Etsy-Steinbruch

Das Kleid

Geschrieben und gesprochen von A. Anders

Ich verdünnte Familienengel und andere Haushaltsgegenstände,
trug das elegante alte Kleid aus Mousseline-Pfannkuchen,
Schleier, Baumwolle, und Spitze aus den 1910er Jahren
mit ein paar Flecken aus dem Mittelalter.

Wie sie sehen können, ist es sehr auffällig!

Das Kleid wird mit einem seitlichen Reißverschluss befestigt,
der Gürtel ist aus schwarzem Seidensamt
mit schönen warmen Blumen.

Hier habe ich das Kleid mit den Mägen zusammengenäht.
Es kann rückgängig gemacht werden: mit einer Prise
LIVE-Moosschlösser aus Neuengland.

Dieses Kleid wird Köpfe drehen!

Brouillon

Fress-Flanke

Früh zermürbte uns der Druck, der die Seele der Familie bereits fremd machte. Wir durften nicht einmal in unserem Zimmer in die Hose scheißen und die Kackwürste dann unter das Bett werfen. Darob hab ich mir erneut an der linken Fress-Flanke, die den Kopf meint, einen Zug bei nachtoffenem Fenster geholt. Leicht nur; diesmal wirbelts von der Schläfe herunter. Beete klavierte seine fünfte tags und nachts. Mein Mantel entleimt sich und muss eventuell gegen ein neues Exemplar weichen.

Brouillon

Zeitskala

Zerrissenheit ist ein etwas schäbiges Wort für gelebten Polyismus, aber gar nicht so sehr willentlich. Poesie ist eine Art völligen Denkens, gesättigt sozusagen an unendlich vielen Substanzen. Das Zukünftige, das ich zuerst schreibe, das Gegenwärtige, das ich danach schreibe und das Vergangene, das ich zum Schluss schreibe, kehrt die Zeitskala gar nicht so sehr um.

Poeme

Das Fräulein am Nichtstun

Mit angewinkelten Beinen sitzt das Fräulein in der Luft -
Eine Herkulesaufgabe des erstarrten Seins
Eine filigrane Figur / ein stehendes Massiv
Aber fein wie Uhren nicht im Innern
Wie sonst kein Laut der Gegenwart

So leise also wie kein Vergleich sich finden-beforschen lässt
Von der Halbzeit nur ein Viertel
Im Tran also tranig Zuhörerzuseher
Das Fräulein ganz wie eingefroren
Zeit löffelt ein Anderer der es nötiger hat

Im Suhlbecken zuvielt / so viel wie keiner mehr weiß
Ich nahm noch meinen Rückenstab
Da bauzt schon neuer Zorn heran
Spült von der Decke Obenartiges in all die runden Augen
Das Fräulein noch am Nichtstun

Sandsteinburg

Dort beim Hexenkraut

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Brouillon

Dass sich hinter meinem Rücken selbst viele Rätsel aufgestaut haben

Mir sind jene Geschichten lieb, in denen jemand nach seiner verlorenen Vergangenheit sucht. Herausgefunden habe ich diese Vorliebe für diese spezielle Form der Queste, als ich vor Jahrzehnten Tabucchis Indisches Nachstück las. Es war mir stets ein Ereignis, von einer melancholischen Vergesslichkeit zu träumen, die unmittelbar auf die Vergänglichkeit verweist.

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Bouquinist

Die Augen der Heather Grace / David Pirie

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Wir sind nie in den Genuss der bemerkenswerten Krimis gekommen, die David Pirie anfangs der 2000 für die BBC produzierte. Die zweiteilige Geschichte „Murder Rooms: The Dark Beginnings of Sherlock Holmes“ wird auf der Insel zu den besten Präsentationen gezählt, die das Fernsehen auf diesem Sektor je geschaffen hat. Allerdings muss man dazusagen, dass es zu dieser Zeit die Sherlock-Serie noch nicht gab, die erst 2010 ausgestrahlt wurde.

Insgesamt sollte es die Serie, die an die frühen Hammer-Filme und den amerikanischen Film Noir der 1940er Jahre erinnert, auf sechs Filme bringen. Dass sie trotz des Erfolges eingestellt wurde, ist nach wie vor eines der großen Rätsel, hat aber wohl mit BBC-Interna zu tun. Sie kam viele Jahre zu früh und würde heute ganz anders behandelt werden.

