Schwingen und sein halb- und stündliches Schlagwerk.

Poeme

Vom Nichts; vom Henker

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Poeme

Das Muschelgewölbe

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Hundertprosa

Chac Mool

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Journal

Realität im Extremzustand

Meine Definition von Phantastik, mit der ich hantiere ist folgende: Phantastik ist Realität im Extremzustand. Glücklich bin ich mit dem Begriff der „Phantastik“ – so paradox es klingen mag, ein rein deutsches Unwort, das sich aber gut anhört, nicht. Das liegt nicht am Wort selbst, sondern an der – für mich – blödsinnigen Konstruktion, das Wort auf die drei Säulen „Horror“, „Science Fiction“ und „Fantasy“ zu stellen. Würden wir die Phantastik als ein Synonym der Spekulativen Literatur ausgeben, hätte ich allerdings gar keine Einwände. Denn dann würden wir die „drei Säulen“ um den „Magischen Realismus“, die „Alternative Geschichtsschreibung“ und die „wissenschaftliche Fantasy“ erweitern können. Weitere völlig unklare Begriffe, versteht sich. Aber „Horror“ und „Science Fiction“ gehören für mich nur bedingt zu unserer Vorstellung von Phantastik.

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