Das Lorebuch

Jemand trat aus der Wand, und ihm war es nicht anzusehen. Wäre es
nicht möglich, dass die Lichtfelder, die uns beständig umkreisen,
aus den Schalen kleiner Flusskrebse gewonnen werden? Das Inventar
wird zu jeder vollen Stunde geflutet, die verstreuten Symbole
nehmen wir beim Verlassen des Raumes vorsorglich mit uns, der Eintritt
in den Tag ist frei; das Geländer entlang, aufrecht in Etappen –
wenn du auf das Wasser deutest, beruhigt sich nicht nur das Bild
von all den eingezäunten Stränden, auch die Hiebe
gegen den Türstock werden leiser, denn jetzt kann man
durch alle Hindernisse schreiten, für den heimlichen
Besuch haben wir nur Wein eingekauft.

Für wen sind all die Gruben nützlich, von schwarzgrauen Blumen
berankt an der Südseite einer Schneise hangend, barfüßige Gräfinnen
zogen dort ihre nimmermüden Kreise, Ausschau haltend nach den Dingen,
die vom Tal zu ihnen hinaufwehten und in einem Korbgeflecht gesammelt
an die hiesigen Gräser verfüttert werden konnten, solange
die Schlappen im Gartenhaus an der Grenze zum Nichtmehrsein verblieben.
Andersherum wäre das Ärgernis verströmter Nächte untragbar geworden.
Die Lüfte eigneten sich kaum dazu, mit ihnen eine Unterhaltung zu beginnen,
eingesackt und versunken änderten sie ihre Lebensansichten
mit einer Unvorhersehbarkeit und einem Takt, der nicht zu tanzen war.

Wie immer auch die Giraffe in den siebten Stock befördert wurde,
konnten wir nicht erkennen. Von außen erschien das Gebäude wie
aus Regen gezimmert und mit Schiffsplanken verblendet, was allerdings
später geschehen sein musste. Die Zeitfolge versprach uns
eine Beobachtung sonderer Güte, doch als wir ankamen, stolzierten bereits
behütete kleine Zauberer auf dem Boulevard und kein Geld dieser Welt
hätte ausgereicht, die prachtvolle Straße zu überqueren. Die Aussichtspunkte
wurden bewacht von hohen Tonnen, bewaffnet mit je einem Arm
aus der Werkstätte des großen Doktor Faust. Hinter den Türen
standen Mäuse, die sich im Vogelsang übten, und unsere Ohren waren
nicht vorbereitet auf das Gezeter dieser anscheinend so filigranen Entourage.

Die Aufzählung einiger Banalitäten versandete, während
der Druck der imaginierten Leitungen dem ein oder anderen zu Kopf stieg.
Sorglosigkeit hatte es sich mit weiten Ärmeln bequem gemacht
und nur die Verschwiegenheit der Wolken gewährleistete eine Ansicht von oben. Dennoch trieben die Baumstämme in diesem abgenagten Fluss
und erkletterten das Land, sobald man sie brauchte, um einen neuen Wald zu geben.

Es war kein weiteres Gedeck nötig, denn sie wussten, was alle wussten:
Der Tagtraum zog nach Norden, von wo er einst gekommen war. Man erzählte sich, dass der große Abgrund mit seinen erhabenen Metaphern
nicht mehr so schön anzusehen war wie in ihren Kindertagen; eine Vermutung,
die den Anwesenden viel Leid ersparte, aber nicht,
wenn man alles wissen wollte und dazu bereit war, all das zu erwähnen.

Die Lebkuchen gaben ihre angestammte Position auf, verließen
die senkrechte Seite des Hauses und kullerten auf den Steg, an dem
die unförmigen Objekte festgetaut auf Nachzügler warteten. Sollte
der Zeitpunkt gekommen sein, würden sie erneut hier stehen und
Ausschau halten nach dem Glück, einst heimisch in ihren ausgelaugten
Taschen. Es gab ein Gesetz, das Wanderschaft verbot, und wer sich daran
hielt, bekam statt welker Blumen eine neue Disziplin zugeteilt. Die
Körper wurden straff durch fein gemahlenen Marmor, die Rezepte standen
in hölzernen Lettern unter den Dielen, graviert mit ungehöriger Tiefe;
oft fing sich das Wasser darin und versuchte,
noch vor dem Morgengrauen zu entkommen.