Die Informationen, die Pirie für die Filme als auch für die Bücher verwendet hat, und die eine der Grundlagen für die Entwicklung der Figuren Holmes und Watson (hier Bell und Doyle) bilden, basieren zum Teil auf den Briefen und Schriften des Dr. Joseph Bell, der Doyles Lehrer und Mentor war, als der junge Autor als Medizinstudent an der Universität Edinburgh eingeschrieben war.

Dr. Joseph Bell wird die Geburtsstunde der forensischen Wissenschaft zugeschrieben, da er bei seiner Arbeit wissenschaftliche Beobachtungstechniken einsetzte und diesen Aspekt erstmals in die Verbrechensbekämpfung einbrachte.

Es wird berichtet, dass Dr. Bell an einer Reihe von kriminalpolizeilichen Ermittlungen beteiligt war, indem er der Polizei durch seine Beobachtungen Informationen über das Opfer eines Verbrechens, den Tatort und den möglichen Täter lieferte.

Einigen Berichten zufolge war er sogar an den Ermittlungen bei der Jagd nach Jack the Ripper im Jahr 1888 in London beteiligt. Gerüchten zufolge untersuchte Dr. Joseph Bell die Tatorte der Ripper-Morde und nutzte seine Beobachtungen, um den Namen eines Verdächtigen herauszufinden, der in einem Umschlag versiegelt wurde. Allerdings wurde über diesen Verdächtigen nichts weiter bekannt.

Es ist zwar seit etwa 1890 allgemein bekannt, dass Dr. Bell das Vorbild für Sherlock Holmes war, wobei gesagt werden muss, dass Joseph Bell eben nicht Sherlock Holmes ist. Einen ganz erheblichen Einfluss hatte nämlich Edgar Poe mit seinem Auguste Dupin, ohne den Doyle die Feder vermutlich gar nicht in die Hand genommen hätte.

Für die drei Romane, die den jungen Arzt Conan Doyle als Erzähler auftreten lassen, kann man als Sherlock-Holmes-Fan nicht dankbar genug sein. Es steht zwar zu vermuten, dass jene Leser, die ihren Fokus nicht so sehr auf dem Viktorianischen oder Holmes haben, nicht ganz so begeistert reagieren – vor allem, weil sie die zahlreichen Hinweise gar nicht genießen können -, aber dennoch ist das hier ein außerordentlicher Beitrag zum Genre, der n einigen Stellen ganz bewusst auch an die damals sehr beliebten Penny Dreadfuls erinnert, die auf den viktorianischen Geschmack des Makabren ausgerichtet waren, denn bei aller Etikette waren die Leser des vereinten Königreichs zu dieser Zeit sehr an der Sensation interessiert.

Dass die drei Bücher etwas stiefmütterlich behandelt wurden, liegt wohl gerade daran, dass man der Vermischung von Film und Literatur allgemein skeptisch gegenüber steht und das natürlich auch zurecht. Wenn ein Buch verfilmt wird, kann man wie selbstverständlich davon ausgehen, dass der Film hier den Kürzeren zieht, wenn aber ein Buch erst nach der filmischen Umsetzung geschrieben wird, wittert man – in den meisten Fällen völlig zurecht – ein absolut minderwertiges Produkt. Mit Piries Die Augen der Heather Grace haben wir es allerdings nicht mit einem Buch zum Film zu tun, sondern mit einem brillanten Krimidebüt, das zwar Elemente übernimmt, die auch in der Serie vorkommen, aber sich dennoch völlig davon unterscheidet. Das ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass Pirie in erster Linie ein Autor ist, der sich intensiv mit der Schauerliteratur als auch mit dem frühen Horror-Kino auseinandergesetzt hat.

Als Drehbuchautor hat sich Pirie einen Ruf für seine originellen Noir-Thriller, Klassikeradaptionen und zeitgenössischen Gothic-Stoffe erworben. Er wurde für seine Verfilmung des Romans „Die Frau in Weiß“ von Wilkie Collins hoch gelobt.

