Possenspiele

Kategorie: Popkultur & Ikonen (Seite 1 von 24)

(Filme, Serien, berühmte Figuren, Comics)

Sherlock Holmes (Das erste Fandom der Geschichte)

Sherlock Holmes ist neben Dracula die am häufigsten adaptierte und inszenierte Kunstfigur der Popkultur. Dass der Detektiv weltweit bekannt ist, liegt jedoch nicht an den genialen Originalgeschichten, sondern an den unzähligen Filmen, Theaterstücken, Musicals und Comics. Fast alle Symbole und Phrasen, die aus den vielen Fernseh-, Film-, Theater- und anderen grafischen Reproduktionen stammen und heute scheinbar zum Kanon gehören – wie etwa der Deerstalker-Hut – kommen in den Texten überhaupt nicht vor. Doch während diese mit der Mode gehen, scheinen die Originalgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle, die immer wieder adaptiert werden, wie nichts zuvor oder danach in unserem kollektiven Bewusstsein verankert zu sein.

Der Reichenbach-Schock

Sherlock Holmes

Im Jahr 1893 ließ der Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle den Detektiv Sherlock Holmes von einer Klippe stürzen. Die Klippe liegt in der Schweiz. Darunter rauschen die berühmten Reichenbachfälle. Aber Conan Doyle war gar nicht vor Ort, er erledigte die Drecksarbeit von seinem Londoner Haus aus, wo er schrieb.

„Mit schwerem Herzen nehme ich die Feder in die Hand, um diese letzten Worte zu schreiben, mit denen ich die einzigartigen Gaben festhalten werde, mit denen mein Freund Sherlock Holmes gesegnet wurde“,

sagt der Erzähler Dr. John Watson in Conan Doyles Geschichte Das letzte Problem, die im Dezember 1893 im Magazin “The Strand” erschien.

Conan Doyle selbst war etwas weniger emotional. “Ich habe Holmes getötet”, schrieb er in sein Tagebuch. Man kann sich Conan Doyle vorstellen, wie sein glattes Haar im Kerzenschein schimmert, wie er seinen üppigen Schnurrbart vor Vergnügen zwirbelt. Später sagte er über seine berühmte Figur: „Ich hatte eine solche Überdosis von ihm, dass ich mich bei ihm fühlte wie bei einer Leberpastete, von der ich einmal zu viel gegessen hatte, so dass mir allein bei seinem Namen noch heute übel wird.

Conan Doyle mag damals geglaubt haben, sich seiner Figur entledigt zu haben, doch er unterschätzte die Fans. Die öffentliche Reaktion auf Holmes’ Tod war anders als alles, was die Welt der Fiktion zuvor erlebt hatte. Mehr als 20.000 Strand-Leser kündigten aus Empörung über Holmes’ frühen Tod ihr Abonnement. Das Magazin überlebte kaum. Selbst die Mitarbeiter bezeichneten Holmes’ Tod als “absolut schreckliches Ereignis”.

Der Legende nach trugen junge Männer in ganz London schwarzen Trauerflor. Leser schrieben wütende Briefe an die Redaktion, Clubs wurden gegründet, um Holmes’ Leben zu retten.

Das erste Fandom

Und Conan Doyle war schockiert über das Verhalten der Fans. So etwas hatte es noch nie gegeben. (Damals nannte man sie noch nicht einmal “Fans”. Der Begriff – eine Kurzform für “Fanatiker” – wurde erst in jüngerer Zeit für die amerikanischen Baseball-Fans verwendet). In der Regel akzeptierten die Leser, was in ihren Büchern geschah. Jetzt begannen sie, ihre Lektüre persönlich zu nehmen, und erwarteten, dass ihre Lieblingswerke bestimmte Erwartungen erfüllten.

Sherlock Holmes

Die begeisterten Leser von Sherlock Holmes haben das moderne Fandom ins Leben gerufen. Interessanterweise hält die große Fangemeinde von Holmes bis heute an und hat zu unzähligen Innovationen geführt, wie z. B. der US-Serie Elementary und der BBC-Serie Sherlock. (Es sei darauf hingewiesen, dass das berühmte Zitat “Elementar, mein lieber Watson!”, nach dem die Serie Elementary benannt ist, in den Originaltexten gar nicht vorkommt.)

1887 erschien der erste Roman mit dem Detektiv: Eine Studie in Scharlachrot. Von Anfang an war er so populär, dass Conan Doyle schon bald bereute, ihn überhaupt geschaffen zu haben. Denn diese Geschichten stellten alles in den Schatten, was Doyle für sein “ernsthaftes Werk” hielt, etwa seine historischen Romane.

An den Erscheinungstagen standen die Leser an den Kiosken Schlange, sobald eine neue Holmes-Geschichte in The Strand erschien. Dank Holmes war Conan Doyle, wie ein Historiker schrieb, “so bekannt wie Königin Victoria”.