Von der Geschichte geht der originelle Trick aus, so zu tun,
als wäre sie nicht das Paradebeispiel des Fiktiven; als Zeuge
ist sie vielleicht hinfällig, ihr Argument liegt jedoch darin,
überall dort aufzutauchen, wo man Doughnuts im Zehnerpack für einige
wenige Groschen ergattern kann. Die Fahrt dorthin wird unterbrochen
durch sanfte Flugangst, die sich mit musikalischer Unterstützung
steigern lässt. Wer die Erfindung der Momente einfriert, wird
wissen, wohin er sich zu wenden hat, wenn das angereicherte
Material zur Debatte steht. Mit einem Verrat kann immer dann
gerechnet werden, wenn sich die Summe aus wenigen Teilen
zusammensetzt, die sich in Nähkästchen verstecken lassen.

Beim Gehen verlor sie einen Schuh, der sich silber glitzernd
von ihrem Fußschiff löste und augenblicklich erhob, um auf
ein gesprenkeltes Hausdach zu schweben. Obwohl ihr Gang jetzt
etwas läppischer war als zuvor, erreichte sie die anvisierte
Kreuzung noch vor der Zeit, die ihr zur Verfügung stand, drehte
sich mehrmals im Kreis und löste sich dann in ihre Bestandteile auf.
Aus geöffneten Fenstern entwichen die Gerüche einiger Kochkünste
und versammelten sich an Ort und Stelle. Der Tumult hatte längst
auch die geheimen Nischen erreicht, ob sie nun überdacht waren oder
nicht. Das Pulver, das daraus entstand, genügte den hier lebenden
Nasen für ein weiteres Jahr ihrer Effizienz. Ihrer Beschleunigung
war es zu verdanken, dass die Kassen gefüllt und das Trapez
mit dicken Schnüren gespannt blieb.

Die Art und Weise wie eine Wand zurückstarrt, sollte in nocturnen
Untersuchungen festgehalten werden. Zunächst mag die Freude
ungetrübt sein, die Wand vor unliebsamen Zusammenkünften schützen;
man gibt sich eifersüchtig, wenn sie sich ihren freien Tag nimmt,
um einmal in der Woche den Tango der Argentinier einzustudieren.
Doch dann beginnt das Unwohlsein wie ein verkannter Spruch tief in
den Eingeweiden zu rumoren. Man möchte sich erheben und einen
Schürhaken schwingen, um der peinlichen Stille gebührend zu begegnen.
Was man dann jedoch zustande bringt, ist kein nennenswerter
Gesichtsausdruck, kein plötzliches Schluchzen oder Innehalten, man
marschiert im Zimmer auf und ab und wirft verstohlene Blicke zur Vitrine.

Wer die Gefahr kommen sieht, kann durchaus noch die Hand ausstrecken,
um das Seil, das zur Glocke führt, zu ziehen. Ein neues Zeitalter
einzuläuten, sagst du, ist der richtige Zeitvertreib nach einer
langen Nacht der Wunder. Doch das Gebirge, das sich nähert, das in all
seinen Formen unnachgiebig danach trachtet, den Schlund zu verstopfen,
wird nicht verstehen, warum deine Hand sich zurückzieht, um im Sumpf
nach Machtmonopolen zu graben. Ein Schritt mag genügen, um über
schönere Exemplare sprechen zu können. Du müsstest nur einmal
da gewesen sein und zugesehen haben, wie das Schiff in schlüpfrigen
Reimen davon sang, gegebenenfalls entkommen zu wollen. Die Melodie
einzelner Takte verkommt auch hier zu einer reinen Schneelandschaft.

Meine Bitte war noch nicht zugestellt, als du die Dinge auf den Tisch
legtest. Für heute waren wir fertig und zeigten uns gegenseitig das
freudige Gefühl, das, gestaffelt, vor aller Augen einen glamourösen
Morgen band, der gar nicht so kalt war, wie wir es besprochen hatten.
Es stellte sich die Frage, was zu tun sei, wenn all das – diese
mikroskopischen Sinne und Fürsprachen – nicht mehr dort zu finden
wären, wo wir sie vermuteten. Gab es diesen latenten Kreis wirklich?
Oder waren wir alle nur Teufel, gefangen in einem nervösen Rinnsal,
das von aufgespannten Schuhen tropfte? Die Löcher waren bereits
groß genug, um nichts mehr damit anfangen zu können. Es waren
großartige Bilder, die hinter uns standen, aber ihre Sprache
war neunmalklug, also ließen wir das Ganze einfach sein.

Als lebten wir in der Spirale mörderischer Weihen, als tauchte
neues Leben in die blinden Statuetten, ausgefranst und mütterlich treu.
Es käme auf den Versuch an, hinwegzutauchen, das Gras in seiner vollen
Pracht auf den nächsten Sommer zu vertrösten, nur um zu erkennen,
dass wir keine Rösser sind. Der Sternentrunk am Mittag, in ausgespülten
Kelchen treibt eine neue Form der Reinheit ein Spiel mit unserer
Wohlgefälligkeit. Das Biest steht stramm, nichts welkt in einer leeren
Brust, erfindet stattdessen fremde Existenzen in rohen Augenblicken.
Die Klänge wandern den Flur entlang, hinter uns her schleifen
die Brocken abgehackter Stunden, denn sie wissen von unserem Schwur,
zu verweilen.