Der junge Dr. Doyle, der nach einem tragischen Verlust versucht, einen Neuanfang zu machen, verstrickt sich in die Angelegenheiten einer Patientin mit ungewöhnlichen Augen, Miss Heather Grace. Die künftige Erbin, die den Angriff eines Verrückten überlebt hat, der ihre Eltern ermordet hat, wird nun von einer alptraumhaften Gestalt terrorisiert, die ihr auf dem Weg zu und von ihrem neuen Zuhause folgt. Die Handlung leiht sich Elemente aus mehreren Holmes-Geschichten („Das gefleckte Band“, „Der einsame Radfahrer“ und „Wisteria Lodge“), die angeblich nur „fiktionalisierte“ Versionen des realen Rätsels sind, mit dem sich Bell und Doyle auseinandersetzen. Dass sich Doyle in seine Patientin verliebt, verkompliziert seine und Bells Ermittlungen in mehreren Mordfällen. Zu den Verdächtigen gehören der furchteinflößende Onkel der jungen Frau, der eine große Sammlung giftiger Kreaturen unterhält, ihr ewig lächelnder Verlobter und ein skrupelloser Arzt. Pirie versteht es meisterhaft, Spannung zu erzeugen, und einige Passagen sind wirklich schauerlich. Doyle, eine schmerzhaft menschliche und sympathische Figur, deren Schwächen die Handlung vorantreiben, und Bell, ein sehr glaubwürdiger Holmes-Ersatz, sind ihrem subtilen und gerissenen Antagonisten ebenbürtig. Die beunruhigende Auflösung ist ein perfektes Ende für diesen schwer fesselnden und atmosphärisch dichten Thriller.

Bouquinist

Das Meer kam um Mitternacht / Steve Erickson

Obwohl wir die Zeit als linearen Fluss nach vorne erleben, in dem eine unerbittliche Sekunde nach der anderen von der Uhr läuft, kennt unser Gedächtnis keine derartigen Einschränkungen. Die Literatur von Steve Erickson auch nicht. Vielleicht dringen seine Bücher deshalb derart in die Psyche ein, als ob sie sich von unten nach oben graben würden, anstatt vom Leser aus der Vogelperspektive gesehen zu werden. Das Lesen selbst ist ein Akt, der der Erfahrung des Erinnerns sehr nahe kommt, und wenn man einen Roman von Erickson liest, wird die Unterscheidung zwischen beidem vernachlässigbar. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen und führen durch eine Art Prosa-Wurmlöcher zueinander. Charaktere gleiten vor dem Leser her, verfolgen ihn, werden gar zu ihm selbst. Identität ist eine Sache des Augenblicks, und in der Erinnerung können Geschehnisse kunstvoll neu arrangiert werden. Und selten wurden sie so kunstvoll arrangiert wie in Steve Ericksons Das Meer kam um Mitternacht. Ericksons Labyrinth einer Geschichte ist zugleich schwungvoll, bewegend, und extrem suggestiv. Die eleganten Schleifen und Spiralen fesseln den Leser durch Erinnerungen, die so klar sind, dass sie aus einen unbelebten Teils des Lebens des Lesers selbst zu kommen scheinen.

Wie im Leben, so wird auch dieser Roman weniger gelesen als miterlebt. Kristin, die zuerst aus einem kleinen Inselstädtchen im Sacramento River Delta geflohen ist, begegnet auf ihrer Flucht einem Kult, der nur noch eine weitere Frau braucht, um am 31. Dezember 1999 um Mitternacht mit ganzen 2000 Personen von einer Klippe in den Tod zu springen. Sie entkommt jedoch und löst damit eine Kettenbreaktion aus, die den Roman über vierzig Jahre hinweg in der Zeit hin- und herbewegen lässt. In der muschalartigen Architektur des Romans findet der Leser Kristin versklavt von einem von der Apokalypse besessenen, aber ansonsten anonym bleibenden Mann, der sich in einem Vorort in Südkalifornien aufhält, einem Traum-Kartographen, einem Porno-Filmemacher und einem Arbeiter in einem rotierenden Erinnerungshotel in Tokio … wer nicht weiß, was das ist, wird Überraschendes hierüber und auch über Traumkapseln in Erfahrung bringen.