Sherlock Holmes

Die Nachfrage nach Holmes-Geschichten schien endlos. Doch obwohl The Strand Conan Doyle für seine Geschichten gut bezahlte, hatte dieser nicht vor, den Rest seines Lebens mit Sherlock Holmes zu verbringen. Mit 34 Jahren hatte er genug. Er ließ Professor Moriarty Holmes die Wasserfälle hinunterstoßen. Acht lange Jahre hielt Conan Doyle dem Druck stand, doch mit der Zeit wurde der so groß, dass er 1901 eine neue Geschichte schrieb: Der Hund von Baskerville. Doch an diesem Fall arbeitete Holmes schon vor seinem verhängnisvollen Absturz. Erst 1903, in Das leere Haus, ließ er Sherlock Holmes wieder auferstehen, indem er behauptete, nur Moriarty sei in jenem Herbst gestorben, während Holmes seinen Tod nur vorgetäuscht habe. Die Fans waren zufrieden.

Sherlock – Ein Leben nach dem Tode

Aber seitdem sind die Fans noch viel obsessiver geworden. Der einzige Unterschied zu damals ist, dass wir uns an ein starkes Fandom gewöhnt haben. Die BBC-Serie Sherlock, die von 2010 bis 2017 in 180 Ländern ausgestrahlt wurde, hat zu dieser Leidenschaft beigetragen. Darin spielt Benedict Cumberbatch in einer atemberaubenden Performance den modernen, aber besten Holmes, den man je gesehen hat, begleitet von Martin Freeman als Watson. Seitdem pilgern unvorstellbare Menschenmassen in die von Holmes und Watson bevorzugten Londoner Sandwichläden oder in Speedy’s Café.

Während der Produktion der Serie kam es sogar zu Problemen, weil sich Tausende Fans am Set tummelten, die dann in die Baker Street weiter zogen, die in Wirklichkeit die Gower Street ist.

Bemerkenswert ist, dass sich die Fans von Sherlock Holmes seit mehr als 120 Jahren intensiv mit dem fiktiven Detektiv beschäftigen, unabhängig davon, in welches Medium er übertragen wurde (es dürfte kein einziges fehlen).

Holmes und Watson
Holmes und Watson

Mark Gatiss, Miterfinder der Sherlock-Serie, hat darauf hingewiesen, dass Holmes einer der ersten fiktiven Detektive war – die meisten anderen, die später geschaffen wurden, waren Kopien oder eine direkte Reaktion auf ihn:

„Alles in allem ziehen die Leute eine Linie unter Sherlock und Watson. Agatha Christie kann ihren Poirot nur klein und rundlich machen – im Gegensatz zu groß und schlank. Er braucht auch einen Watson, also erfindet sie Captain Hastings. Wenn man sich umschaut, ist es immer das gleiche Modell. Es ist unverwüstlich.“

 Nun, selbst Sherlock Holmes hatte einen Vorgänger, und der stammt aus der Feder von Edgar Allan Poe. Dessen Auguste Dupin trat erstmals 1841 in der Erzählung Der Doppelmord in der Rue Morgue und dann in zwei weiteren Erzählungen auf. Conan Doyle hat ihm Referenz erwiesen, indem er ihn in Eine Studie in Scharlachrot auftreten lässt. Dass er sich bei Poe bediente, bedeutet aber nicht, dass sich Sherlock Holmes nicht in eine völlig eigene Richtung entwickelte. Hier wurde der Detektiv in eine definitive Form gegossen.

Sherlock-Mitgestalter Steven Moffat sollte nun das Schlusswort haben:

„Sherlock Holmes ist ein Genie, deshalb ist er ein bisschen seltsam. Ich weiß nicht, wie oft das im wirklichen Leben vorkommt, aber in der Fiktion kommt es doch oft vor. Und das haben wir Sherlock zu verdanken.“

Das geheimnisvolle Mondgesicht

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London After Midnight

Lon Chaney war nicht nur ein Schauspieler, sondern auch ein Meister des Make-up. Er revolutionierte dessen Verwendung im Film, indem er komplizierte und transformative Looks kreierte, die es ihm ermöglichten, eine breite Palette von grotesken Charakteren darzustellen, vor allem in Filmen wie Der Glöckner von Notre Dame, Das Phantom der Oper und Die unheiligen Drei. Sein Koffer, gefüllt mit Schminke, Werkzeugen und Schnüren, wurde legendär.

Lon Chaney
Lon Chaney in London After Midnight

In London After Midnight schlüpfte Chaney gleich in mehrere Rollen; in einem Stummfilm aus dem Jahr 1927, geschrieben und inszeniert von Tod Browning, mit Lon Chaney in der Hauptrolle. Die Geschichte handelt von Inspektor Edward Burke (gespielt von Chaney), der in London den Mord an Sir Roger Balfour untersucht. Nachdem er einen Abschiedsbrief gefunden hat, wird der Fall zu den Akten gelegt und scheint vergessen zu sein, doch fünf Jahre später wird Balfours Haus von einem Mann mit Biberfellmütze, dunklen, eingefallenen Augen und Reißzähnen wieder bewohnt. Die Leute fragen sich, ob es sich dabei um den von den Toten auferstandenen Balfour handelt, aber in Wirklichkeit ist es Inspektor Burke selbst, der sich verkleidet hat, um den Mörder zu fassen.