Was ich auf der Straße sehe, sind durchgehangene Tauben. Im Licht
eines unbekannten Spektrums leuchten sie, vom Knick ihrer Rollen
ausgehend, wie ein Diamant, der im rauschenden Wasserfall eines
Sauerbrunnens gefertigt, das Tarotbäumchen zur Demut zwingt. Ein
gelbes Fieber wandelt, durch unzählige Manöver geortet, über die
Schwierigkeiten einer losgelösten Schienenbahn, einst der stolze
Besitz immenser Beschleunigung. Das Entsetzen teilt Wege, aber an
oberster Stelle darf der Kronzeuge nicht fehlen, darf er kein Wort
von dem verlautet lassen, was wir hier wagen zu besprechen. Es
könnte sein, dass sonst die Stimmungen siegen und die feine Natur
der Atempausen chronisch abwinken. Wir können das nicht wollen.

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Der Böhmwind – Dritter Teil

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Der Böhmwind – Zweiter Teil

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Der Böhmwind – Erster Teil

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Die nackten Ufer des Strandes

An den nackten Ufern, festgestampfter Sand und nass, stehe ich und rufe dich: Komm!
Du willst ankern, aber nirgendwo ist das Land fest genug, nirgendwo ist die Zeit stabil, eine Lücke, wo wir stehen. Fische erhüpfen sich kristallene Insekten, die Wasseroberfläche kocht. Ein Huhn ohne Kopf, vom Hunger der Menschen gerichtet, flappt gegen die Sonne, eine Mücke im Licht. Der Wille ist ein letztes Aufbäumen, der Kopf auf dem Hackstock döst. Ein Huhn, ein Ikarus, ein Sonnenstrahl. Der Kopf liegt auf dem Hackstock und döst, aber sein Körper flattert nach Süden, fällt über einer Holzwippe zu Boden. Sie zieht ihre karierten Strümpfe über ihre weiße Haut, trägt nichts mehr außer ihrem Flaum, der sich im Wind, der das Huhn noch einige Meter durch die Lüfte wirft, aufrichtet. Angelruten stecken fest in der Erde. Komm! Mit dem Blut werden wir uns reinigen von der Reise, die hier endet. Ich halte die Axt, die uns stützen wird.

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Vom Verschwinden

Das Verschwinden um uns herum ist bizarr. Es beginnt mit Kleinigkeiten: ein Café wird aufgegeben, die Adresse eines Freundes stimmt nicht mehr, oder die Erinnerung verblasst und reiht sich ein in die Prozession toter Clowns, die von der anderen Seite winken. Sie tun das nur in einer Stadt mit Fluss, wo sich das Rechts vom Links trennt, oder das Nord vom Süd. Gemeinhin nennt man das Verschwinden auch Veränderung. Die Worte sind jedoch nicht dasselbe; die Veränderung kann ohne Verschwinden auskommen, auch wenn trotzdem ein bestimmter Teil nicht mehr vorhanden ist, das Verschwinden aber hat etwas Geisterhaftes in seiner veränderten Form und bedeutet einen völligen Verlust. Ich kenne das Verschwinden sehr gut, es widerfährt mir in so vielen Gesichtern.

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Die Strophen der Glocke

Das Dorf war voller Figuren, die sich aus dem Schatten wölbten.
Damals konnte ich sie nicht sehen, erst sehr viele Jahre später
fiel es mir wieder ein. Es fiel mir zum ersten Mal ein, als ich
eine gedankliche Reise unternahm, um zu sehen, ob sich
meine Erinnerung schon verändert hat. Es war also immer
etwas da draußen, der Sommer stets nur eine Erwartung.

Einst ein Läuten, gar nicht fern vom Standort
des großen Klangspektrums; ein Ritter könnte klirren, aber
er könnte nicht seinen Kopf abnehmen
wie der Hesse im schläfrigen Dorf, dem der Lehrer die Leviten las –
oder etwas anderes las, das die Strafe bedingt. Ein
Landstrich der Feen, menschenschlächterisches Nichtmenschengeschlecht,
blutsäuferische Bluttäufer, rotgestrickt und ohne Ort.

Wir haben unsere Sicheln abgeschliffen, ein warnendes Syndrom,
um die Glocke zu begleiten durch den Lehm.
Ein festsitzender Strunk wird uns die Ausrede sein,
verzögert anzulangen. Die Schattengesichter federn
ihre fragilen Züge durch eine Reihe unüberlegter Handlungen.

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