Erickson zieht den Leser gekonnt mit einer trotz der Komplexität des Themas verständlichen, transparenter Prosa in das Geschehen hinein, indem er mühelos Figuren erschafft, die lebendig sind: Kristin, Der Bewohner, Lulu Blue, Carl der Kartograph, um nur einige zu nennen – multiplizieren sich, verwischen die Grenzen, verschmelzen und dämmern aus einer rekursiven Chronologie herauf. Kristins Geschichte entfaltet sich Seite für Seite, überlagert und verzahnt sich mit anderen Figuren und anderen Geschichten. Ericksons mehrschichtige Herangehensweise an die Charakterbildung stellt sicher, dass der Leser eindrückliche Offenbarungen erlebt, während sich die komplexen Beziehungen langsam entfalten, um in einem Moment klar aufzuleuchten. Hat man den Roman beendet, bleiben diese Figuren mit ihren Details genauso in der Erinnerung haften wie jene Menschen, die man einst kannte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Ericksons komplexe Handlung selbst eine Figur in diesem Roman ist. Er verbindet die intensiven und persönlichen Momente mit gewaltigen Bewegungen, die aus einer Leinwand aus Raum und Zeit besteht.

Von Paris bis Japan, von den 1960er Jahren bis ins Kalifornien nach der Jahrtausendwende springt die Handlung großartig und mühelos von einem Höhepunkt zum anderen. Die wahre Freude an diesem Roman besteht dann auch darin, jedem einzelnen dieser Gipfel zu folgen, um herauszufinden, wo und wann Erickson seinen Fokus verlagern wird. Erickson operiert mit seinen Bruchstücken und Sprüngen auf der unangreifbaren Basis der Intuition, wodurch der Roman zwar einen improvisatorischen Charakter bekommt, aber eben von jener Art, die das Ergebnis zu einer perfekten Kunstform machen.

Bei aller Intensität und Improvisation, seiner Handlung und seiner eigenwilligen Chronologie ist Ericksons eigentliche Prosa trotzdem leichtfüßig und angenehm zu lesen. Er zeigt einen schön zurückhaltenden Sinn für Humor und eine Liebe zur Sprache, die sich in denkwürdigen Witzen und Phrasen äußert. Wenn der Leser sich dem Chaos hingibt und auf der Welle der Worte reitet, dann ist „Das Meer kam um Mitternacht“, das bei uns schon seit 2002 vorliegt, ein wilder und eindrucksvoller Ritt, ein Rausch von der ersten Seite an. Das Buch verdient es, in einem einzigen Zug gelesen zu werden.

Hundertprosa

Die Falter des Zwielichts

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Lumiere

Der wohltemperierte Gong

Zeit sei kein Ort, hörte ich es sagen; wohl wusste der Sprecher nicht, dass Zeit von Raum nicht zu trennen ist, und dass selbst Raumklang eine Verortung in der Seele erfährt. Seit heute ist ein weiterer Schritt im Projekt „Zurück in das Wahre und Gute“ getätigt (denn alles Gegenwärtige und Künftige ist mehr oder weniger eine Kloake).

Eine Kaminuhr des Uhrenherstellers Mauthe aus dem Schwarzwald, manifestiert in den 50er Jahren, gesellt sich nun zum Wesentlichen und bildet besagten Raumklang durch sein konstantes Schwingen und sein halb- und stündliches Schlagwerk.

Poeme

Vom Nichts; vom Henker

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Journal

Realität im Extremzustand

Meine Definition von Phantastik, mit der ich hantiere ist folgende: Phantastik ist Realität im Extremzustand. Glücklich bin ich mit dem Begriff der „Phantastik“ – so paradox es klingen mag, ein rein deutsches Unwort, das sich aber gut anhört, nicht. Das liegt nicht am Wort selbst, sondern an der – für mich – blödsinnigen Konstruktion, das Wort auf die drei Säulen „Horror“, „Science Fiction“ und „Fantasy“ zu stellen. Würden wir die Phantastik als ein Synonym der Spekulativen Literatur ausgeben, hätte ich allerdings gar keine Einwände. Denn dann würden wir die „drei Säulen“ um den „Magischen Realismus“, die „Alternative Geschichtsschreibung“ und die „wissenschaftliche Fantasy“ erweitern können. Weitere völlig unklare Begriffe, versteht sich. Aber „Horror“ und „Science Fiction“ gehören für mich nur bedingt zu unserer Vorstellung von Phantastik.

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