Ein Mann mit durchtrennter Kehle wird in seinem Haus in einem geschlossenen Viertel (Barrio Cerrado) in Buenos Aires von seiner Haushälterin aufgefunden. Hat er Selbstmord begangen? Wurde er getötet? Und wenn ja, warum? Hat sein Tod etwas mit dem Mord an seiner Frau drei Jahre zuvor zu tun? Das sind die Rätsel, denen Claudia Piñeiro in ihrem Roman Betibú auf den Grund geht. Eine Geschichte, in der sich Realität und Fiktion, Journalismus und Literatur überschneiden.

Zwar ist Piñeiro eine gefeierte argentinische Autorin, aber in ihrer Popularität stieg sich noch einmal besonders an, als sie eine Aussage zur Netflix-Dokumentation Carmel über den Tod von Marta García Belsunce machte. Sie sagte, dass ein privates Viertel ein guter Schauplatz für einen Krimi ist, weil es die klassische Trope des „locked room“ in ähnlicher Weise wiederholt: Jemand stirbt in einem verschlossenen Zimmer und der Verdächtige gehört zum engen Kreis des Opfers.
Zur Erinnerung:
María Marta García Belsunce war eine argentinische Soziologin, die am 27. Oktober 2002 tot in ihrem Haus im Carmel Country Club, einer geschlossenen Wohnanlage in Pilar, Buenos Aires, aufgefunden wurde. Zunächst wurde ihr Tod als Unfall eingestuft, da man annahm, sie sei in der Badewanne ausgerutscht und gestürzt. Eine spätere Autopsie offenbarte jedoch, dass die durch fünf Schüsse in den Kopf ermordet wurde.
Der Fall sorgte in Argentinien für großes mediales Aufsehen und führte zu mehreren Gerichtsverfahren. Ihr Ehemann, Carlos Carrascosa, wurde zunächst des Mordes schuldig gesprochen, später jedoch wieder freigesprochen. Im Jahr 2022 stand ihr ehemaliger Nachbar, Nicolás Pachelo, vor Gericht, wurde aber ebenfalls freigesprochen. Bis heute bleibt der wahre Täter unbekannt.
Dieser Mord war also eine der Ausgangsideen für Betibú. Eine Frau wurde tot in einem Landhaus aufgefunden. Zunächst wurde es als Unfall abgetan, doch es handelte sich zweifellos um einen Mord. Der Fall schockierte auch im Roman die Gesellschaft und wurde monatelang fast ausschließlich in den Medien behandelt. Jahre vergingen, und die Justiz fand den Schuldigen nie. Die meisten Menschen glauben, dass der Mörder ihr Ehemann war. Pedro Chazarreta in der Fiktion, Carlos Carrascosa im oben geschilderten Fall. Der Roman beginnt mit Chazarretas Tod.
Betibú ist der Spitzname der Protagonistin. Nurit Iscar, eine Bestseller-Krimiautorin, ist in doppelter Hinsicht frustriert: von ihrem ersten Liebesroman – einem Flopp – und von der Beziehung, die ihn inspiriert hat. In den Fünfzigern ließ sie sich vom Vater ihrer Kinder scheiden und setzte auf ihre große Liebe, Lorenzo Rinaldi, den Herausgeber eines der beiden wichtigsten Printmedien des Landes. Doch er machte nur leere Versprechungen und verließ seine Frau nie.
Ihr Spitzname ist das argentinische Wort für Betty Boob, eine der bekanntesten Cartoonfiguren der 1930er Jahre. Sie war eine der ersten weiblichen Animationsikonen und tauchte erstmals in den 130er Jahren als anthropomorphe Pudeldame auf, die sich aber schnell zu einer menschlichen Figur mit schwarzen Locken, einem markanten Flapper-Stil und einem frechen Charme entwickelte. Und Nurit sieht dieser Figur also ähnlich. In diesen unzähligen kleinen Geschichten, die sich in diesem Roman zusammenfinden wie mehrere kleine Bäche sich zu einem Hauptstrom vereinen, wird auch erzählt, wie sich Betty Boob auf Nurit Iscar anwenden ließ. Ohnehin sind hier viele Popkulturelle Verweise zu finden, und natürlich wird auch Julio Cortázar erwähnt.

Die andere Hauptfigur ist Jaime Brena, Polizeireporter von Beruf, der über den Mordfall an Chazarretas Frau berichtet hatte. Auch er ist gleich doppelt frustriert. Zum einen wegen einer Trennung, zum anderen, weil er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Lorenzo aus seinem lebenslangen Resort verbannt und böswillig in den Gesellschaftsteil versetzt wurde, obwohl jeder weiß, dass er die beste Polizeireporter des ganzen Landes ist. Lorenzo Rinaldi verkörpert den Kapitalismus, den Ehrgeiz, die Gewinnmaximierung für das Unternehmen, wie wir es überall beobachten können: langjährige Mitarbeiter werden entlassen und durch billige Arbeitskräfte ersetzt. Natürlich steht dieser Typ auch für das Zeitalter des Postmodernismus, den Hedonismus, die ständige Suche nach dem unmittelbaren Vergnügen, die Oberflächlichkeit.