Der Film zeigt einen der besten Make-up-Looks von Lon Chaney, mit einem Mund voller Haifischzähne und Drähten, die seinen Augen einen hypnotischen, aber versunkenen Blick verleihen.

Die wahre Macht des Films wird wohl ein Rätsel bleiben, denn die letzte bekannte Kopie wurde 1967 bei einem Brand in den Metro-Goldwyn-Mayer-Gewölben zerstört. Doch eine aus Fotografien rekonstruierte Fassung ist noch zu sehen. Einer der Gründe für ein Wiederaufkeimen des Interesses an diesem Films ist auch, dass Chaney die Rolle des Dracula in dem Film von 1931 spielen sollte, aber vor Beginn der Dreharbeiten starb und Bela Lugosi dadurch seinen großen Auftritt bekam.

Die ersten Jahrzehnte des Kinos waren im Wesentlichen der Wilde Westen. Es war eine Zeit des Experimentierens und wenig bis gar keiner Reglementierung, die Filmfans bis heute fasziniert – vor allem, wenn man bedenkt, wie viele dieser frühen Stummfilme durch Vernachlässigung oder Feuer verloren gegangen sind. Der Horror-Mystery-Film galt schon bei seiner Veröffentlichung als umstritten. Berühmt wurde der Film jedoch durch einen Mord im Jahr 1928, bei dem der Mörder behauptete, er habe Visionen von Lon Chaneys Figur gesehen, die ihm angeblich befohlen habe, eine Frau mit einem Rasiermesser zu zerstückeln. Dieser Mord sorgte für Schlagzeilen und trug zum düsteren Charme des Films bei. War in London After Midnight eine böse Macht am Werk? War es ein verfluchter Film oder nur eine bequeme Ausrede für einen geistesgestörten Verbrecher?

Am 23. Oktober 1928 wurde im Londoner Hyde Park ein blutbesudelter, verwirrter Mann namens Robert Williams gefunden. Neben ihm lag ein blutverschmiertes Rasiermesser und der leblose Körper einer Frau, Julia Mangan. Als die Polizei eintraf, zeigte Williams auf Mangan und schrie: „Ich war’s, sie hat mich geärgert.“ Williams wurde verhaftet und später im Old Bailey vor Gericht gestellt. Er behauptete, er und Mangan seien Freunde gewesen und er habe sie heiraten wollen, aber sie habe abgelehnt. Williams sagte, das Letzte, woran er sich in jener Nacht erinnere, sei, dass er Mangan pfeifen hörte:

„Dann fühlte ich mich, als würde mein Kopf explodieren, als käme Dampf aus beiden Seiten. Alles Mögliche ging mir durch den Kopf. Ich dachte, ein Mann hätte mich in die Enge getrieben und schnitt Grimassen. Er drohte mir und schrie mich an, und sagte mir, was ich tun sollte!“

Wer war dieser Mann? Kein anderer als der Schauspieler Lon Chaney, den Williams kürzlich in London After Midnight gesehen hatte. Williams behauptete, Chaneys unheimlicher Charakter habe irgendwie von ihm Besitz ergriffen und ihn zum Mord getrieben. Die Geschworenen konnten kein Urteil fällen, aber in einem Wiederaufnahmeverfahren 1929 wurde Williams für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Im letzten Moment wurde er jedoch dazu verurteilt, den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt zu verbringen.

Schon vor dem Mord von 1928 erregte London After Midnight Aufsehen. Denn darin ging es auch um Selbstmord, ein Thema, das in der höheren Gesellschaft im Allgemeinen nicht erwähnt wurde. Nachdem Williams sein Verbrechen begangen hatte, wurde der Film mit unaussprechlicher Gewalt assoziiert.

London After Midnight war dann auch nicht gerade ein Kritikerliebling. Es wurde bemängelt, dass die Zusammenarbeit zwischen Lon Chaney und Regisseur Tod Browning nicht ihre beste war. Außerdem ergebe die Handlung einfach keinen Sinn. Warum sollten schaurige Freaks plötzlich ein Haus bewohnen, in dem ein Mann ermordet worden war? Das Kinopublikum war, wie so oft, ganz anderer Meinung als die Kritiker. Der Film spielte fast 1 Million Dollar an den Kinokassen ein, eine beeindruckende Zahl für die damalige Zeit. Es war der erfolgreichste gemeinsame Film von Chaney und Browning.

Aus der Stummfilmzeit sind nicht viele Filme erhalten; die Library of Congress schätzt, dass nur 14 % dieser Filme in ihrem Originalformat erhalten sind. Ein Teil davon ist auf die Praktiken der Studios zurückzuführen, die die Filme nach ihrem kurzen Kinostart oft zerstörten. Und dann gab es da noch die unglücklichen Unfälle – Zelluloid ist leicht entflammbar, und Brände vernichteten häufig die gelagerten Filmrollen. So auch das Schicksal von London After Midnight. Die Popularität von London After Midnight stieg noch weiter an und wird heute von einigen als der „Heilige Gral“ der verlorenen Filme angesehen.

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