Morena

Morena erschien mir von unserer ersten Begegnung an als eine überirdische Schönheit, und es darf nicht verwundern, dass sie, die auf einen uralten Stammbaum zurückblicken konnte, im besten Alter für eine Frau, noch nicht geehelicht wurde. Merkwürdig waren die Geschichten, die man sich über ihre Schönheit erzählte, und erste ernstgemeinte Avancen kamen wohl aus Furcht nicht zustande, denn man wusste in den sie umgebenden Kreisen sehr wohl, dass man sich immer auch den Ahnen zu stellen hatte, die das Geschlecht einst groß gemacht. Wehe dem, der sich nicht als würdig erweisen sollte, der zögert, wenn es gilt, nach vorne zu stoßen, oder der, andersherum, voller Übermut eine ganze Bresche allein zu füllen versucht. Ich war weder von der einen noch von der anderen Sorte und wurde wohl von ihr angehört, weil ich weder stürmte und drängte, noch die übliche Furcht vor ihrer Aura zeigte. In ihrer Nähe wurde ich stets von einer Kraft erfasst, die mir ermöglichte, philosophische Höhen zu erklimmen und etwa über Jakob Böhme, der bei diesen Gesellschaften zu dieser Zeit gern diskutiert wurde, zu parlieren, als wäre ich je ein Studiosus gewesen und hätte die Aurora nicht nur gelesen, sondern verstanden. Morena bedachte mich dann mit Blicken, die mich aufforderten, nur weiter so kühn von der alchimistisch-poetischen Machart zu sprechen und gerade den Gedanken vom Widerspruch als ein notwendiges Moment weiter zu verfolgen. So sprach ich oft vor ihr und ahnte nicht, dass ich gerade das, wovor sich die meisten fürchteten, heraufbeschwor.

Auf dem aus der Wand gewölbten Spiegel stand die Rechtfertigung gegenüber meines Verdachts, den ich vielleicht erst etwas später hätte äußern sollen.

»Ich habe nie …« Dabei war dieser Gedanke nie ausgesprochen worden, meine hängende Mundpartie hätte sich gar nicht um die vorgesehenen Worte wölben können. Also schwieg ich.

Ich hatte sie im Raubvogelgehege stehen lassen, konnte mich nicht dazu entschließen, auf sie zuzugehen, beobachtete sie dabei, wie sie einen verbrannten Engel küsste. Aber das war es nicht, was mich veranlasste, ihr zuzusehen und mich dabei hinter einem gefiederten Baum zu verstecken. Meine Augen wären ihr dabei vielleicht nicht willkommen, und wenn nicht meine Augen, dann vielleicht ihr Blick.

Es waren ihre bandagierten Arme, die mich neugierig machten (den Engel erkannte ich, um die Wahrheit zu sagen, auch erst viel später), und nicht zuletzt ihr Atemgerät, das ihr aus dem Gesicht ragte wie eine Radarfalle. Da kannte ich sie noch nicht.

Später traf ich sie noch einmal, sie fiel mir durch ihr verräterisches Kleid auf. Ihre Maske hatte sie nicht mehr bei sich und auch ihre Arme waren ohne Wunden, die eine Verhüllung erforderlich gemacht hätten. Nur ihr Kleid und die Brandflecken darauf. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Teller mit in Öl zerlassenen, kleinen Fischen – Sprotten, um es genau zu sagen. Der Ausgang war nicht weit, aber man wurde stets durch ein Schnellrestaurant geschleust, bevor man nach draußen kam. Die Tür öffnete sich erst, wenn man etwas verzehrt hatte (oder wenn man etwas zu Verzehrendes gekauft hatte; ob man es dann liegen ließ oder in den Papierkorb warf – es war pures Kalkül, dass es nur einen Papierkorb gab, so wurde an das moralische Empfinden appelliert – blieb der eigenen Strategie überlassen).

Ich sprach sie natürlich nicht an, aber ich schlenderte hinüber zu ihrem Tisch und grapschte nach jener Brust, die auf meiner Seite lag. Hätte sie die Maske noch getragen, hätte ich es nicht gewagt.

Ihr Teller zerbarst auf dem kargen Boden und die Fische schlitterten über die Fließen, als hätten sie es eilig, wieder zurück ins Meer zu finden. Aber sie fanden es nicht, verteilten nur das Öl und blieben liegen, wo sie waren.

Ich kann nicht genau sagen, was dann geschah. Erst jetzt erinnere ich mich an die krümeligen Reste ihrer Wimpern, die sie im Waschbecken hinterließ, an eine gesalzene Seezunge im Kühlschrank. Ich schaue mir ihre Handschrift auf dem Spiegel noch einmal an: »Ich habe nie …«
Was wollte ich sie fragen?

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Yuggoth 36 – Fortbestand

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

Es hält sich in bestimmten alten Dingen die Spur
Eines schummrigen Wesen – mehr als Form oder Gewicht;
Ein dünner Äther, unbestimmt,
Und doch mit allen Gesetzen von Zeit und Raum verbunden.
Ein zartes, verschleiertes Zeichen des Fortbestands,
Den der Blick von außen nie ganz erkennen kann;
Von verschlossenen Dimensionen, in denen Jahre vergangen sind
Und erreichbar nur für jene, die verborgene Schlüssel tragen.