Es gibt zwei Hauptschauplätze: das private Viertel La Maravillosa und die Redaktion der Zeitung El Tribuno. In Maravillosa schwingt die wirtschaftliche Ungleichheit mit, und in der Redaktion werden die Unterschiede zwischen den Generationen hervorgehoben. Das Verbrechen spielt sich im privaten Viertel ab. ab. Paradoxerweise zieht sich eine kleine Gruppe wirtschaftlich privilegierter Menschen hier in ein Paradies aus Natur und Entspannung zurück, um sich vor der Unsicherheit in den Großstädten der Dritten Welt zu schützen. Niemand kann sich vorstellen, dass die Gefahr von innen kommen könnte. Die Oberschicht von Buenos Aires, die Herren und Meister dieser Ländereien innerhalb der Mauer, und das Personal, das sie für Hausarbeit und Freizeitgestaltung brauchen: Dienstmädchen, Gärtner, Hausmeister, Tennis- und Golflehrer usw., leben dort zusammen. Die Grundbesitzer setzen ihre Regeln durch, um ihre materiellen Güter zu schützen, sogar über die Gesetze des Staates hinaus. Nurit, die keiner dieser beiden Schichten angehört, beobachtet und rügt diese eingebürgerten Verhaltensweisen in diesem Stadtviertel.
Dazu muss man wissen, dass diese sogenannten Countrys in Buenos Aires sich hauptsächlich in der Peripherie der Stadt, insbesondere in den nördlichen Vororten wie Pilar, Escobar und Tigre befinden und bereits in den 1940er Jahren nach US-amerikanischem Vorbild gebaut wurden. Zunächst wurden sie als Wochenendresidenzen für wohlhabende Stadtbewohner genutzt, aber als in den 1990ern die Kriminalität in Buenos Aires zunahm, entschieden sich viele obere Mittelschichtsfamilien, dauerhaft in diese geschlossenen Siedlungen zu ziehen.
In der Redaktion von El Tribuno hingegen arbeiten der Journalist von gestern mit Stift und Papier und die neuen akademischen Journalisten des digitalen Zeitalters, deren Hauptinformationsquelle Google ist, Seite an Seite. Die gegensätzlichen Gewohnheiten der Babyboomer und der Millennials treffen in diesem Raum aufeinander und werden durch Jaime Brena und „den Neuen“ repräsentiert. Gleichzeitig wird die Zeitung von ihrer unternehmerischen Seite gezeigt, wo Entscheidungen auf der Grundlage wirtschaftlicher Ziele getroffen werden.
Der „Neue“, der von fast jedem nur „Junge“ genannt wird, ist zwar jetzt für die Polizeidokumentation zuständig, aber da Brena sein Leben diesem Bereich gewidmet hat, verfügt er über wichtige Kontakte: hochrangige Polizeibeamte, Staatsanwälte und Kenntnisse der Gerichtsmedizin, also beschließt er, seinem Nachfolger zu helfen. Brena gibt Tipps aus der Praxis, unter anderem, wie man Belletristik liest, und vor allem, was man lesen soll.
Nurit hingegen wird ihre Erfahrungen als Schriftstellerin nutzen, um ihre Intuitionen und Erkenntnisse festzuhalten und sie mit den Lesern von El Tribuno zu teilen. Eine Non-Fiction-Geschichte in der Art, wie es Truman Capote mit „Kaltblütig“ machte. Sie trifft sich auch mit ihren Freundinnen und diskutiert über das Leben, die Liebe, das Vergehen der Zeit und kulturelle Ausdrucksformen wie Theater, Kino und Bücher.
Ausgehend vom Mord an Chazarretas Frau reflektieren sie über die große Zahl unaufgeklärter Verbrechen an Frauen, die sich im kollektiven Gedächtnis Argentiniens angesammelt haben. Norma Mirta Penjerek, Oriel Briant, Dr. Giubileo, María Soledad Morales, María Marta García Belsunce und viele andere. Der Roman bekräftigt, dass es keine unaufgeklärten Verbrechen an Männern, keine unaufgeklärten Morde an Männern gibt. Und auch wenn das nicht ganz richtig ist, fußt die Tendenz dennoch auf einer bitteren Wahrheit.
Die Morde im Roman gehen weiter und die Figuren entdecken, was hinter all diesen Todesfällen steckt. Im Laufe der Geschichte finden sie die Antworten auf die Frage, wer es getan hat und warum. Der erste Mord (an Chazarretas Frau), bleibt wie in der Realität: unaufgeklärt. Die anderen werden zwar aufgeklärt, aber der Roman zeigt uns das große Ganze, die Opfer, die Täter und, was uns die Realität immer verwehren wird: die wirklichen Ursachen.
Claudia Piñeiro setzt durch ihre Figuren – die Schriftstellerin und die Journalisten – das Puzzle zusammen. Sie verwendet Teile, die wir leider jeden Tag in den Medien sehen, aber sie zeigt uns auch die Dinge, die von Geld und Machtmonstern gekauft und später vertuscht werden, um jeglicher Strafe zu entgehen. Die Erzählung erfolgt in der dritten Person und mit Zugang zu den Gedanken der Hauptfiguren. Alle Charaktere, auch die Nebenfiguren, sind leicht zu erkennen, obwohl sie erzählerisch ineinandergleiten, so dass sie in einem Atemzug dargestellt werden. Auch die Beschreibung der Schauplätze ist präzise. Betibú wurde 2014, vier Jahre nach seinem Erscheinen, verfilmt. Ist aber nie bei uns erschienen und hat noch nicht einmal einen deutschen Untertitel, was natürlich Bände spricht.
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