Es bewegt mich am meisten, wenn schräge Sonnenstrahlen
Auf den alten Farmgebäuden glühen, die sich gegen einen Hügel drängen,
Und des Lebens Konturen sich darauf abzeichnen, wie es
Vor Jahrhunderten war, ein noch schwächerer Traum als der uns bekannte.
In diesem seltsamen Licht habe ich das Gefühl, dass ich nicht weit
Von der Manifestation entfernt bin, deren Flanken das Alter selbst sind.

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Yuggoth 35 – Abendstern

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

Ich sah es von jenem verborgenen, stillen Ort aus,
Wo der alte Wald die Aue fast umschließt.
Es strahlte durch die ganze Pracht des Sonnenuntergangs –
Anfangs spärlich, aber mit einem langsam aufhellenden Gesicht.
Die Nacht kam, und dieses einsame, bernsteinfarbene Leuchtfeuer
Pulsierte bei meinem Anblick wie nie zuvor;
Der Abendstern aber war durch Stille und Einsamkeit
Noch tausendmal gespenstischer geworden.

Er zeichnete seltsame Bilder in die bebenden Luft –
Unvollständige Erinnerungen, die meine Augen schon immer vor sich sahen –
Riesige Türme und Gärten; seltsame Meere und Himmel
Eines düsteren Lebens – ich konnte nie sagen, woher.
Aber nun wusste ich, dass dieses Strahlen durch die kosmische Kuppel
Aus meiner fernen, verlorenen Heimat nach mir rief.

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Der Ruf des Anzugs

(c) Albera Anders
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Camus – Newton – Tesla

Ich bin in einer Welt gefangen, zu der ich nicht nur nicht gehöre, sondern seit meinem ersten Atemzug nicht gehörte. Und dennoch ist – wie Camus sagt – der Selbstmord zwar eine immerwährende Option, aber nie die richtige Wahl, um sich dem Absurden zu stellen. Das ließ sich für jemanden, der 1960 ermordet wurde, etwas leichter formulieren als jetzt (auch wenn Camus das nicht wusste). Nun, die Endzeit begann mit Newton (was tatsächlich zu erklären wäre) und erreichte ihren Höhepunkt mit dem Ausschalten Teslas (was ebenfalls zu erklären wäre). Nimmt man den Apfel, der zur Vertreibung aus dem Paradies führte, dann hat er seine zweite Schuldigkeit damit getan, dass er einem Universalgelehrten auf den Kopf fiel. Nun, er wusste freilich nicht, dass die Natur keine Gesetze hat. Was ein Alchimist nicht alles angerichtet hat. Aber freilich – auch ihn trifft keine Schuld.

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Langsame Vorbeifahrt

Alles rinnt mit der Zeit den kosmischen Bach hinunter. Das gilt ganz besonders für ein lumpiges Leben.

Eigentlich wäre die Dame fast ersoffen, wenn nicht ein Lastwagen sie herausgezogen hätte, als schon der Sumpf derart nach ihr gierte und demzufolge um sich griff, um sich das lebendige warme Fleisch zu greifen. Feuer und Hunde in weißem Taft, wenn man die Augen schließt, Plüschbalkone ringsherum.

Als ob sie den Gesang studierten, schrien die Pärchen, die sich dort sonnten, ihre formanten Töne ineinander, erschufen Klangquadrate und Sinuskurven voller Zauber.

An den Händen, die aus dem dickflüssigen Meer ragten, erkannten sie sich wieder. Die Hände, mit denen sie sich besprochen hatten unter dem Einfluss der deformierten Sekunden, die wie Seifenblasen laut schmolzen, Speichel zurück ließen, kenterten.

Die Sätze wachsen wasserlos, sind Waisen ohne Quelle; morgen sagt sie ein anderer, jetzt aber konzentriert sich der Insekteninstinkt auf die Beute. Schmerz des Hungers, Wahn der Lust.

Es ist nicht einerlei, was das Spinnentier sagt. Die Kleider klebten an ihr und durch ihre Poren drückten sich Moose, Schleimsand, Kraut, die Augen riesengroß, schwarz, rund: oxidierte Schädeldecke; ihre dünnen Stelzen bohrten sich in die Erde, mit halber Kraft voraus.

Der Lastwagen beschleunigte sauerstoffgegräßig, sie fasste die Anhängerkupplung; voller Schmiere das starke steife Stück. Zwischen ihren Fingern glibschte das Maschinenöl, spritzte ihr Reste ins Gesicht, der Auspuff föhnte ihr Haar zu einer ehernen Skulptur nach hinten.

Als sie dann auf der Straße lag, keuchte das dunkle, fordernde Loch mitten in ihrem Gesicht. Autos hupten in langsamer Vorbeifahrt. Sie gehörte niemandem, sie gehörte jetzt niemandem mehr.

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Das kosmische Konzept der Aufzeichnung

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